I.

Es ist fast zwei Uhr nachts und ich will seit Wochen einen Text für die Zeitung schreiben über die Dinge, die man hortet. Vor allem über die Notizen, die tausendfachen Notizen, die Fotofilme, die unentwickelten, die entwickelten, die Handyfotos, die Pläne, alles. Die Kisten voller irgendwo ausgerissener Schnipsel, auf denen ich mal die Farben interessant fand, und die ich eines Tages großformatig in Öl malen wollte. Und dann die siebenhundertmillionen Text-Edit-Dokumente, aus denen noch mindestens 17 Bücher werden sollen, Gedichtbände, wieso eigentlich nicht auch mal Gedichtbände oder Songtexte? Aber jetzt will ich einen Text für die Zeitung schreiben, der, wie immer, wenn es für die Zeitung ist, ganz ordentlich und gebügelt und glatt sein muss, schlau sortiert, wie ein aufgeräumtes Hotelzimmer für jedermann, aber ich kann nicht, ich bin wie meine Notizen geworden, ich fliege rum und fließe über und bin zu viel und ergebe zusammengelegt keinen Sinn mehr, kein Ende, kein Anfang.

Fühle mich manchmal wie ein Vogelkäfig, in mir sind lauter kleine aufgeregte Vögel und können nicht raus

Warum bin ich zum Beispiel schon 28? Wie konnte das passieren, bisher war ich immer jung, immer unter 30, immer, man verstehe: IMMER. Seit ich lebe. Aber bald kommt die 30, die 29 habe ich im vorauseilenden Gehorsam übersprungen, wie wenn man sich in der Schule eher freiwillig zum Einzel-Vorsingen vor der Klasse meldet, als dass man drauf wartet, bis die Lehrerin einen aufruft. Oder Schluss macht, bevor der andere es tut. Oder sich umbringt, bevor die Krankheit einen dahinrafft. Jedenfalls, dann bin ich also bald 30, und dann schleicht sich schon die 36 an, und von da an ist man doch eh gleich 40, dann auch schon 53, 60, Herzinfarkt.

Neulich hat in einem Interview eine Astrophysikerin zu einer Journalistin gesagt: «Ein Jahrzehnt, das mag Ihnen wie eine Ewigkeit erscheinen, aber in der Astrophysik ist ein Jahrzehnt nur eine Nanosekunde.»

Ich setze mich vor mein Regal, das riesige Regal, das immer größer wird je tiefer ich davor knie. Lege mich davor. Rupfe Zeug aus den Fächern. Ich finde die Tagebücher eines Exfreundes. Ich weiß nicht, warum er sie mir damals gegeben hat. Heute verkauft er Computerspiele auf Ebay und kifft den ganzen Tag. Man kann mit ihm kein Gespräch mehr führen. Dabei waren seine Notizen wirklich poetisch. Sollte ich mir seine Gedichte zu eigen machen, wenn ich sie schon habe? Aber was, wenn er nur deshalb so abgestürzt ist, weil in den Tagebüchern seine Seele drin war und er sie weggegeben hat? Was passiert mit mir, wenn ich sie mir aneigne? Habe ich dann eine Seele zu viel und es äußerst sich in akuter Schizophrenie? Ich lasse die Bücher fallen. Ich lege mich auf den Fußboden. Ich stehe nie wieder auf. Ich warte einfach vier Nanosekunden, dann ist alles vorbei.

Aber bevor alles vorbei sein kann, klingelt es an der Tür. Ich sehe auf die Uhr. Es ist zwei Uhr. Ich stehe auf. Als ich durch das Treppenhaus runter sehe, sehe ich kurz Marikos Kopf. Mir fällt ein, dass ich früher am Abend gesagt habe, sie könne jederzeit vorbeikommen. Mir war nur nicht klar, dass sie es tun würde. Dann bewegen sich da noch Männerschuhe im Erdgeschoss neben ihren. Hoch kommt sie doch allein. Sie torkelt in meine Wohnung. Begeistert taumelt sie durch den Flur, sie ist das erste Mal in meiner neuen Wohnung, ich wohne noch nicht lange hier: «Super Laden hier, wirklich!», ruft sie strahlend.

