Jessiquoi mischt die Schweizer Elektroszene auf. Die 29-jährige Bernerin wurde schon als «die noch ungekrönte Neon-Pop-Queen der Schweiz» betitelt und tritt im August an der Lethargy auf. Mit uns sprach sie über weibliche Vorbilder, die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen und Berner Besetzungen.

Miriam Suter: Jessiquoi, du hast dieses Jahr am M4Music-Festival gleich doppelt gewonnen: Einmal in der Kategorie «Demo of the Year» und einmal in der Kategorie Electronic. Wie ging es danach weiter?

Jessiquoi: Zuerst war mir das gar nicht so bewusst. Am Tag nach dem Festival gab es einen 20Minuten-Artikel über mich, den mir natürlich alle meine Freunde weitergeleitet haben (lacht). Aber danach lief medienmässig nicht mehr viel. Das Preisgeld nutze ich momentan für die Produktion eines neuen Videos. Ansonsten hat sich eigentlich nicht viel verändert. Die Leute erkennen mich jetzt nicht auf der Strasse oder so, sie checken erst, wer ich bin, wenn ich im Gespräch meinen Künstlernamen erwähne.

Woher kommt der eigentlich?

Mein kleiner Bruder hat den erfunden, als er etwa sieben Jahre alt war. Er hat gern die Namen unserer Familienmitglieder verändert, und wenn er mich nerven wollte, hat er mich «Jessikwaaaa» gerufen anstatt Jessica. Das hat sich in meiner Familie irgendwie etabliert, und ich fand den Klang schön und habe mich dann für die französische Schreibweise entschieden. Ausserdem kann ich auf diese Weise meinen Bruder bei mir behalten. Ende dieses Jahres ist es sechs Jahre her, dass er ums Leben kam. Ursprünglich habe ich mit ihm und zwei Schulkollegen angefangen, Musik zu machen. Nach seinem Tod war für mich klar, dass ich nur alleine weitermachen kann. Und indem ich den Namen behalte, den er mir gegeben hat, ist er trotzdem noch ein bisschen mit dabei.

Auf Youtube findet sich ein Video von dir zum Song «Two Halves» von 2015. Dein Stil hat sich seither ziemlich stark verändert, vom Singer-Songwriter-Stil hin zur elektronischen Musik. Wie das?

Früher hatte ich das Gefühl, das erste, was man als Musikerin erreichen muss, ist, ein Album aufzunehmen und rauszubringen. 2011, noch vor dem Tod meines Bruders, habe ich ein Album aufgenommen, aber das ist nie erschienen. Der Song «Two Halves» war Teil dieses Albums. Bereits in der Arbeit mit dem Produzenten habe ich gemerkt, dass ich ziemlich andere Vorstellungen davon habe, wie mein Sound klingen soll Darum habe ich mich entschieden, ein eigenes Studio zu suchen und alles selber zu produzieren. Nach dem Tod meines Bruders folgte eine lange Phase des Experimentierens – das war eine Explosion in meinem Leben, die aber zur Folge hatte, dass ich jegliche Ängste ablegen konnte. Und auch Zweifel daran, wie ich etwas tun sollte, was ich tun sollte, und so weiter, ich hatte nichts mehr zu verlieren. Also habe ich einfach angefangen das zu tun, was ich wollte. Musikalisch waren und sind für mich M.I.A., Stromae, Woodkid, Portishead und später dann Grimes und koreanische Popmusik grosse Einflüsse.

Der erste deiner Songs, den ich kannte, war «The Rebel». Das Video dazu hast du mitproduziert. Ich habe das Gefühl, da geht’s viel um Geschlechterrollen, und vor allem um Männlichkeit. Stimmt das?

Ja, das war meine Absicht. Ich bin auch froh, dass die Leute das so aufnehmen. Ich finde es schwierig, mit visuellen Mitteln eine Aussage zu vermitteln, darum freut es mich sehr, dass mir das mit diesem Video gelungen ist. Das Thema Geschlechterrollen und -bilder beschäftigt mich schon seit meiner Kindheit. Ich war eines dieser Mädchen, das gerne Ballett tanzte, aber auch Fussball mochte. Ich interessierte mich für Kleider und Make up, aber ich kletterte auch gerne auf Bäume. Mir wurde dann immer gesagt, Fussball und Abenteuer seien etwas für Jungs. Das habe ich damals schon nicht verstanden. Auf Englisch – ich bin in Australien aufgewachsen – gibt es den Ausdruck «Tomboy». Er beschreibt Mädchen, die sich verhalten wie Jungs. Das ergab für mich schon als Kind keinen Sinn. Das ist auch heute noch so: Privat bin ich gerne mit Baggyhosen und grossen Pullis unterwegs, mag aber gleichzeitig meine langen Haare. Für mich gibts, je länger ich darüber nachdenke, keine klaren Geschlechterrollen. Das ist alles ein soziales Konstrukt. Aber anscheinend ist das noch immer keine weit verbreitete Meinung. Deshalb habe ich das im Video zu «The Rebel» thematisiert.

Bleiben wir noch kurz beim Thema Geschlechterrollen. Du arbeitest unter anderem beim Verein Helvetiarockt, der sich für die Förderung von Frauen und Mädchen im Jazz, Pop und Rock einsetzt. Warum braucht es diese Förderung?

