Langsame Gitarrenmusik, behutsame Schnitte, ein Establishing Shot auf das kleine Sägewerk im Holzhaus. Ein liebevoller Blick auf alle Details, die so ursprünglich wirken, als wären sie aus dem neunzehnten Jahrhundert unbeschadet ins einundzwanzigste rübergebeamt worden. Endlich sehen wir Jesse Horn, einen Bär von einem Mann, mit gepflegtem Vollbart und schickem Jeanshemd. Und Jesse Horn hat eine Mission. Er möchte dem Feuerholz den Respekt zurückgeben, den es verdient und es von seinem schmuddeligen Tankstellenimage befreien. «I wanna bring craftmanship back to firewood production.» Jedes Stück Feuerholz ist einzigartig und hat seine ganz eigene Persönlichkeit. «It tells a story, which we definitely wanna respect.» Sorgfältig behandelt Jesse jedes Stück Feuerholz mit Seifenwasser, Tinkturen, reibt es mit Ingwer ein, rubbelt es mit einer Zahnbürste, sucht mit einer Lupe nach letzten Schönheitsfehlern und entfernt mit einer Nagelschere abstehende Splitter. «I consider myself a storyteller. But my words are wood.» Bei so viel Liebe zahlt man gerne 1200 Dollar für ein authentisches Stück Feuerholz.

Ortswechsel. Die Wassermanufaktur von Bill und Terry Timmy in Brooklyn. Sie mixen Wasser aus allen grossen Flüssen und Seen der USA und erzählen so Geschichten. «Its like opening up a Mark-Twain-Story. You know, just without the racist parts.» Wenn man dieses Wasser trinkt, lernt man viel über Völkerwanderungen, kulturelle Migration. Es ist wie eine Lehrstunde in Geografie, Geschichte und Philosophie zugleich. Es ist wie Jazz hören. Durst ist eine universelle Sprache.

Und weil man so eine Reise unternimmt, indem man einfach nur trinkt, muss man nicht mal mehr ins Mississippidelta oder zum Lake Pontchartrain fliegen, womit man auch der Umwelt einen Gefallen tut. Weil die Timmy-Brüder nicht nur umwelt-, sondern vor allen traditionsbewusst sind, wird das Wasser auf Eseln von den Quellen bis nach New York transportiert. So ist der CO2-Fussabdruck beim Kauf einer Flasche Timmy-Brothers-Water quasi nicht existent. Dann ist auch der Preis von elf Dollar für einen Liter mehr als gerechtfertigt, «denn du bezahlst nicht für einen Liter Wasser, sondern für einen Liter Abenteuer.» Anders ausgedrückt: «Water is freedom. And freedom should flow. Like water.» Jesse Horn und die Timmy-Brüder gehören zu einer stetig wachsenden Bewegung junger gut ausgebildeter Menschen, die ihre Liebe zum traditionellen authentischen Handwerk entdeckt haben. In dieser Reihe darf natürlich auch David Rees nicht fehlen, der ein Buch über das richtige Bleistifteanspitzen geschrieben hat und mit einem Freund einen Rotwein mit Bleistiftnote vertreibt.

«We love the spirit of craft. Things that are handcrafted. From our own hands handcrafted water to an tiny old mustage, a handcrafted cocktail, a beautiful building. Even our glasses were handblown. The old methods are suddenly new», wie Terry Timmy sagt.

Doch authentisch sind sie selber nicht. Sie sind fiktive Charaktere aus Sketchen des Kanadischen Senders CBC Radio. Eine Art Authentizitätscomedy. Man könnte sie in ihrer Fiktivität auch authentische Kühe nennen. Doch dazu später mehr.

Deutschlands grösster Filmstar betreibt seit 2014 einen Onlinehandel für Kleidung, Accessoires und Möbel. Til Schweiger möchte auf Barefoot Living seine Lieblingstücke, seinen Stil, den er als eine Mischung aus East Coast, Skandinavien und Mallorca beschreibt, an die Menschen heran tragen.