Weiß nicht, ob ich schon mal stocknüchtern Besuch von einer stockbesoffenen Freundin hatte. Ich fürchte mich ein wenig. Ich lege ihr einen Schlafanzug raus, sie sagt: «Mach, was du willst, ich freu mich!» Geht ins Bad, kommt wieder. Schwankend zieht sie sich um. Wir legen uns ins Bett. Sie schmiegt sich an mich wie ein kleines Kind. Lacht zwischendurch. Ich nehme meinen Laptop und schreibe alles auf. Sie steht wieder auf, entschuldigt sich ganz förmlich: sie müsse sich übergeben. Kommt aus dem Bad zurück, sagt «schreib schreib schreib», legt sich ins Bett. Sagt mit geschlossenen Augen: «Als würdest du eine Maus fangen wollen». Sie meint das Geräusch meiner Finger auf der Tastatur. Sie lacht wieder, als würde sie an den Innenseiten ihrer Lider einen Witze-Film sehen. Schläft wieder ein. Lacht. «Deine Finger sausen», murmelt sie, ich streiche ihr über den Kopf. «Ich schreibe über dich», sage ich, «noch mehr Notizen, die keiner durchlesen kann.» «Haha», singt sie jetzt mehr, als dass sie lacht und hat einen Fuß längst im Traum.

Die Heizung gurgelt, die Autos rauschen. Meine Adiletten neben dem Bett. Was hat Mariko wohl erlebt? Ich frage sie, und erwarte keine Antwort, aber sie antwortet dennoch: «Lass uns nicht darüber reden», sagt sie. «Der Adrian, der ist ein krasser Stalker».

Mariko und ich sehen uns oft monatelang nicht, obwohl wir die meiste Zeit in derselben Stadt wohnen. Wir treffen uns nie auf normale Weise. Ich habe meine Abschlussarbeit in der Uni über sie geschrieben, Mariko, die allein zuhause die Nächte zum Tag macht, wie ich. Dafür habe ich sie nachts besucht und in ihrem Zimmer interviewt bis morgens um 6. Einmal haben wir uns unter der Woche am Königsplatz getroffen nachts um 3, nüchtern, mit Wolldecke, und ein anderes Mal habe ich einen Tag lang Urlaub in ihrer Wohnung gemacht, ich kam morgens aus Italien mit dem Nachtzug und abends fuhr ich wieder. Manchmal erinnere ich mich an Reisen, die wir zusammen unternommen haben, bis mir einfällt, dass wir noch nie miteinander verreist sind.

Jetzt schläft sie, immer noch auf meinem Arm, der sich durch das Schreiben leicht bewegt. Vielleicht träumt sie, im Nachtzug zu fahren und mein Arm ist das Geruckel des Zuges.
Ich kann nicht schlafen, vielleicht schlafe ich nie wieder. Ich setze mich wieder vor die Kiste mit den Zetteln, greife eine handvoll heraus und falte sie auseinander. Sie sind nicht mit Datum versehen.

«Mein neues Hobby: Friseuren bei der Arbeit zugucken, weil es so befriedigend ist, zuzugucken, wenn Haare geschnitten werden. Gute Frage: wie ist es, wenn man sich als Friseur ständig im Spiegel sieht? Frisuren von Friseuren: auch ne gute Fotostrecke.»

«Annahmen die man über das Leben der anderen hat aufgrund ihrer Instagram-Fotos, lustig, so unsichtbare leben die es gar nicht gibt, nur in meinem kopf»

«Mein idealer Tag sähe vermutlich so aus: Immer anders.»

«Fühle mich m.mal wie ein Vogelkäfig, in mir sind lauter kleine aufgeregte Vögel und können nicht raus.»

Vor ein paar Tagen hat meine Oma angerufen hat und gesagt, dass sie jetzt alle Liebesbriefe von ihr und meinem Opa vernichtet. Sie will nicht, dass sie jemand liest, es sei einfach zu intim und auch so «körperlich». Sie kann froh sein, dass sie sie überhaupt hat. Das Gruselige an Briefen ist doch: die, die man selbst verfasst hat, besitzt normalerweise jemand anders. Wie mit all den Fotos, auf denen man weltweit so drauf ist. Die meisten lagern für immer bei irgendjemandem, und selbst wenn man wüsste bei wem, holte man sie dort doch nie ab.

