«Echtzeit». So bezeichnet man die verzögerungsfreie Übertragung von Informationen über grössere Distanzen und die damit einhergehende Möglichkeit, entfernte Akteure miteinander in Verbindung zu bringen, als wären sie am selben physischen Ort. Streng genommen ist das eine unerreichbare
Utopie. Sowohl die Codierung auf der einen als auch die Dekodierung auf der anderen Seite – die Übertragung dazwischen sowieso – führen immer zu Verzögerungen. Schneller als Lichtgeschwindigkeit kann es nicht gehen. Für einige Akteure, etwa im Hochgeschwindigkeitshandel an den Börsen,
ist diese technische Einschränkung äusserst relevant. Grosse Summen werden investiert, um Verzögerungen weiter zu senken. So wurde im Herbst 2015 ein neues 4600 Kilometer langes, 300 Millionen Dollar teures Unterseekabel zwischen London und New York (Hibernia Express) angeschlossen, dessen einziger Zweck es ist, dank einer etwas direkteren Route den Datenverkehr zwischen London und New York um knapp fünf Millisekunden zu beschleunigen.

Für die meisten Alltagssituationen sind solche kleinsten Verzögerungen jedoch nicht relevant. Da sie den Effekt der Echtzeit nicht schmälern, werden sogar viel grössere toleriert. Das kann man bei Übertragungen von populären Fussballspielen erleben. Fällt ein Tor, dann hört man diejenigen, die das Spiel über die Antenne empfangen, einen Moment früher jubeln als diejenigen, die sich das Spiel am Kabel­fernsehen anschauen. Dem Gefühl via Live TV dabei zu sein, tut dies aber kein Abbruch. Dank neuer Technologien können immer mehr Dimensionen des Alltags, die über den Globus verteilt ablaufen, als Echt­zeitereignisse strukturiert werden. Aber technische Potentialität alleine bewirkt noch nichts, es muss auch ein Bedürfnis nach Echtzeit auf der Angebots- und der Nachfrageseite bestehen. Fangen wir auf der Nachfrageseite an.
Warum haben so viele Menschen Newsticker auf ihren Smartphones, lassen sich durch andauernde Meldungen über Statusupdates unterbrechen, und versuchen nicht nur ihre Postpakete, sondern zunehmend auch andere Dinge, auch Menschen und Tiere zu «tracken»? Zunächst, könnte man sagen, weil es praktisch und nützlich ist. Es ist sehr praktisch zu erfahren, dass sich auf der Autobahn gerade ein Stau bildet, bevor man darin steckt. Es kann lebensrettend sein, wenn man angezeigt bekommt, dass sich der Herzrhythmus eines kranken Angehörigen verändert, sodass man noch rechtzeitig einen Arzt rufen kann. Oder es kann Spass machen zu sehen, dass Freunde gerade in der Nähe sind, um sich spontan auf ein Bier zu verabreden. All dies sind Situationen, in denen einem die Echtzeitinformationen dazu verhelfen handelnd einzugreifen, und die sich zu einem schlechteren entwickelt hätten, hätte man nicht rechtzeitig etwas getan. In solchen Situationen, in denen man direkt als Handelnder involviert ist, ist die Verfügbarkeit von Echtzeitinformationen wertvoll. Aber bei genauer Betrach­­tung gibt es für den Einzelnen nur wenige Situationen dieser Art. In die meisten Ereignisse ist man nicht selbst als Handelnder involviert. Eine Massenkarambolage auf der A1, während man in der Strassenbahn sitzt? Dramatisch, aber nichts, was von einem eine unmittelbare Reaktion verlangen würde, oder wo eine unmittelbare Reaktion irgendeinen Unterschied machen würde. Ein plötzlicher Einbruch des Börsenindex? Wer kein Broker ist, der muss und kann nichts unmittelbar tun. Ein Erdbeben in Tokio? Die Urlaubsbilder der Facebookfreundin? In all diesen Fällen ist man kein Handelnder, sondern ein Beobachtender. Und für die Fähigkeit der Beobachtung ist es nicht notwendig, verzögerungsfrei davon zu erfahren. Eine Ausnahme ist natürlich das bereits erwähnte Fussballspiel, wo man sich als Fan vor dem Fernseher in die Handlung hinein imaginiert, die eigene Mannschaft anfeuert, jubelt und mitleidet.