Ich hoffe wirklich, dass wir in zehn Jahren nicht mehr über dieses leidige Thema diskutieren müssen, aber momentan ist es noch nötig. Helvetiarockt bietet quasi einen safe space für junge Frauen, und das ist sehr wichtig. Wenn ich mal wieder die einzige Frau im Backstage eines Festivals bin, dann stört mich das schon. Ich denke, es ist menschlich, dass man sich selber sehen muss in den Bereichen, die einem wichtig sind und die einen interessieren. Das gibt einem die nötige Motivation, darauf hin zu arbeiten, selber mal auf einer Bühne zu stehen. Ich selber kenne solche Erlebnisse auch. Vor lange Zeit habe ich auf dem Gurten ein Konzert der Band Katzenjammer gesehen (vier Frauen aus Norwegen, Anm. d. Red.), das war eines der geilsten Konzerte, die ich jemals gesehen habe. In mir hat das den Gedanken ausgelöst: «Frauen auf der Bühne sind uhuere cool!» Irgendwie wars sonst immer nur cool, ein Mann zu sein. Es braucht also Förderung, weil viele andere Frauen und Mädchen das auch wollen. Ihnen den Mut mit auf den Weg geben, den es dazu braucht, das ist wahnsinnig wichtig. Das habe ich auch bei mir selber festgestellt; ich hatte Glück mit meiner Familie, meine Eltern haben mich immer unterstützt in allem, was ich machen wollte. Dadurch hatte ich als Kind viele Freiheiten und das hat mich sehr geprägt. Natürlich fehlten auch mir lange Zeit die Vorbilder, aber ich glaube, ich hatte weniger Angst als andere Frauen und ein natürliches Selbstvertrauen, auch Vertrauen in meine Arbeit.

Wie geht’s denn momentan bei dir weiter?

Aktuell arbeite ich an einem neuen Video. Das wird dieses Jahr, noch vor dem Album erscheinen und ist eine ziemliche Herausforderung, denn es wird auf Englisch, Koreanisch und Mandarin herauskommen.

Krass!

Ja, ich habe extra Sprachunterricht genommen. Chinesisch übe ich schon länger, aber Koreanisch musste ich zuerst lernen. Insgesamt waren es etwa fünf volle Tage. Ich habe den entsprechenden Rap-Part aufgenommen und meiner Sprachlehrerin vorgespielt, sie hat meine Aussprache korrigiert und ich habs bei der nächsten Aufnahme angepasst. Ich mag Koreanisch sehr, weil die Sprache einen wahnsinnig guten Flow für Musik hat. Du kannst die einzelnen Wörter richtig schön in den Sound einflechten.

Warum Koreanisch und Mandarin?

Mein Ziel ist es, meine Musik in Asien bekannt zu machen. Ich habe seit meinen Teenagerjahren eine Faszination für asiatische Länder. Als ich mit 15 Jahren aus Australien zum ersten Mal in die Schweiz kam, lernte ich in einer Deutschklasse eine Chinesin kennen, mit der ich mich angefreundet habe. Durch sie habe ich den Zugang zu Mando-Pop, also Musik auf Mandarin, gefunden. Mich hat das wahnsinnig fasziniert, da ging eine Welt für mich auf, die mich stark angesprochen hat. Als Kind in Australien hörst du praktisch nur englischsprachige Musik. Ich war seither zwei Mal in China und setze mich viel mit der Sprache und der Kultur auseinander. Später habe ich auch angefangen, mich für Japan zu interessieren, für Animes, und momentan höre ich praktisch nur Koreanischen Pop. Ich finde es sehr wichtig, mich als weisse Künstlerin intensiv mit der Kultur auseinanderzusetzen, die mich beeinflusst. Daran teilzunehmen (wenn eingeladen), sich informieren darüber. Ich will nicht einfach Teile einer fremden Kultur ausleihen und dann wieder wegschmeissen; Kulturraub, sozusagen. Ich sehe so viele Videoclips, bei denen der Künstler fand: «Hey komm, gehen wir kurz nach Indien». Und dann siehst du im Video eine Gruppe Inderinnen wunderschön tanzen. Aber diese Kultur ist tausende Jahre alt und das ist alles, was man für ein paar Sekunden sieht? Das finde ich nicht okay.

Als Musikerin wurdest du in der Berner Besetzerszene gross. Da liegt das Klischee nah: Besetzer + elektronische Musik = Drogen.

Ich finds schön, dass du dieses Beispiel bringst. Für mich war und ist die Besetzerszene extrem wichtig, weil so viele Bands Unterstützung und ihre ersten Auftritte in einem besetzten Haus hatten. Solche safe spaces sind wertvoll und ich kann auch voll hinter dieser Philosophie stehen. Aber das Klischee stimmt aus meiner Erfahrung schon ein bisschen – was ich persönlich sehr schade finde. Ich habe für mich entschieden, drogenfrei zu leben und habe noch nicht einmal gekifft in meinem Leben. Ich finds total schade, wenn ich nach einem Auftritt gefragt werde, was ich genommen habe, dass ich mich so gehen lassen kann. Für mich waren Drogen nie eine Alternative und diese sozialen und mentalen Blockaden, die einen im Club zum Beispiel am Tanzen hindern, die habe ich einfach nicht. Für mich ist mein Körper seit meiner Kindheit ein Werkzeug. Das heisst für mich, dass ich gut auf ihn aufpasse und darauf achte, womit ich ihn füttere. Da passen Drogen einfach nichts ins Konzept.

Miriam Suter (*1988) ist freie Journalistin. Sie schreibt vor allem über Feminismus und soziale Anliegen, unter anderem für die WOZ, das Surprise Strassenmagazin und Das Lamm.

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