Stell dir einmal vor, es gäbe kein Internet mehr. Es ist einfach weg, von einem Tag auf den anderen. Und keine O2, Telekom- oder was-es-sonst-noch-alles-geben-mag-Hotline kann dir und den anderen helfen. Wären wir nicht total aufgeschmissen? Wäre unsere digital geprägte Zivilisation überhaupt noch überlebensfähig?

Die Anarchoanimationsserie South Park hat sich schon 2008 der Episode «Over Logging» (dt. «Keine Verbindung») in einem wahrhaften Horrorszenario der Digitalen Amnesie gewidmet. In South Park fällt das Internet aus und Familie Marsh, die hier im Mittelpunkt steht, dreht völlig am Rad. Vor allem Teenietochter Shelley und Vater Stan sind verzweifelt, weil sie mit ihrem Internetfreund chatten muss und er sich an die perversesten Internetpornos zum Einschlafen gewöhnt hat. Eine Massenpanik bricht aus, und alle Einwohner sind auf der Suche nach dem Internet und wollen im Internet nachsehen, ob es woanders noch Internet gibt. «Es gibt kein Internet, um heraus zu finden, warum es kein Internet gibt.» «Wie sind wir denn vor dem Internet an Nachrichten ran gekommen?» «Na klar, mit Fernsehern!» Blöd: Im Fernsehen gibt es keine Nachrichten, weil die Redakteure kein Internet haben, um sich zu informieren.

In Anlehnung an John Steinbecks «The Grapes of Wrath» macht sich Familie Marsh in ihrem völlig überladenen Auto auf den Weg gen Westen, denn im Silicon Valley soll es noch so viel Internet geben wie das Auge reicht. «Gerüchte besagen, man kann sich förmlich darin wälzen.»

Weil das Internet nicht nur in South Park sondern im ganzen Land verschwunden ist, sind die Marshs nicht die einzigen, die ihr Glück im Westen suchen. So müssen sie sich in der Wüste in einem Internet Refugee Camp häuslich einrichten, wo jeder Familie vierzig Sekunden Internet pro Tag zugestanden werden. Vater Stan, der gewaltig unter seiner unbefriedigten Pornosucht leidet, bittet einen Soldaten, ihn ein paar Minuten mit dem Computer allein zu lassen, denn er hat sich «daran gewöhnt, auf Knopfdruck alles sehen zu können. Sobald man zu japanischen Mädchen wixt, die sich in die Münder kotzen, kann man nicht wieder zum Playboy zurück.» Wenn man nicht mehr in der Lage ist, sich ohne Internet selbst zu befriedigen, ist das wohl auch eine Art von Digitaler Amnesie. Nach einigen absurden Verwicklungen voller Filmanspielungen, lässt sich das Internet dazu herab, den Menschen wieder zu dienen.
Zum Schluss hält Stan eine feurige Rede über den verantwortungsvollen und respektvollen Umgang mit dem Internet, wobei er die Rhetorik der Umweltschützer verwendet. Zuallererst ist diese leidenschaftliche Gleichsetzung des Internets mit der Natur eine alberne Parodie auf Steven Seagal in «On deadly Ground» (1994).
Aber in diesem vermeintlichen Kalauer steckt ein wahrer und tragischer Kern, wie bei jedem guten Witz. Heute leben wir als Individuen und Gesellschaften so viel mehr in digitalen als in natürlichen Welten, dass der Ruf nach flächendeckendem Breitbandinternet, kostenlosen WLan-Hotspots und neuen Apps lauter erscheint als der zur Rettung der Weltmeere und zur Senkung des Weltklimas. Auf jeden Fall ist es im Sinne der kapitalistischen Weltordnung, dass die Rufe nach Internet schneller und effizienter bedient werden als die zur Rettung des Planeten. Und wenn man bedenkt, dass die Voraussetzung für die Hardware zur Nutzung des Internets, die seltenen Erden, in Ländern wie dem Kongo und China in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen und mit beträchtlichen Schäden für die Natur geborgen werden, ist die Analogie Internet-Natur gar nicht dumm, sondern eher weitsichtig.

