Ibis Hernández ist Kunsttherapeutin, Niels Walter Journalist. Sie ist aus Kuba, er aus der Schweiz. Sie ist gehörlos, er hört. Die beiden sind ein Paar und haben einen 20-jährigen Sohn. Conradin Zellweger sprach mit dem «gemischten Paar» über seinen Alltag inmitten verschiedener Sprachen und Kulturen.

– Fabrikzeitung: Ibis und Niels, wie habt ihr euch kennengelernt?

Ibis Hernández: Das war in Kuba vor zwanzig Jahren. Ich war bei Freunden in Havanna zu Besuch. Auf dem Tisch lag eine Zeitung – ich begann zu lesen. Es war die Zeitung von Niels.

Niels Walter: Das war 1997, ich war da für längere Zeit in Kuba. Ich bin Journalist, Ibis ist eine leidenschaftliche Zeitungsleserin. So haben wir uns kennengelernt.

– Ibis, glaubst du, es ist ein Vorteil, einen hörenden Partner zu haben?

I: In gewissen Momenten ja, ich bekomme dadurch mehr mit, komme rascher an Informationen, die ich nicht auf Anhieb verstehe. Für uns Gehörlose ist es schwierig, immer über alles informiert zu sein. Die Sprache entwickelt sich ja auch sehr schnell. Plötzlich taucht da ein neuer Begriff auf, dann frage ich schnell meinen Mann, was der bedeutet.

– Bringt dich das nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis?

I: Früher zum Teil ja. Als es all die Kommunikationsmöglichkeiten übers Internet noch nicht gab. Ich würde dem aber nicht Abhängigkeit sagen. Ich kann selber sehr gut reagieren und recherchieren, wenn ich etwas Bestimmtes wissen will. Manchmal geht es aber gemeinsam einfacher und schneller. Aber das ist normal, das machen auch hörende Paare so. Man tauscht sich aus, hilft einander. Jeder hat seinen eigenen Wissensbereich, wo er sich auskennt. So baut man zusammen ein gemeinsames Wissen auf.

– Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf eure Kommunikation?

N: Sie hat sie einfacher gemacht und beschleunigt. Wenn wir auf Distanz länger miteinander sprechen wollen, dann benutzen wir FaceTime. So können wir uns direkt anschauen. Ibis liest meine Lippen, ich höre ihre Stimme.

I: Früher war ich auch diesbezüglich mehr auf Hilfe angewiesen. Ich musste Freunde bitten, für mich zu telefonieren. Ich musste Niels bitten, Dinge für mich zu organisieren. Heute schreibe ich einfach rasch ein SMS oder eine Mail.

N: Bei uns kommt ja die Fremdsprache erschwerend dazu. Ibis‘ Muttersprache ist Spanisch. Wir sprechen Spanisch miteinander. Bei ihrer Arbeit kommuniziert Ibis vorwiegend in der Gebärdensprache. In der Schweiz ist es für sie zusätzlich schwierig, weil die Schweizerdeutsch-Deutsch-Problematik dazukommt. Ibis lernte so gut es ging Hochdeutsch. Im Alltag spricht man hier aber Dialekt. Lippenlesen auf Schweizerdeutsch ist für sie praktisch unmöglich. All diese Sprachen, das ist ein ziemliches Durcheinander. Aus beruflichen Gründen sind wir immer wieder längere Zeiten getrennt, in verschiedenen Ländern. Einander zu schreiben, ist für uns beide sehr wichtig. Früher per Fax und Brief, heute per Mail und SMS. Briefe schreiben wir uns auch heute noch hin und wieder.

– Sprecht ihr auch Gebärdensprache zusammen?

I: Nein, unsere gemeinsame Sprache ist Spanisch. Das ist auch meine Muttersprache, und die ist sehr wichtig für mich.

N: Ich lernte mal die Gebärdensprache, benutze sie aber im Alltag viel zu selten und kann sie deshalb mehr schlecht als recht. Das ist etwas, was ich bedaure, mir auch vorwerfe, dass ich nicht tiefer in diese Sprache eingetaucht bin. Aber unsere gemeinsame Sprache ist eben nun mal Spanisch, nicht die Gebärdensprache.

