Die Proteste der Regenschirm Bewegung fanden im Jahr 2014 vom 26. September bis zum 15. Dezember in Admiralty und Causeway Bay auf Hongkong Island, sowie in Mong Kok auf der Kowloon Halbinsel statt. Was unter dem Motto «Occupy Central with Love and Peace» als kleiner Protest gegen eine Wahlrechtsreform (welche der Kommunistischen Partei in China erlaubt, die Kandidaten für das Amt des Chief Executive zu selektieren) ausserhalb des Regierungshauptquartiers in Admiralty begann, wurde zu einer Massenbewegung. Über hunderttausend Menschen gingen auf die Strassen, nachdem Ordnungskräfte mit Gewalt gegen friedliche Demonstranten vorgingen. Die Protestierenden blockierten einige der Hauptverkehrsadern der Stadt. Die Polizei antwortete mit Tränengas, Schlagstöcken und Pfefferspray, wogegen sich die Protestierenden mit Regenschirmen zu schützen suchten. Als «Umbrella Movement» machte die Bewegung globale Schlagzeilen; die mediale Aufmerksamkeit war enorm. Hinzu kam, dass die Protestierenden selbst alles filmten und sofort ins Netz stellten, ähnlich wie bei Demonstrationen des arabischen Frühlings. Die Kombination von konsequenter Gewaltlosigkeit, einer klaren Symbolsprache mit Regenschirm und gelber Schlaufe, nahezu plakativ-guten Manieren, Organisationstalent und Kreativität führte zu grosser Sympathie aus dem «Westen». Ein David gegen Goliath Narrativ – Hongkonger Studenten gegen die Regierung der Volksrepublik China – trug ebenso dazu bei.
Genauso wie bei den Protesten im Gezi-Park 2011, sowie den diversen Protesten des arabischen Frühlings ab 2010 flauten die internationalen Wellen der Solidarität jedoch rasch ab und die gefühlte Mehrheit von Facebook- und Instagram-Aktivisten widmete sich wieder der Verbreitung von Katzenvideos und den neusten Moves der Selfiestick-Akrobatik.
Doch nur weil Meier und Müller ihr Engagement wieder vermehrt in den Turnverein stecken, heisst das noch lange nicht, dass der Widerstand gegen despotische Regierungen gebrochen, oder gar obsolet geworden ist. Ob Assad, Erdogan oder Xi Jinping, ob Wallstreet oder WEF; die Opposition besteht weiter und findet im Netz wie auch auf der Strasse neue Wege sich Gehör zu verschaffen.
Ich möchte hier einige Eindrücke aus meiner Feldforschung zum Stadtklang von Hongkong versammeln.

Freitag, 16. Mai 2014
Club 71, Central, Hongkong Island.

Als Teil einer ignoranten Popband aus der Schweiz sitze ich in der Bar Club 71 und nippe an einem Glas Vodka auf Eis. Eingeladen vom Schweizer Konsulat dürfen wir uns hier während der Art Basel als Gwailo-Künstler aufspielen. Ich habe noch keine Ahnung, dass die herzliche Dame am Tresen das Tien’anmen-Massaker miterlebt hat. Dass sie fünfzehn Jahre den Club 64 als Mahnmal des 4. Juni 1989 betrieb. Auch nicht, dass der Club 71 an die Proteste vom 1. Juli 2003 gegen den Artikel 23 (welcher Subversion gegen die Zentralregierung von China verbietet) in Hongkong erinnern sollte.

Dienstag, 13. Oktober 2014
Carabietta TI.

Winnie, meine Freundin, ruft aus Hong Kong an: «Du musst was tun, du kannst nicht einfach faul auf deiner Haut liegen, während wir hier unser Leben riskieren! Du solltest schreiben, ich sende dir alle Informationen in Echtzeit. Die Welt muss wissen, was hier geschieht!»
Ich verfasse einen Artikel zur Musik bei den Protesten. Norient veröffentlicht ohne zu zögern. Die Sache geht viral. Ich habe doch keine Ahnung, denke ich und höre «Boundless Oceans Vast Skies» der Band Beyond in Endlosschleife.

Mittwoch, 8. Februar 2017
Admiralty, Hongkong Island.

Ich besichtige mit Winnie den Ort, wo die Proteste 2014 ihren Anfang nahmen. Sie erzählt, wo Tränengas geschossen wurde, wo die Student*innen sich waschen konnten, wo sie mit Freunden ihr Zelt aufstellte, wo Nachhilfeunterricht gegeben wurde. An der ehemaligen Lennon-Wall sind keine Post-its mit Wünschen mehr, sondern Metallplaketten: «Post No Bill, No Graffiti.» Eine Gruppe Primarschülerinnen geht daran vorbei, einige Anzugträger überqueren eine Brücke. In Admiralty sind fast ausschliesslich Büros, ausserhalb der Stosszeiten gibt es nur wenige Leute auf der Strasse. Die Geräuschkulisse besteht aus dem uniformen Rauschen der Hauptstrassen. Ich denke mir, so klingt also das Vergessen; ein weisses Rauschen, welches die Geschichte von den Opiumkriegen bis zur Umbrella Bewegung vertilgt in einer endlosen Raserei motorisierten Fortschritts.