Dann fallen mir meine Handynotizen ein. Ich will meine gesamten Handynotizen unverändert in ein Dokument transkribieren und ausdrucken. Ich nehme den Computer und öffne die Notizenfunktion. Sie sind alle in dem Ordner iCloud. iCloud? Hab ich das jemals installiert? Ich bin eine schlechte Autorin. Ich gebe nicht einmal Acht auf meine Notizen. Alles durcheinander. Mein Vater sagt immer, wenn wir uns sehen: «Mach doch mal was aus deinen Reisenotizen! Hast du noch deine Reisenotizen? Hast du das, was du mir damals am Telefon erzählt hast, auch aufgeschrieben? Mach doch daraus mal ein Buch! Das wäre doch schön!» Ich nicke dann immer. In Wahrheit weiß ich nicht mehr, wo oder ob ich irgendwas davon noch habe. Außerdem, wenn meine Eltern mir was vorschlagen, will ich sowieso sofort das Gegenteil davon machen. Die Pubertät hat bei mir einen chronischen Verlauf genommen.

In dem iCloud-Notizenordner sind irgendwie nur ein paar wenige Handy-Notizen von 2012. Wo ist der ganze Rest?

Cukurcuma-Straße und Dalgic-Gasse

Restpsycho

Fr 8.30h

1.veranstaltung: motorrad rennen

Erwin heller vom Verein zur Verzögerung der zeit

20,6 juri schulden

zum einschlafen spielt das radio in die dunkelheit hinein, südliche gitarre, ich reise in den schlaf, in den orient, nach portugel, ans griechicsche mer, ich esse vietnamesische nudelspuue, hinter der kirche in rom geht die sonne unter, mein hemd flattert im heißen sommerwind. schieße eine rakte ab, habe bei meinem freund eine gefunden

Lesen zappen Surfen, sie nennen es leben

Worunter ich am meisten leide: dass ich immer denke, wie geht ein gutes leben

Die aufregendsten leben der Welt

360 Freizeit i d Erlebnis Gesell

Yuxin weihai road near chengdu bei Lu

wantans mit bohnenpaste

Verblichenes Blau. Die beiden alten spielen, in der offenen Tür

Oh Gott: kaffeeautomaten wo Kaffee, heiße Schokolade, eistee und Hühnerbrühe aus einem Rohr kommen

Meine kleine Schwester wollte gerade aussteigen. Mit 200 Euro zum Flughafen. Nach x, dann wieder nach Hause. Aufgeben ist mutiger als durchhalten

apfelstecher

Telefon Ecke: 42 cm breit, 50 tief

Sache mit dem Papst: wieso berichtet man darüber noch?

Liebe spektakulär

Wie die alte Dame vor der Bar malù, mit ihrem wägelchen, das sie hinter sich herzieht, im Rhythmus, roll, roll, roll, einige hundertsel Sekunden Pause zwischen den Schritten…. Im Rhythmus,

Zucchiniblüten

juri schreibt mir: Kopf hoch, Baby! keine Selbstzweifel, sonst schick ich dich in alle Psychologiekurse der vhs

Letzten September, aufgeteilt Seiten, mein alter Bungalow Alice im w.

Dunkelblaues Bild, außenrum rot , als sei rot der Hintergrund und nur ein fast flächendeckendes blaues Quadrat in der Mitte. mitblauvarianten darin.

Sonnen und Monde wie in melancholia

Wie ich mir immer vorstellen muss wie die Eltern von den Leuten aussehen

wieso sehen soviele blonde frauen gleich aus, immer wie entchen oder mäuse

Monsterratte

Falls du Lust hast, morgen sms an ihn..016093839037

alles war wir unter einer Art Vergrößerungsglas

 

Und dann schlafe ich doch noch ein. Aber das weiß ich erst, als ich wieder aufwache.

 

II.

