Es geht um Killer, um Killer und Liebe. Und dann Engel und Baby.

Es ist der dritte Probentag des Stücks «Ich sage kein Wort» von Matthias Brückner, welches im Rahmen des Projekts «Freie Republik Hora Phase 3» realisiert wird. Es ist Mittwoch. Es ist Morgen. Etwa fünfundzwanzig Personen sitzen in der Shedhalle der Roten Fabrik im Kreis und besprechen ihre Erwartungen für den Tag. Diese reichen von Brückners Erläuterungen über «Es wird mega» bis hin zu «vielleicht weniger Sex und mehr Liebe».
Der Kreis besteht aus den Mitgliedern des Ensembles des Theater Hora, dessen Co-Leiterin Nele Jahnke, vier Assistentinnen des Theaters, drei GastschauspielerInnen, einem Forschungsteam der Hochschule der Künste Zürich und mir.

Mein Ziel ist, dass das Publikum das Stück nicht sofort vergisst. Dass das Publikum die Menschen auf der Strasse nicht sofort vergisst.
(Sara Hess, seit 9 Jahren beim Theater Hora)

 Das Theater Hora, dessen Ensemble sich ausschliesslich aus Menschen mit einer sogenannt geistigen Behinderung zusammensetzt, existiert mittlerweile seit dreiundzwanzig Jahren. Alle zwölf Schauspielerinnen und Schauspieler sind in einem Hundertprozent-Pensum angestellt.

Ich möchte, dass sie (das Publikum) merken, dass sie die Hauptrolle spielen im Leben. Es geht um innere Freiheit. Aber sie sollen selber herausfinden, was sie dazu denken.
(Nora Tosconi, seit einem Jahr beim Theater Hora)

Seit Januar 2014 probt das Theater Hora in der Roten Fabrik. Und seit Sommer 2015 erarbeitet es hier die dritte Phase der freien Republik Hora. Das Projekt, 2013 von Michael Elber und Nele Jahnke initiiert, ist eine logische Weiterführung ihrer Arbeit mit dem Ensemble, das bis dahin immer unter der Regie von Theaterschaffenden ohne Handicap spielte – entweder von Michael Elber oder Nele Jahnke, die sich die Leitung teilen, oder von externen Regisseuren.

In meiner Regie geht es um Liebe, Eifersucht, Killer, Familie und Baby. Wenn ein Baby mit Trisomie 21 von Familie weggeschoben wird.
(Matthias Brückner, seit 8 Jahren beim Theater Hora)

Nach «Disabled Theatre», einer Koproduktion mit dem Regisseur Jerôme Bell, startete das Ensemble Phase 1 der freien Republik Hora. Darin ging es primär um die Auflösung von Hierarchien, um die Schaffung einer kollektiven Struktur. In der Folge waren meist alle Mitglieder des Ensembles auf der Bühne, Improvisation stand stark im Vordergrund. Einzige Regel war, dass es regelmässig Try-Outs mit anschliessenden Publikumsgesprächen gab. Diese verstand Jahnke als Antwort auf die von ihr aus gesehen völlig missratenen Publikumsgespräche, die nach «Disabled Theatre» stattfanden. Wenn sie sich an diese Gespräche erinnert, fällt ihr das Wort «Quotenbehinderte» ein; wirkliche Gespräche habe es jedenfalls nicht gegeben.
Irgendwann während dieser ersten Phase der freien Republik Hora hatte eines der Ensemblemitglieder begonnen, verstärkt die Rolle der Regie zu übernehmen. Dies gab den Ausschlag, Phase 2 einzuläuten.
In dieser Phase durfte Regie machen, wer wollte und wie sie oder er wollte. Für Jahnke und Elber stand dabei die Autonomie des Ensembles im Vordergrund, das heisst, dass sie die Mitglieder in Ästhetik und Dramaturgie möglichst nicht beeinflussen sollten.

Es geht um drei Jungs, die ich nehme. Und den roten Teppich. Dann Randensaft. Und Hemden.
(Tiziana Pagliaro, seit 10 Jahren beim Theater Hora)

Die Entscheidung, schliesslich Phase 3 einzuläuten, kam nicht vom Ensemble selber, sondern von Elber und Jahnke, die nun doch den Eindruck hatten, dass es sinnvoll wäre, den Regisseurinnen und Regisseuren einzelne Vorgaben aufzuerlegen. In erster Linie, um sie individuell zu fördern. Sie entwickelten fünf Punkte, die in der jetzigen Phase des Projektes von den Regisseurinnen und Regisseuren berücksichtigt werden müssen.