Freitag, 17. Februar 2017
Diamond Hill, Kowloon.

Während die Hotpot Suppe köchelt und wir in einer kleinen Wohnung im 38. Stock Fischbällchen, Shrimp und Rindfleischstücke zwischen Stäbchen balancieren, läuft auf TVB die Tagesschau. Zwar seien die sieben Polizisten, welche am Rande der Proteste einen Aktivisten zusammenschlugen, vor dem höchsten Gericht schuldig gesprochen worden, doch heisse das noch nicht, dass sie wirklich schuldig seien. Das Beweisvideo könnte ja trotzdem gefälscht sein. Winnie nickt resigniert in Richtung Eltern und Verwandte. «Diese Generation bezieht alle Informationen aus dem TV. Jetzt weisst du, weshalb die Demokratiebewegung an Unterstützung verliert.» Wir wechseln den Kanal. Bald findet sich die ganze Familie beim Dessert vor einer Komödie aus den 1980ern. Deren Slapstick überwindet nicht nur sprachliche Hürden, sondern verbindet auch Generationen.

Donnerstag, 1. Februar 2018
Egnach TG.

Ich komme grad von einem Spaziergang dem Bodenseeufer entlang zurück, als ich in einem von Facebook-Freunden geteilten Time Artikel lese, dass drei der Occupy Hongkong Aktivisten – Joshua Wong, Nathan Law und Alex Chow – für den Friedensnobelpreis nominiert wurden. Einige Tage später erfahre ich, dass nicht alle im Lager der Demokraten von Hongkong besonders erfreut sind über die Nominierung. Die Hong Kong Free Press etwa schreibt, es fehle dem Trio an politischem Pragmatismus. Nathan Law zum Beispiel wurde einige Monate zuvor wegen einer Protestaktion aus dem Legislative Council disqualifiziert. Zusätzlich wurden allen dreien aufgrund der Verurteilung für die Erstürmung der Government Headquarters Steine in den Weg einer politischen Karriere gelegt. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Journalisten, welcher Wong und Law für eine Taiwanesische Zeitung interviewte. Er sei etwas enttäuscht gewesen, dass sich die beiden hinter einem Skript westlicher NGOs versteckt hätten.

Montag, 26. Februar 2018
Causeway Bay, Hongkong Island.

Etwas nach halb elf Uhr abends überqueren hunderte von jungen Leuten den breiten Fussgängerstreifen über die Hennessy Road in Causeway Bay. Während wir uns durch die Menge kämpfen, hören wir eine vertraute Stimme am Megaphon. Joshua Wong steht auf einer Verkehrsinsel und wirbt mit energischer Rede für die Demokratische Partei bei den By-Elections (bei der die Stellvertreter der vier disqualifizierten Politiker in den Legislativrat von Hongkong gewählt werden sollen).

Sonntag, 11. März 2018
Sai Ying Pun, Hongkong Island.

Bereits am Morgen werden mir vor den Blöcken meiner Bleibe in den New Territories Flyer in die Hand gedrückt. In diversen Quartieren begegne ich Leuten, die für Kandidaten werben. Es ist Tag der Wahlen. Besonders hart scheint das Rennen zwischen den Demokraten und den Peking-Loyalen. Beide werben mit Lautsprechern, welche Statements der Kandidat*innen abspielen. «This election is a choice between rationals and radicals», höre ich die Peking-Loyale Judy Chan ab Band an der Kreuzung von Centre Street und Third Street, einem der Hotspots in Sai Ying Pun an diesem Sonntag. Eine grün gekleidete Gruppe gegenüber versucht mit einem Band des Demokraten Au Nok Hin ihre Stimme zu übertönen. Au Nok Hin wird das Rennen um den Sitz für Hongkong Island gewinnen. Insgesamt gehen zwei der vier Sitze an Pro-Demokratie Kanditaten und zwei ans Pro-Beijing-Lager. Aus Sicht der Demokraten bedeutet das vier Schritte zurück, zwei Schritte nach vorn.

Montag, 12. März 2018
Diamond Hill, Kowloon.

Ich bestaune die domartige Halle im Zentrum der Plaza Hollywood Shopping Mall. Die riesigen Fenster an der Kuppel werfen durch farbige Glasmalereien ein buntes Licht auf den polierten Marmorboden. Dazu zeigen zwei Grossbildschirme die lokalen News mit Bildern von Zusammenstössen zwischen Protestierenden und der Polizei. Es geht um die Verurteilung von einigen Randalierern bei Protesten in Mong Kok vom 9. Februar 2016. Die Proteste gegen die Räumung von Strassenhändlern wurden von der lokalistischen Gruppe «Hong Kong Indienuous» angeführt und von westlichen Medien grösstenteils ignoriert.