Mariko schläft noch. Ich habe höchstens vier Stunden geschlafen, draußen dämmert es, die Straßenreinigungsmaschine fährt vorbei. Ich nehme meinen Laptop und fange an zu tippen. Der Text für die Zeitung muss fertig werden. Ich finde keinen Anfang. Was ist ein guter Anfang? Einen Text beginnen ist, wie mit verbundenen Augen eine Nadel im Heu suchen. Und die Scheune ist tausendmillionen Hektar groß. Und es gibt überall Nadeln. Welche die richtige ist, muss man «im Gefühl» haben. Nadel im Heu – come on, solche Floskeln sind verboten, wenn man einen guten Text schreiben will! Wieso fallen sie mir überhaupt ein? OMG, denke ich. Wieso zur Hölle «OMG»? Es wird nicht besser.

Mich schmerzt es seit dem Aufwachen. Ganz leicht, kein rein körperlicher Schmerz, eher so Sticheln von Wehmut, Reue, Schuld, ohne dass ich weiter erklären könnte, worauf sie sich beziehen. Aufwachen tut immer ein bisschen weh, auch wenn ich mich auf das, was am Tag ansteht, freue. Ich bin nicht depressiv, nur schwermütig veranlagt. Ich bin oft sehr wütend auf meine Schwermut. Ich zücke meine Damenpistole und knalle sie ab. Das Problem ist, sie stirbt nicht. Ich kann sie nicht umbringen. Ich glaube, wir sind eins. Weil ich mich an keine Zeit ohne sie erinnern kann. Wenn ich an meine ersten Erinnerungen denke, war sie immer schon da. Vielleicht ist sie auch nur wie die Mistel im Baum: ein Parasit.

Ein Therapeut würde mir sicher vorschlagen: Konfrontieren Sie sich mit Ihrer Schwermut. Sprechen Sie mit ihr! Alles verliert seinen Schrecken, wenn man ihm ins Gesicht sieht.

Versuchen kann man’s ja mal.

He Schwermut, sage ich, was ist mit dir?

Die Schwermut dreht sich langsam, sehr langsam zu mir um. Sie öffnet ihre Augenlider nur zur Hälfte und seufzt so traurig, so hoffnungslos, so desillusioniert, so tiefenmelancholisch, dass auch mir die Augendeckel gleich zufallen.

Ja? haucht sie. Ach Schwermut, sage ich.

Wir haben es nicht leicht, nicht wahr, seufzt sie.

Ihre dunkle Energie umwabert mich, ich will schon nicken, dann reiße ich mich zusammen.

Hör auf mich anzustecken mit deiner Depri-Scheiße, sage ich.

Ach komm, versuchs gar nicht erst! Sie lacht bitter: Du bist wie ich. Du siehst es doch auch.

Was sehe ich denn bitte?

Na, die Menschen. Die Welt. Das Leben. Eine Pein.

Es ist schwer, mich gegen sie zu wehren, aber ich bin tapfer.

Du bist dumm, sage ich. Nur dumme Menschen reden in Pauschalbegriffen. Sie sind zu faul und zu beschränkt, hinzuschauen. Sie geben sich keine Mühe. Sie sind stumpf im Hirn.

Nur Masochisten mühen sich jeden Tag aufs Neue mit der Hoffnung auf eine bessere Welt ab, zischt mir die Schwermut entgegen.

Auf diesem Niveau kann ich mich nicht mit dir unterhalten, Schwermut, sage ich.

Die Schwermut zuckt mit den Achseln und wendet den Blick von mir ab, um weiter traurig in die Ferne zu starren.

Eigentlich hast du nur Angst, Schwermut, sage ich.

Pff, sagt die Schwermut.

Du hast Angst, zu versagen, du hast Angst, einsam zu sein, du hast Angst, dass dich die, die du magst und schätzt, nicht mögen und schätzen, du hast Angst, Dinge zu tun, die du bereust, du hast Angst, deine Chancen nicht zu nutzen, nicht den Spaß zu haben, den du haben könntest, du hast Angst vor Krankheiten, pleite zu gehen, hässlich zu werden, einsam und verloren zu sein, du hast Angst vor dem Tod, du hast Angst, Angst, Angst. Du redest dir ein, du bist ein Poet, aber du bist kein Poet, du bist ein Feigling.