Genau das ist es, was Echtzeit in den allermeisten Fällen mit uns macht. Sie lässt uns imaginieren, Akteur zu sein, wenn wir es eigentlich nicht sind. Wir haben das Gefühl, dabei zu sein, wichtig zu sein, obwohl wir strukturell ausgeschlossen sind und unser Verhalten für das weitere Geschehen von keinerlei Relevanz ist. Die sozialen Massenmedien verstärken diese Illusion, weil sie – zwar sehr eingeschränkte – Handlungsmöglichkeiten bereitstellen: like, share, comment. Diese Möglichkeiten können die Illusion des Dabei-Seins aber nur kurz aufrechterhalten, und so stellt sich schon bald, oft nur Sekunden später, das Gefühl einer Leere ein, die mit der nächsten Möglichkeit auf das Dabei-sein gefüllt werden muss. Und so reisst der Strom der Updates nie ab, denn diese Leere erzeugt Angst. Sie hat das Potential, zu einem Moment der Reflexion zu führen, der wohl bei vielen diese diffuse Beunruhigung nur noch verschärfen würde. Also ist das Bedürfnis nach Updates und imaginärer Teilhabe unersättlich. Ähnlich wie eine gute Marketing-Kampagne die schleichende Enttäuschung und den Mangel an Befriedigung, die mit dem Akt des Shoppens einhergehen können, dazu nutzt, gleich noch ein neues Konsumgut an den Mann und die Frau zu bringen, um ebendiesen Moment der Leere etwas heraus zu schieben, so entwickeln die kommerziellen Medien immer neue Angebote in Echtzeitformaten. Sie erlauben uns, immer dabei zu sein, ohne je etwas tun zu müssen.

Soweit die Nachfrageseite. Auf der Seite der Anbieter sind andere Motive im Spiel. Hier geht es nicht nur im imaginierte, sondern um ganz konkrete neue Handlungsmöglichkeiten, für die der Strom der Echtzeitdaten von entscheidender Bedeutung ist. In den Serverfarmen der grossen Anbieter entsteht ein neuer Handlungsraum, in dem sich das Verhalten der Nutzer nicht nur bis ins kleinste Detail beobachten, sondern auch in bisher ungeahntem Ausmass vorhersagen und – das ist das Entscheidende – beeinflussen lässt. Echtzeit bedeutet hier, dass sich die Handlungen der Nutzer verzögerungsfrei erfassen und verarbeiten lassen. Die Vorhersehbarkeit der Nutzer entsteht dadurch, dass die Daten des Einzelnen Nutzers einerseits auf wiederkehrende Muster untersucht werden, andererseits mit denen anderer Nutzer verglichen werden, die zu einem früheren Zeitpunkt eine ähnliche Handlungssequenz durchschritten haben, und deren nächste Handlung deshalb bereits bekannt ist. Wie es eine auf «persuasion profiling» spezialisierte Firma ausdrückt: «your next action is a function of the behavior of others and your own past». Diese Vorhersehbarkeit funktioniert aber nur für relativ kurze Zeiträume. Das heisst, je zeitnaher die Daten erhoben werden und je schneller auf diese reagiert werden kann, desto höher die Wahrscheinlichkeit, auch effektiv beeinflussen zu können.

Dies geschieht im Wesentlichen auf zwei Arten. Zum einen können dem Nutzer Informationen angezeigt werden, die sein Verhalten verändern. Das offensichtlichste Beispiel ist Werbung. Auf Basis individueller Profile sollen genau jene Werbungen angezeigt werden, welche die grösste Wahrscheinlichkeit haben, das kurzfristige (Kauf-)Verhalten zu beeinflussen. Für fast alle Medien, alte wie neue, ist Werbung eine wichtige, oftmals die einzig relevante Einnahmequelle und entsprechend gross ist der Druck, die Datenerhebung und den individualisierten Echtzeitcharakter der Werbeinteraktion auszubauen. Zum anderen kann die informationelle Umgebung so geändert werden, dass die Anreize etwas zu tun, sich verändern. In einem Experiment zeigte Facebook einer ausgewählten Gruppe von Nutzern, welche ihrer Freunde bereits wählen waren, und dadurch gelang es, die Wahlbeteiligung zu steigern. Der Einfluss war relativ schwach, knapp 0.5 Prozent. Auf der Ebene des Einzelnen ist ein solch schwacher Einfluss kaum bemerkbar, besonders, weil Facebook ja selbst keine Aussage getroffen, sondern nur spezifische Dinge sichtbar gemacht. Aber wenn man bedenkt, wie knapp gewisse Abstimmungen ausgehen – der extrem weitreichende Entscheid zur Masseneinwanderungsinitiative wurde mit nur 50.3% Zustimmung gefällt – und wie genau die sozialen Massenmedien bestimmte Gruppen adressieren können, dann ist leicht zu erkennen, wie gross das Potential der Manipulation durch Echtzeit Interaktion ist, und wie wenig Kontrolle darüber besteht.

Aus dieser Perspektive kann man Echtzeit als die perfekte Temporalität der Postdemokratie bezeichnen, in der laufend neue Beteiligungsmöglichkeiten geschaffen werden, während gleichzeitig die Verlagerung der Entscheidungsfähigkeit auf Ebenen vorangetrieben wird, die für allermeisten strukturell unerreichbar sind.

Felix Stalder ist Professor für digitale Kultur an der Zürcher Hochschule der Künste und forscht am World-Information Institut in Wien.
Dieser Text basiert auf Felix Stalders neuem Buch ‹Kultur der Digitalität›. Es erscheint im April bei Suhrkamp.

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