Das Zeitgeistphänomen, dass heute zahllose Menschen ihre intimsten Informationen und Photos ihrem Smarthone, Tablet oder Facebookaccount anvertrauen und viele dabei so achtlos sind, eben diese sensiblen Daten nicht in einer Cloud oder einer externen Festplatte zu sichern, geschweige denn Telefonnummern mit einem Stift auf ein Papier zu schreiben, ist so neu nicht.

Aus dem Jahre 1990, eine gefühlte Ewigkeit ist es her, im Zeitalter der Münztelefone, als die ersten Handys so groß waren wie Oberschenkelknochen und die meisten das Internet höchstens vom Hörensagen kannten, stammt die Verwechslungskomödie «Filofax – Ich bin du und du bist nichts» (Original: Taking care of Business) von Arthur Hiller. Der liebenswerte Werbemanager Spencer (Charles Grodin) unterwirft sein Leben und seine Ehe der Karriere und ist so zwanghaft auf seine Agenda der Marke Filofax fixiert, in der alle seine Termine, Telefonnummern, Adressen und sogar Kreditkarten und Schlüssel enthalten sind, wie viele von uns heute auf das Smartphone. In seiner ersten Szene checkt er beim Nassrasieren seine Termine in besagtem Filofax bis seine Frau im Bademantel hereinkommt, ihn ablenkt und ihre Reize gegen die des Filofaxes obsiegen. Als sie sich wild knutschend auf dem Badezimmerboden wälzen, sieht Spencer noch aus den Augenwinkeln, wie das Wasser aus dem Waschbecken überläuft und das Filofax, die externe Festplatte seines Gehirns, zu durchtränken droht. «Oh mein Gott!» ruft er, seine Frau stimmt mit «ja, ja, ja!» ein – und ist sichtlich enttäuscht, als sie merkt, dass sein Ausruf nicht der Erregung sondern der blanken Angst entsprang. Er muss ihr versprechen, sein Filofax nicht mit auf den Wochenendausflug zu nehmen.
Der Knackie Jimmy (James Belushi), der wegen Autodiebstahls im Gefängnis sitzt, hat auf seinem überdimensionalen Zellenkalender nur Baseballspiele und seinen Entlassungstermin in zwei Tagen notiert. Später gewinnt er bei einem Radiobaseballquiz zwei Karten für das Endspiel seiner Lieblingsmannschaft. Da der fiese Gefängnisdirektor sich nicht erweichen lässt, ihn einen Tag vorher zu entlassen, fingieren seine Kumpels eine Revolte, während der Jimmy entkommen kann. Auf dem Flughafen von L.A. findet er Spencers Filofax, das der beim Münztelefon liegen gelassen hat. Nach und nach nimmt er Spencers Identität an, zieht in die Villa seines Chefs ein, trägt seine Anzüge, nimmt seine Geschäftstermine wahr und schläft mit der Tochter seines Chefs. Spencer wird von einer Straßengang in einen Müllcontainer geworfen, verhaftet und via Videokonferenz gefeuert, nachdem seine Frau ins Hotel geflüchtet ist, weil er den Wochenendtrip wieder abgesagt hat. Schließlich landen Jimmy und Spencer zusammen beim Endspiel, wo Jimmy einen Ball fängt und von der Polizei auf der Stadionleinwand erkannt wird. Nun schlägt Spencers Selbsterkenntnis ein, dass er sein Leben der Werbeagentur gewidmet hat und gar nicht weiß, wer er ist, wenn er nicht arbeitet. Er lässt den Inhalt seines Filofax von einem Hochhausdach segeln. Mit Hilfe des Filofax-Ledereinbandes schwingen sich die beiden an einem Drahtseil in die Freiheit. Wie könnte eine solche Aktion in heutigen digitalen Zeiten aussehen? Jemanden mit einem Smartphone ausknocken oder mit einem Tablet eine Skipiste hinabsausen? Alles nicht so charmant und symbolträchtig wie diese Aktion, denn die analogen Blätter sind unwiederbringlich verloren. Da hilft auch kein PC Doktor. So viel zur analogen Amnesie.