Die Schwermut guckt beleidigt, dann fängt sie an zu heulen.

Ich wusste es. Ich spüre den Triumph in mir. Ich habe sie enttarnt. Aber jetzt tut sie mir leid.

Hey Schwermut, du könntest doch einfach das Schwer weglassen und nur noch Mut sein, sage ich. Geh zum Friseur, lass es dir abschneiden wie zu lange Haare!

Nein, ja, ok, vielleicht, danke, ich muss nachdenken, schluchzt die Schwermut. Und dann sagt sie: Weißt du, es ist ja nett gemeint von dir, aber ich bin für sowas einfach nicht der Typ.

«Hallo», macht es plötzlich neben mir.

Das ist nicht die Schwermut, das ist Mariko.

«Bist du schon lange wach?», fragt sie. Ich weiß nicht, wie lange meine Gedanken und mein Dialog mit der Schwermut gedauert haben. Draussen ist es jetzt hell und man hört einsame Schritte, alte Menschen, Frühaufsteher, leise Jogger auf dem Weg zum Bäcker. «Ein bisschen», sage ich.

Mariko steht auf und geht sich ein Glas Wasser holen.

Vor dem Fenster leuchtet eine Baumkrone hellgrün im Morgenlicht. Ich stelle den Laptop auf die Fensterbank und lasse mich zurück ins Bett fallen.

Was kann ich Mariko zum Frühstück anbieten, werden wir noch im Bett liegen oder zusammen was unternehmen? Oder wird sie gleich abhauen? Wie wird der heutige Tag? Darüber wollte ich auch mal einen Text schreiben, über den Moment, bevor etwas passiert und man nicht weiß, was und wie. Man weiß, es wird passieren, IRGENDETWAS wird passieren. Man wird etwa ein weißes Blatt voll schreiben. Aber mit was? Und ein paar Minuten später steht dann wirklich was da. Die vorherige, ahnungslose Leere scheint jetzt, wo etwas da steht, unvorstellbar und ewig weit weg. Wusste man es wirklich noch nicht? Man wusste es doch. Man hat es nur aus irgendeinem Lager geholt. Wo ist dieses Lager? Was lagert da noch so? Wer füllt das auf? Wo kamen die Worte her? Man kann es nämlich nicht benennen. Als wäre man genau in der Sekunde, wo sie kamen, betäubt worden, Sekundenschlaf, und auf einmal waren die Worte da. Oder wenn man daran denkt, dass man vielleicht irgendwann ein Kind hat, aber noch ist es eben nicht da. Man weiß nicht, ob es jemals da sein wird, denn es kann ja auch sein, dass es niemals da sein wird. Wie früher, wenn man sich überlegt hat, mit wem man wohl zum ersten Mal Sex haben wird und einfach so überhaupt keine Ahnung hatte. Und im Nachhinein steht es alles ganz fest, als wäre es immer schon klar gewesen: Mit dem, an dem Tag, um die Uhr, an dem Ort.

Das flasht mich auch bei Flugzeugabstürzen oder Unfällen oder generell beim Sterben: Wie ist wohl der Moment, in dem man kapiert, dass es jetzt passiert? Dass DAS jetzt die einzige Variante für den eigenen Tod ist? Dass die eigene Geschichte wirklich so endet und man es von Tag 1 an hätte wissen können, sozusagen, nur, dass man es eben nicht wusste, und jetzt ist es glasklar?

Ich werde wieder müde. In meinem Kopf tauchen plötzlich Schafe auf, Maiskolben, Watte, ein Mann wie aus einem Wilhelm-Busch-Buch, der Schmetterlinge fängt, Hot Dogs mit Flügeln… Dann legt Mariko sich wieder zu mir und ich wache auf aus dem Fast-Schlaf.

«Ich hatte den anstrengendsten Traum.», stöhnt Mariko.

«Welchen?»

«Ich habe geträumt, dass mich eine Mücke wach gehalten hat. So ein Ärger. So sinnlos. Dann bin ich aufgewacht und habe gemerkt, es ist gar keine Mücke da, es war nur ein Traum.»