– Ibis, brauchst du denn den Kontakt mit Gehörlosen, wenn die Gebärdensprache gar nicht deine Muttersprache ist?

I: Ja, sehr! Der Kontakt und Austausch mit Gehörlosen ist mir sehr wichtig. Ich war dreissig, als ich in die Schweiz kam. Ich lernte rasch die Gebärdensprache, und der Kontakt mit Gehörlosen hat mir neue Türen geöffnet. Ich habe mich in der Gehörlosen-Gemeinschaft sofort sehr wohl gefühlt. Ich war dadurch weniger müde, weniger frustriert. Es war eine neue Selbstverständlichkeit, eine Natürlichkeit, wie mit der Gehörlosigkeit umgegangen wird. Wenn ich diese Welt schon als Kind in Kuba kennengelernt hätte, wäre ich darin sicher noch stärker verwurzelt.

– Wie ist das mit den gemeinsamen Freunden? Habt ihr Gehörlose und hörende Freunde?

I: Etwa die Hälfte meiner Freunde sind gehörlos. Unsere gemeinsamen Freunde sind oft Hörende. Einige sprechen Spanisch, was für mich wichtig ist. Niels kann mit Gehörlosen einigermassen kommunizieren, aber er für ihn ist es da genauso schwierig, wie es für mich als Gehörlose unter Schweizerdeutsch sprechenden Hörenden ist. Wir verstehen oft nur bruchstückhaft, was da gerade geredet wird. Wir brauchen beide die Hilfe vom anderen.

– Führt das auch dazu, dass ihr euch nicht ganz akzeptiert fühlt vom gegenseitigen Freundeskreis?

N: Nein, überhaupt nicht. Wir kennen zwar nicht viele gemischte Paare… Die Gehörlosen haben ja ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Wir Hörenden haben das nicht in diesem Mass. Viele Gehörlosen fühlen sich als verschworene Gemeinschaft – was sicher auch mit der Sprache und damit zu tun hat, dass sie eine Minderheit sind. Ich habe aber nie fehlende Akzeptanz empfunden. Vielleicht, weil ich auch schon mit Gehörlosen gearbeitet habe.

I: Das sehe ich ähnlich. Was das Gemeinschaftsgefühl angeht: Es zeigt sich einfach, wie wichtig Sprache und Kommunikation für die Identität sind. Ich denke, heute ist es normal, dass Gehörlose und Hörende zusammen sein können.

– Aber gab es auch schon andere Zeiten? Hast du negative Reaktionen erlebt, weil du einen hörenden Partner hast?

I: Damals im Jahr 2000, als ich in die Schweiz kam, gab es zumindest Fragen und manchmal auch Kommentare. Da hiess es dann «Ach, du hast einen hörenden Freund?» Wie diese Frage gemeint war, habe ich an der Mimik des Gegenübers gesehen. Das hat sich mit der Zeit aber stark verändert. Heute ist das bei mir kein Thema mehr und ich fühle mich völlig akzeptiert.

– Werdet ihr oft bewundert, weil ihr anders seid?

N: Nein, wofür sollten wir bewundert werden? Das ist einfach unser Leben. Zwei verschiedene Kulturen, Sprachen, Geschichten. Das ist bereichernd, aber im Alltag oftmals auch sehr schwierig. Unser Sohn spricht viel besser Schweizerdeutsch als Spanisch. Wenn wir zu dritt sind, dann wird es anspruchsvoll. Wir haben da unsere Mechanismen entwickelt. Aber trotzdem: Jeder muss mit Frustration umgehen, Geduld haben.

I: Ich glaube auch, dass unser Sohn sehr viel im Rucksack hat, was die Sensibilität für Sprache und Menschen angeht – vielleicht auch wegen oder eben dank unserer Situation.

– Niels, trotz Sprachbarrieren im Alltag, was empfindest du als Bereicherung an der Gehörlosigkeit von Ibis?