In Michel Gondrys «Eternal Sunshine of the spotless Mind» wiederum, auf deutsch schlicht, aber treffend «Vergiss mein nicht!», geht es um selbstgewählte Amnesie. Der introvertierte Joel (Jim Carrey) und die impulsive Clementine (Kate Winslet) werden unverhofft ein Paar. Doch irgendwann beginnt das Feuer der gegensätzlichen Liebe zu erlöschen und Clementine beschließt spontan ein Angebot der Firma Lacuna Inc. wahrzunehmen, bei dem alle Erinnerungen an eine gewünschte Person gelöscht werden können. Nachdem Joel verzweifelt ist, weil Clementine ihn wie einen Fremden behandelt, erhält er von einem gemeinsamen Freund Informationen über Lacuna und den Hinweis, dass Clementine ihn wahrscheinlich hat löschen lassen.
So beschließt er, auch sie aus seinem Gedächtnis zu radieren. Zuerst muss er alle Gegenstände, die ihn an sie erinnern, in die Praxis bringen. Auf einer neuronalen Karte werden die Dinge und die damit assoziierten Erinnerungen identifiziert. Der Löschvorgang ist aufwendig und langwierig und findet in der Nacht in Joels Wohnung statt, wo dieser verkabelt und im Tiefschlaf im Bett liegt – wo er seinen Entschluss bereut und versucht, mit Clementine vor den vernichtenden digitalen Einschlägen in seinem Gehirn, die nur das pure Nichts zurück lassen, zu fliehen. Erfrischend an der Geschichte ist, dass keine (a)sozialen Medien und Netzwerke vorkommen und sich die beiden tatsächlich auf einer Strandparty kennen lernen. Doch um Digitale Amnesie handelt es sich auch hier, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen und selbst gewählt, so doch mit digital-neurologischen High-End-Geräten verursacht.

Diese Filme sind schon heute viel mehr Science als Fiction. Michio Kaku, US-amerikanischer Starphysiker, beschreibt in seinem Buch «Die Physik der Zukunft. Unser Leben in 100 Jahren», eindrücklich, dass es in Zukunft noch viel schwieriger wird, dem Internet zu entkommen. Beim sogenannten Cloud Computing sind Möbel, Wände und Alltagsgegenstände mit Internetzugang ausgestattet. Als Nachfolger der gefloppten, weil zu auffälligen, Google Glasses werden Kontaktlinsen gehandelt. In diesen Linsen projiziert ein Mikrolaser im Durchmesser von hundert Atomen ein superscharfes Bild direkt auf die Retina. Alle Filme, Songs und Webseiten sind auf den Linsen abrufbar und werden etwa einen halben Meter vor dem Gesichtsfeld auf eine für andere Menschen nicht sichtbare Leinwand projiziert. Automatisierte Gesichtserkennung ist eine alltägliche Selbstverständlichkeit und  erweiterte und virtuelle Realitäten sind ganz einfach ohne schwere Ausrüstung mit Kabeln und Helmen wie heutzutage zu haben. Von den Kontaktlinsen ist der Schritt zu implantierten Internet-Chips nicht mehr weit. Besonders wenn man bedenkt, dass es heute schon Menschen gibt, die Chips in sich tragen, die stets alle Körperfunktionen messen und Nachrichten mit entsprechenden Anweisungen an die Heizung und den Kühlschrank im Smart Home senden.
Wenn man sich aber selbst zum Cyborg umbaut oder zwangsweise umgebaut wird, ist keine Digital Diet geschweige denn Digitale Amnesie mehr möglich. Falls das körpereigene Internet aber doch einmal ausfiele, wäre der Mensch dann noch lebensfähig? Wird er ohne Navigationssystem noch nach Hause finden? Wird er noch in der Lage sein, von Hand zu schreiben, statt mit dem Finger in der Luft auf der imaginären Tastatur? Wird er seine Freunde und Familie ohne die Hilfe der Gesichtserkennungsapp noch erkennen? Würde er hilflos vor sich hin vegetieren und schließlich verhungern, weil er sich kein Essen bestellen kann? Oder würde er vielleicht zurück zur Natur und sich selbst finden? Wäre eine globale Digitale Amnesie eine Frischzellenkur für die Menschheit? Ein Resetknopf für die Evolution? Es wird sich zeigen. Wir leben in spannenden Zeiten.

Paul Riemann ist geboren in Berlin und hat Kultursachen in Utrecht, NL, und Hildesheim studiert. Er lebt als Autor, Undergroundschauspieler und bildender Künstler in Berlin.

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