Dann reden wir über Gegenstände, die man hortet und Besitz im Allgemeinen. Mariko sagt: «Ich habe Riesenschwierigkeiten damit, Dinge zu kaufen. In Geschäften kommen mir die Dinge so tot vor und ich frage mich immer WARUM? Warum braucht der Mensch all das? Ich habe das Gefühl, dass Besitz so unfrei macht. Wenn Dinge für einen eine echte Bedeutung haben, dann möchte man sie nicht loswerden und sie beschweren einen. Und wenn sie keine Bedeutung haben, verleitet einen das dazu, sie wegzuwerfen oder schlecht mit ihnen umzugehen. Das macht die Welt zu einem schlechten Ort. Ich hasse H&M und IKEA. Das ist, wie auf einem Friedhof sein. Die Möbel meiner Grosseltern sind teilweise hunderte Jahre alt, das finde ich schön. Die Vorstellung, dass meine Urururenkel noch auf meinen Möbeln rumhopsen, finde ich toll. Aber das wird garantiert nicht mit einer Ikea-Kommode passieren.»

Dann klingelt Marikos Telefon, der Produzent ihres Drehbuchs ist dran. Er will mit ihr über eine bestimmte Szene sprechen. Sie sagt, sie komme vorbei, weil sie sowas nicht am Telefon erklären kann. Sie zieht sich an und ich bringe sie zur Tür. Wir umarmen uns, ich winke ihr im Treppenhaus nach, und dann ist sie weg. Vielleicht wird sie einmal berühmt. Was aus uns beiden einmal geworden sein wird, wird man eines Tages wissen. Aber jetzt noch nicht.

Ich suche den ganzen Tag alle Ordner auf meinem Computer durch, in denen von mir verfasste Texte herumfliegen, egal welcher Länge oder Qualität. Ich eröffne einen neuen Ordner, der ALLE TEXTE VON MEINEM COMPUTER heisst, und schiebe sie alle dort hinein. Dann schließe ich den Laptop. Ich zähle meine analogen Notizbücher. 32 Stück.

Was, wenn ich mich einfach dagegen entscheide, weiter meine Notizen durchzugehen, was, wenn ich mit dem Projekt, über Notizen und Erinnerungen die man hortet, zu sinnieren, Schluss mache, und stattdessen rausgehe und Dinge erlebe ohne sie aufzuschreiben? Warum will ich allem mit Worten hinterhergehen? Warum reicht es mir nicht einfach zu leben? Andere können das doch auch.

Irgendetwas wabert mich schon wieder so dunkel an. Da sitzt die Schwermut und seufzt. Sie sagt: Ich weiß, du willst von mir nichts mehr hören, aber ich sag’s dir trotzdem: Du denkst zuviel. Denken hat die Menschen schon immer unglücklich gemacht.

Bla, sage ich.

Ich drehe um und gehe. Das Suchen der alten Texte auf dem Computer hat fast den ganzen Tag gedauert. Ich nehme mein Portemonnaie, den Schlüssel für die Wohnung in Italien und verlasse das Haus. Ich gehe in Schlafanzug und Hausschuhen immer weiter geradeaus. Am Hauptbahnhof kaufe ich ein Ticket und setze mich in den Zug. Als er anfährt, sitzt die Schwermut neben mir und grinst. Sie strahlt. Sie glänzt im orangefarbenen Abendlicht. Sie ist immer noch Schwermut, aber auf einmal wunderschön. Sie lehnt sich an mich und ist warm. Sie riecht nach dunklen Wäldern und wilden Salzwasserwellen im Meer und dem orangefarbenen Himmel.

Hast du was zu Schreiben dabei?, flüstert sie in mein Ohr. Ich will aufschreiben, wie der Himmel aussieht, und wie es riecht, und dass ich unterwegs bin, und dass ich ich bin, und dass es so traurig ist und zugleich so schön, und ich gar nicht weiß, wie das sein kann.

Ich habe nichts zu schreiben, sage ich. Ich schreibe jetzt nicht mehr. Man muss nicht immer alles aufschreiben. Man muss auch so leben können.

Bla, sagt die Schwermut.

 

III.