Er betont, dass er handgefertigte Produkte liebt, und seine erlesenen Werke nur aus natürlichen Mate-
rialien und schlichtem Design bestehen. Zu dem «Kaschmir Pullover Patent Round-Neck – Graw Women» für 349 Euro heisst es in der Produktbeschreibung: «Kaschmir hält schön warm. Für die kalten Tage habe ich deshalb diesen Rundhalspullover entworfen.» Und weiter im allgemeinen Kaschmirteil: «Alle unsere Kaschmirprodukte habe ich selbst entworfen. Und genauso wie ich den Schnitt am liebsten mag: lässig und casual. Weil mir die Faserqualität sehr wichtig ist, haben mein Team und ich lange gesucht, bis wir die Kaschmirwolle gefunden haben, die zu uns passt. Deshalb kommt unser Kaschmir direkt aus den mongolischen Hochebenen. Dort kommt die Kaschmirwolle auf das Qualitätslevel, welches ich mir für unsere Kunden wünsche. Natürlich haben wir uns auch angesehen, wo und wie der Kaschmir weiterverarbeitet wird. In einer kleinen Manufaktur in Katmandu, Nepal, entstehen unsere Strickteile, die exklusiv nur bei Barefoot Living zu haben sind.»Til Schweiger sucht also selber in der Mongolei nach der perfekten Wolle, und spürt eine ihm sympathische Manufaktur in Nepal auf, wo die von ihm designten Rundhalspullover handgefertigt werden. Er könnte auch frei nach Jesse Horn und Terry Timmy sagen: «I wanna bring craftmanship back to the production of Kaschmirrundhalspullovers.»Über den Tisch «Iron Vintage» (3300 Euro) heisst es: «Der Tisch ist genial für die Küche!»1 Der Tisch wird aufwendig «auf Anfrage einzeln angefertigt», und zwar von Set-Designerin Isabel von Forster, die ihn für Schweigers Demenzdramödie «Honig im Kopf» entworfen hat. Die Verschmelzung von Werk und Leben! Authentischer kann ein Künstler doch nicht sein.

In der Rubrik «Über uns – The Beginning» steht neben einem Foto von Schweiger, wie er vor einer rustikalen Scheune eine Ziege krault, der schöne Satz: «Mit Barefoot Living geht es um ein Lebensgefühl – Um Leben, Lachen, Wohlfühlen und Relaxen». Entspannen, Relaxen und besonders Wohlfühlen sind die Leitmotive in Til Schweigers Barefoot Living Welt.2 Sich einfach mal wohlfühlen und in Tils Kashmirpullovern die Seele baumeln lassen. Eine Wohlfühlwelt.3

Auch der Name ist programmatisch und beruht, ebenso wie Schweigers Produktionsfirma, auf seiner zweiten Regiearbeit «Barfuss» (2005)4, an dessen Drehbuch er auch mitgeschrieben hat. Darin spielt Schweiger einen beziehungsunfähigen Hallodri, das schwarze Schaf einer Millionärsfamilie, der keine Autoritäten akzeptiert. Johanna Wokalek spielt eine junge traumatisierte Frau, die ihr ganzes Leben allein mit ihrer Mutter zu Hause verbracht hat, und nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie gelandet ist, wo Schweiger einen Putzjob hat. Natürlich werden sie ein Paar. «Barfuss» heisst der Film, weil Johanna Wokalek nie Schuhe trägt, denn die würden ihre Füsse einsperren, so wie ihre Mutter sie eingesperrt hatte. Barfuss gehen bedeutet Freiheit, Unabhängigkeit, Unangepasstheit und also auch Authentizität. Man ist einfach man selbst. Ohne von der Gesellschaft aufgezwungenes Schuhwerk.5 Wenn man sich barfuss in einen von Til Schweiger entworfenen Kaschmirpullovern kuscheln und garantiert schimmelfreies Brot aus dem «Brottopf Zirbenholz» (199 Euro) naschen kann, muss das Glück perfekt sein.

Til Schweiger ist auch nur eine ganz grosse authentische Kuh. Zumindest höchstwahrscheinlich in den Augen von René Pollesch, dem Grossmeister des soziologischen Diskursboulevardtheaters, in dem es keine klassischen Dialoge sondern nur sich im Wettstreit befindliche Monologe gibt, die pointensicher soziologische und philosophische Theorien verhandeln.

«Authentizität ist immer auf Identifizierung aus, aber nicht auf konkrete Inhalte. Das Problem wird als eines identifiziert, das man ganz einfach weg kriegen kann.» Eine authentische Kuh ist laut Pollesch eine Person, die die Gefühle des Gegenübers manipulieren, sie rühren und zur Identifikation anstiften will. Das klassische psychologische Theater und Hollywood sind voll von authentischen Kühen. Wenn man sich Til Schweigers Regiearbeiten ansieht, kann man Punkt für Punkt Polleschs Kriterien für authentische Kühe ab-haken. Identifikation und Rührung stehen immer an erster Stelle. Auch die Tatsache, dass Probleme als solche erkannt, aber inhaltlich nicht in ihren Konsequenzen konkretisiert werden, ist eklatant. In Schweigers Filmen werden gesellschaftlich relevante Probleme angeschnitten, aber nicht verhandelt, sondern durch einen Sepiaweichzeichner vom Zuschauer weggeschmunzelt: posttraumatische Belastungstörungen, Suizidversuch (Barfuss, 2005), Grausamkeiten unter Kindern (Keinohrhasen, 2007), Beziehungsprobleme (Zweiohrküken, 2009), Patchworkfamilien, Fremdgehen (Kokowäh 1 +2, 2011, 2013) Altersdemenz (Honig im Kopf, 2014) etc.