Dienstag, 13. März 2018
Sai Ying Pun, Hongkong Island.

Ich sitze im Sun Yat Sen Memorial Park und lese einen Artikel in der New York Times über Vögel, welche ihren Gesang dem lärmigen Umfeld von Ölfeldern anpassen. Neben mir diskutiert eine Gruppe älterer Männer lauthals auf Kantonesisch, etwa hundert Meter vor mir tanzt eine Gruppe von Chinesinnen zum selben sich wiederholenden Mando-Popsong. Ganz leise vernehme ich Beyond’s «Boundless Oceans Vast Skies» aus einem kleinen Handradio eines älteren Herren, der sich neben dem Brunnen ausruht.

Mittwoch, 14. März 2018
Mong Kok, Kowloon.

Abends spreche ich auf der Sai Yeung Choi Street South mit einem Aktivisten. Sie kämen jeden Abend hier her, stellen Banner und Plakate auf, halten gelbe Regenschirme mit schwarzer Kalligraphie, auf gelben Flaggen steht «Fight For Really Universal Suffrage». Eine Dame drückt mir einen Regenschirm-Anhänger aus Plastik in die Hand. «Limitierte Edition, wird nicht mehr hergestellt, ist ja Made in China», meint sie lachend. «Wir werden solange hierherkommen, bis wir faire Wahlen haben.» Ich bedanke mich und wünsche viel Glück. Einige Minuten später droht eine junge Frau damit, sich von einem Hochaus auf die Fa Yuan Street zu stürzen. Feuerwehr und Rettungskräfte sperren die Strasse. Mit einer blitzschnellen Bewegung wird sie vom Geländer zurück aufs Dach gerissen. Einige Minuten später geht alles wieder seinen gewohnten Gang.

Freitag, 16. März 2018
Admiralty, Hongkong Island.

Ich begleite Jack, der als Accountant bei einer Venture Investment Firma arbeitet, morgens auf seinem Weg zur Arbeit. Wir nehmen die MTR U-Bahn von Sai Ying Pun nach Admiralty, wo wir durch die Hallen der luxuriösen Pacific Place Mall eilen. Die Mall gehöre der britischen Swire Group, welche auch 45% der Hongkonger Fluggesellschaft Cathay Pacific besitzt, erklärt mir Jack. In gewisser Weise befinden wir uns also an einem nahezu nostalgischen Ort, denn im Hongkonger Immobilienmarkt sei der Anteil von Käufern vom chinesischen Festland von 6% im Jahr 2009 auf 50% im Jahr 2017 gestiegen.
Am folgenden Tag wird der reichste Mann von Hongkong, der Business Tycoon Li Ka-Shing, in Pension gehen und die Leitung seiner Holding an seinen ältesten Sohn weitergeben. Das Fernsehen zeigt ihn auf einem Cover einer Ausgabe des «Far Eastern Economic Review» von 1981 als Superman-Comicfigur. Die Schuhverkäuferin, welche neben mir sitzt und die Bilder im TV anschaut meint annerkennend: «Hong Hong’s number one. Very hard working.» Ganz unvermittelt denke ich an Joshua Wong und sein unerbittliches Engagement für die Demokratiebewegung. Beide werden als rastlose Arbeiter und Idealisten portraitiert. Beide opfern sich scheinbar selbstlos für eine grössere Sache auf und sind betont bescheiden in ihrem Auftreten, fern ab von Glamour. Beiden ist gerade dadurch ein besonderes Charisma zu eigen. Zwei Charaktere, die sich bei der Occupy Bewegung in New York wohl diametral entgegen stünden, scheinen in Hongkong irgendwie aus einem Holz geschnitzt. Aber vielleicht irre ich mich ja.

Coda: 13. März 2018
Sai Ying Pun, Hongkong Island.

Auf dem Dach eines älteren Gebäudes treffe ich Mogs, einen philippinischen Driver, der mich singend und laut lachend begrüsst. Er arbeitet seit 22 Jahren in Hongkong, hat fünf Kinder in den Philippinen, welche er ernähren muss. Das sei schwierig, in den Philippinen könne man kein Geld verdienen, und die Regierung: Seit Marcos gehe da nichts mehr. Obwohl, der neue, Duterte, das sei ein harter Typ. Er möge ihn. Ob ich Kinder habe, fragt mich Mogs. Ich verneine. Bevor er Kinder gehabt hätte, habe er nichts gemacht, nur Beatles gespielt mit seiner Band. Die Beatles hätten ihn verdorben. Er liebe es zu singen. «Imagine there’s no heaven…», trällert John Lennon in meinem Kopf, während ich erquickt der Queens Road West entlang schlendere.

Andrin Uetz arbeitet an einem Doktoratsprojekt in Musikwissenschaft an der Universität Bern zum Thema Stadtklang. Er untersucht die Klänge von Hongkong als Ort der vertikalen Verdichtung. Er ist leidenschaftlicher Flaneur und ein Freund der Musik.

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