Ich komme sehr spät an, es ist bald ein Uhr nachts. Aber es ist warm. Und ich habe alle Hände frei und niemanden, der auf mich wartet. Ich verlasse den Bahnhof und gehe die Straße runter. Es fährt kein Bus mehr nach Bisazza. Vielleicht der Titel für einen Roman: «Es fährt kein Bus mehr nach Bisazza»? Was stellt man sich da vor? Ein Geisterdorf, in dem der Priester nach und nach aus seinem Beichtstuhl heraus alle Dorfbewohner umbringt, in der Sehnsucht nach einem starken Gefühl, das sich aber nie einstellt. Oder die Geschichte einer Busfahrerin, die so unglücklich verliebt ist, dass sie ihrem Job nicht mehr nachkommen kann, und dazwischen geschnitten die Lebensgeschichte ihres Angebeteten, der täglich nichts ahnend bei ihr einstieg.

Es ist düster in den Straßen. Ich gehe zwischen verwilderten Vorgärten und verbeulten Autos entang. Ich muss immerzu auf die italienischen Nummernschilder sehen. Als ob sie mir etwas längst Vergessenes über das Land erzählten, wenn ich nur lang genug drauf schaute. Staub, Asphalt, Liebesdramen. Es riecht nach warmem Benzin und dem Dunst mediterraner Gärten und etwas süßlich Vertrocknetem. Ich trete an eine Palme heran und rieche an ihr. Es ist die Palme, der Geruch. Ich sehe mich um. Oben leuchtet ein Fenster. Wenn ich nicht ich wär, sondern die Person, die da wohnt, und runtergucken würde, was würde ich denken? «Mama, warum hat die Frau da draussen einen Schlafanzug und Hausschuhe an und riecht an einer Palme?» «Oh, das wird eine Schlafwandlerin sein!» Gruselig, sich als Fremde zu betrachten. Man würde sich ja völlig missverstehen.

Irgendwann komme ich an den See. Aus einer Bar trällert Dolly Parton «And aaaaaaahaa-aaaai will always love you. But above all of this I wish you love.»
In einem Restaurant kaufe ich Zigaretten. Ein livrierter Kellner begleitet mich heraus und sagt Gute Nacht.

Merit Bay, il fumo uccide, Merit Bay, il fumo uccide, lese ich, während ich zum Ufer gehe. Ich klettere über die Steine, ziehe meine Schuhe aus und lasse meine Füße ins Wasser hängen, das schwarz da liegt wie Kaffee. Jetzt habe ich Anschluss zum Unterwasserreich, ich bräuchte nur Augen in den Zehen. Was da wohl alles vor sich hin gurgelt am düsteren Grund dieses Sees? Ich stelle mir vor, wie das aussehen würde, wenn jemand Licht anschalten könnte unter Wasser.

«Willkommen in der Zukunft», würde ein Fischpräsident ins Mikrofon sagen, und viele Flossen würden klatschen, und dann: Wwwwwwwwwzzzzzzrrrrr. 370 Quadratkilometer Unterwasserbeleuchtung an! Ein gigantisches Aquarium, am besten zu betrachten eigentlich aus dem All.

Und dann, 15 Jahre später, wenn die Wissenschaft so weit wär, das Gleiche mit den Weltmeeren. Es gäbe einen All-Tourismus – nicht um den Mond zu sehen, sondern die beleuchteten Weltmeere von oben. SeaWorld Inc. wäre mittlerweile Besitzer der Weltmeere und auch Betreiber der Aussichtsstation im All. Wer oben steht, grüßt die Astronauten der ISS im Vorbeiflug. 150 Besucher pro Nachtepisode, von der es natürlich mehrere pro Erdentag gibt.

Innerhalb von zwei Jahren würde das gesamte Ökosystem der Erde kollabieren wegen Lichtunverträglichkeit der Tiefseefische und gestörter Biorhythmen. Und das wars dann mit der Menschheit.

Ich rauche sechs Zigaretten, eine nach der anderen, trotz meiner Bedenken wegen il fumo uccide, aber die Schwermut sagt, dass gar nicht die Zigaretten, sondern das Leben uns tötet. Früher oder später seien wir nun mal dran. Das älteste und immer wieder überzeugendste Argument für Genuss. Bis man maximal verkabelt auf der Lungen-Intensiv sitzt und gern noch ein paar Jahre dazu gehabt hätte.