Man muss Til Schweiger zu Gute halten, dass er sich selbst in ein ziemlich kongruentes Gesamtkunstwerk verwandelt hat. Seine draufgängerischen, Alkohol, Frauen und Pullover liebenden Alter Egos in seinen Filmen ähneln auffallend den Schweiger-Geschichten der Yellow Press sowie seinem Talkshow- und Facebookverhalten. Eine Zusammenarbeit mit René Pollesch wäre wohl das Spannendste, was die deutsche Kultur derzeit zu bieten hätte.

Paul Riemann ist geboren in Berlin und hat Kultursachen in Utrecht, NL, und Hildesheim studiert. Er lebt als Autor, Undergroundschauspieler und bildender Künstler in Berlin.
1
Til Schweigers von Facebook bekannter Liebe zu Ausrufezeichen bleibt er auch bei Barefoot Living treu.

2
Irgendwie fühlt man sich bei diesem Claim an Jan Böhmermanns von Schimpansen verfasste Poppoetenparodie «Menschen Tanzen Leben Welt» erinnert. Böhmermann hat mit dem Musikvideo und der unplugged Version, eingebettet in eine investigative Recherche über die deutsche Musikindustrie, gekonnt die inszenierte Authentizität von Singersongwritern vorgeführt.

3
David Foster Wallace beschreibt in seiner Essayreoprtage «Schrecklich Amüsant – Aber in Zukunft ohne mich» (1997) über eine Luxuskreuzfahrt das pe- netrante Diktat zum Entspannen, Wohlfühlen und Nichtstun. Auf das Versprechen des Werbekatalogs auf der Kreuzfahrt etwas tun zu können, was er sich schon lange nicht mehr getan habe, nämlich gar nichts, erwidert er, er könne sich sogar sehr gut an das letzte Mal erinnern: «Es war zu einer Zeit, da schwamm ich ebenfalls irgendwo herum, und das Wasser war salzig und warm, aber eben nicht zu warm, sondern genau richtig. Und wenn ich von dieser Zeit überhaupt noch etwas weiss, dann dies: Ich kannte keine Furcht und war wunschlos glücklich und hätte vermutlich allen eine Postkarte geschickt des Inhalts «Schade, dass ihr nicht auch hier sein könnt...»

4
[sic]: Es muss natürlich Barfuß heissen. Nach alter und neuer Rechtschreibung. Auf dem Filmplakat und allen Veröffentlichungen steht aber ss statt ß. Vielleicht wollte Schweiger so seinen vor sich hergetragenen Antiintellektualismus bekräftigen.

5
Auch schon vor Til Schweigers «Barfuss», zu dem es 2014 auch ein Hollywoodremake («Barefoot», dt.: «Barfuss ins Glück») gab, war das Barfussmotiv schon ein fester Bestandteil der Popkultur als Symbol für Freiheit und bedingungslose Authentizität. Von Michael Holms «Barfuss im Regen» (1970): «Barfuss im Regen / Glücklich wie noch nie / Und wir tanzen und tanzen und tanzen / Wir vergessen die Welt vor Liebe /  Bei Sonnenschein und Regen» über Harald Juhnkes «Barfuss oder Lackschuh» (1990): «Barfuss oder Lackschuh / Leg ich mir nen Frack zu / Oder komm ich vor Gericht / So geht es bei mir zu / Nie die goldene Mitte /  Immer volles Risiko» bis hin zu AnnenMayKantereits «Barfuss am Klavier» (2014): «Und ich sitze schon wieder barfuss am Klavier / Ich träume Liebeslieder / Und sing dabei von dir». Auch ein Komödienklassiker trägt seit Jahrzehnten barfuss: Neil Simons «Barefoot in the Park» (1963), 1967 mit Jane Fonda und Robert Redfort verfilmt. Es geht um das Auf und Ab in der Ehe des spiessigen Anwalts Paul und seiner überdrehten Frau Corie, die gerne barfuss durch den Park läuft. Bei einem Streit nennt sie ihn einen Spiesser, der sich ja nicht mal trauen würde, wie sie barfuss durch den Park zu laufen. Daraufhin betrinkt er sich und tut eben dies, geht alleine und barfuss durch den Park.

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