Die Bedingungen der dritten Phase der freien Republik Hora sind:
1. Es ist alles erlaubt, ausser sexuelle Übergriffe, Gewalt und die Zerstörung fremden Eigentums.
2. Jede Regie hat Anrecht auf eine Woche Probenzeit.
3. Jede Regie hat ein Budget von 5’000 Franken zur Verfügung, wovon nicht mehr als 4’000 Franken für Gagen ausgegeben werden dürfen.
4. Die Regie ist verpflichtet, zwischen einem und drei professionellen Theaterschaffenden ausserhalb des Theater Hora zu engagieren.
5. Die fünfte Bedingung ist individuell auf die Regisseurin oder den Regisseur zugeschnitten und dient der persönlichen kreativen Weiterentwicklung.

Dieser fünfte Punkt fiel enorm unterschiedlich aus: So wurde etwa Matthias Brückner untersagt, im Stück den Namen seiner Freundin (Tiziana Pagliaro) zu nennen oder sie als Schauspielerin zu besetzen. Nora Tosconi hingegen hatte die Vorgabe, das gesamte Ensemble spielen zu lassen. Sara Hess sollte vierzig Kinderwagen auf der Bühne vorweisen können. Und Gianni Blumer, der sich in seiner Regie bereits zum zweiten Mal thematisch der Science Fiction Filmserie Hunger Games widmete, bekam den Auftrag, eine Szene mit fünfzig (!) Personen zu inszenieren.

Einen Wunsch habe ich: Jennifer Lawrence (Schauspielerin aus Hunger Games), hat Kinder im Film, und ich möchte von denen der Götti sein. Aber das muss sie entscheiden, nicht ich.
(Gianni Blumer, seit 7 Jahren beim Theater Hora)

Zurück zum Kreis, in dem jeden Morgen vor Beginn und jeden Abend nach Probenende alle sitzen. Einzige Ausnahme sind die beiden Filmerinnen, die für «Disability on Stage», einer Forschungsarbeit der Hochschule der Künste, die gesamte Dauer des Projektes dokumentieren.
Nachdem Matthias Brückner genau wissen will, welche Fotos und welche Videos seiner Proben über welche Kanäle (Hora-Blog, Facebook oder anderes) an die Öffentlichkeit gelangen werden, bestimmt er die Zeit für die nächste Mittagspause und geht noch einmal intensiv auf die Gefühle ein, die er in seinem Stück vermitteln will.
Danach wird er von Nele Jahnke interviewt. Es geht um praktische Dinge, aber auch sein Befinden, seine Erwartungen an den Tag und an seine Regiearbeit. Das ganze wird wiederum gefilmt. Ich beginne mich zu fragen, ob die Schauspielerinnen und Schauspieler sich vom grossen Tross an Nicht-Ensemblemitgliedern nicht gestört fühlen. Als die Proben beginnen, wird klar, dass diese Befürchtung unbegründet war. SchauspielerInnen und Regie lassen sich nicht im Geringsten verunsichern oder ablenken. Die Hartnäckigkeit und Disziplin, mit der die Gruppe durch ihren Arbeitsalltag geht, beeindrucken mich zutiefst. Bereits nach kurzer Zeit hat man, selbst Beobachterin, die anderen Beobachterinnen komplett vergessen, so verzaubert ist man vom Theater Hora. Als Gianni Blumer während seinen Proben Nora Tosconi die Anweisung gibt, ein Lied über die Liebe zu improvisieren, singt sie: «Wir sind eins, wir sind zusammen, aber wir sind auch zwei und ich bin ich und ich bin gut so, wie ich bin.»

Das Theater Hora ist absolut gut so wie es ist, alle zusammen und jede und jeder im Einzelnen. Mir jedenfalls fiel es nach dem Tag, den ich ihnen bei der Arbeit zuschauen durfte, schwer, darüber zu schreiben. Die Kraft, die von dieser Gruppe ausgeht, kann man nicht in Worte fassen.

 

Die Retrospektive der in der freien Republik Hora 3 entstandenen Regiearbeiten ist bis am 3. Juli im Fabriktheater zu sehen. Nach der Vorführung hat man die Möglichkeit, sein Feedback auf einem Video-Beichtstuhl abzugeben und so den Eintrittspreis zurückerstattet zu bekommen.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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