N: Die Kommunikation ist offen, direkt, klar und bewusst – sie funktioniert nur, wenn wir einander anschauen. Es ist unmmöglich, schnell im Vorbeigehen oder hinter dem Rücken der anderen Person etwas zu sagen, sozusagen nebenbei eine fiese Bemerkung fallen zu lassen. Das machen wir Hörende ja oft. Mimik und Gestik sind auch wichtig. Die Kommunikation mit und unter Gehörlosen hat eine sehr hohe Qualität. Wenn man spricht, dann spricht man bewusst miteinander. Es ist ein miteinander Reden auf Augenhöhe – im buchstäblichen Sinne. Ich würde sogar sagen, in der direkten Kommunikation haben Gehörlose eine höhere Sprachkompetenz als wir Hörenden. Die Welt der Gehörlosen kennenzulernen, war für mich, wie in ein fremdes Land zu gehen. Sehr interessant und bereichernd.

– War das schwierig für euren Sohn?

I: Unser Sohn hat immer, wenn er Freunde nach Hause brachte, denen im Voraus erklärt, dass seine Mutter gehörlos ist. Das brauchte vielleicht Mut von ihm. Ich habe manchmal das Gefühl, dass meine Gehörlosigkeit eine Belastung für ihn ist. Er will Verantwortung für mich übernehmen, schon als er noch sehr klein war. Er korrigiert mich in der Öffentlichkeit, wenn ich zu laut bin oder Geräusche von mir gebe.

– Und Niels macht das nicht?

I: Wenn ich zu laut rede, dann schon. Aber sonst nicht. Vielleicht hat er auch aufgegeben. Was meinst du?

N: Manchmal, je nach Umgebungsgeräuschen, bitte ich dich, etwas lauter zu sprechen. Aber das siehst du ja meist an meinem Gesicht, wenn ich dich nicht höre. Generell habe ich überhaupt nicht das Gefühl, ich müsste Verantwortung für irgendwas übernehmen, nur weil Ibis gehörlos ist.

– Als ich euch für das Gespräch anfragte, dachte ich zuerst, wir bräuchten keine Gebärdensprachdolmetscherin – wir haben ja Niels. Wie sieht es mit der Akzeptanz aus, dass Ibis, trotzt hörendem Partner Unterstützung braucht? (Ibis wird in diesem Gespräch von einer Gebärdensprachdolmetscherin unterstützt)

I: Ich sage es ganz offen: Es läuft doch noch einiges nicht so gut. Wir bräuchten zum Beispiel viel mehr Untertitel im Fernsehen und vor allem im Kino, mehr TV-Sendungen, die in Gebärdensprache übersetzt werden. Letztlich ist immer die Finanzierung das grosse Thema – und das in der reichen Schweiz!

N: Ja, stets ist das Geld das Thema. Zum Beispiel bei Eltern-Veranstaltungen in der Schule musste ich immer um Dolmetscher kämpfen. Die Schule wollte nicht zahlen. Es hiess immer: «Sie können doch rasch für ihre Frau übersetzen.» Ich mache das ja auch oft, aber ich bin kein professioneller Dolmetscher. Ich kann nicht gleichzeitig zuhören, übersetzen und sprechen. Es ging so weit, dass Ibis nicht mehr an Infoveranstaltungen kam.

– Ibis, sind andere Gehörlose neidisch, dass du trotz hörendem Partner Gebärdensprach-Dolmetscher beanspruchst und bezahlt bekommst?

Nein, überhaupt nicht. Alle Gehörlosen haben das Recht auf Dolmetscher. Wir kämpfen gemeinsam dafür. Da werden eher die positiven Aspekte gesehen. Zum Beispiel, dass ich auch dank dem Einsatz einer Dolmetscherin eine vierjährige Ausbildung zur Kunsttherapeutin machen konnte.

 

Am Mittwoch, 7. September findet im Clubraum das Gehörlosen-Podium «Kofo» statt. Diesen Monat geht es um Partnerschaften zwischen Gehörlosen und Hörenden.

 

 

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