Es wird kalt und ich denke, dass es doch keine gute Idee ist, zu warten, bis die Busse wieder fahren. Ich halte einen Autofahrer an und frage, ob er Richtung Bisazza fährt.

«Bisazza, wo soll das sein?»

«Ich zeigs Ihnen dann schon, einfach hoch bis Salò.»

«Ja, das ist meine Richtung», sagt er. Ich steige ein.

«Ist das ein Schlafanzug», fragt er.

«Ja», sage ich.

«Wo kommst du denn her?»

«Aus München.»

Er lacht.

«Und hast du da nichts drunter?»

«Sind Sie ein Perverser?»

«No no no no, ich frage es mich halt nur.»

«Oh Gott, Sie sind ein Perverser!»

Ich weiß nicht, was Perverser auf Italienisch heißt, ich sag einfach «perverso» und er scheint es zu verstehen.

Jetzt sagt er natürlich nichts mehr. Er trägt Sonnenbrille, obwohl es nachtfinster ist.

Ich ziehe meine Sonnenbrille aus der Pyjama-Tasche und setze sie ebenfalls auf.

«Was machen Sie von Beruf», frage ich.

«Ich arbeite auf dem Friedhof», sagt er.

«Wie kann ich mir das vorstellen?»

«Abgelaufene Gräber ausräumen, kaputte Steine kitten, Blumen und Gravuren nachschauen, sowas.»

«Macht es Spaß?»

«Geht schon. Es ist, wie soll ich sagen, eine recht zukunftsorientierte Arbeit, man sieht jeden Tag, wo man einmal enden wird. Sie?»

«Ich bin seit gestern Abend arbeitslos.»

«Und, macht es Spaß? Nein, kleiner Scherz, ich weiß, über sowas macht man keine Witze.»

Er lacht und hört kaum wieder auf.

«Da vorn bitte abbiegen», rufe ich.

Er lässt mich raus an einer Kreuzung, den Rest will ich laufen. Über den Feldern hängt warme, schwüle Nässe. Im Ort stehe ich vor den Fenstern eines Lokals. Eine Party. Schweiß auf Stirnen, Flecken auf Hemden, Weinflaschen gehen rum, sie tanzen wie im Bilderbuch an den Händen im Kreis. Zwei knutschen sich über einen Dritten hinweg. Im ersten Stock ist Rohbau; noch, oder schon, oder für immer. Durch die Fensterlöcher pfeift die warme Sommernachtsluft.

Ich gehe in den Hof und ziehe den Schlüssel aus der Tasche. Unter meinen Hausschuhen knirscht der Kies. Ein Dunst von Katzenpisse weht vorbei. Der Boxsack vom Nachbar baumelt im Wind. Kommt noch ein Gewitter? Am Treppenansatz drehe ich den Gashahn auf. Beim Hochsteigen riecht es ordentlich nach Gas, aber das tut es hier überall.

Ich schließe die Tür auf und betrete die Wohnung. Es riecht vertraut. Ich mache eine Tomatendose auf, salze und pfeffere, und löffle sie aus. Ich schenke mir vom Lakritzschnaps ein. Ich setze mich ans Fenster und sehe runter und dann werde ich müde und beziehe das Bett und lege mich hinein.

Die Schwermut sagt: «Ich fühl mich allein und unnütz. Aber irgendwie auch schön.»

Ich nehme ihre Hand. Auf dem Dach tanzen die Katzen, unser Einschlafsound.

Am nächsten Morgen wache ich auf, weil das Handy klingelt. Die Redaktion ist dran und will wissen, wo der Text bleibt. Ich sage, dass ich nicht mehr schreibe.

Sie sagen: «So jung und schon so verdorben.»

Ich brülle in den Hörer: «Ja und Sie? So lebendig und schon so tot! Jeden Tag ins Büro!»

Dann lege ich auf. Ziehe meinen Schlafanzug aus, schüttle ihn auf, gehe duschen, kämme mein Haar. Ziehe eins von Juris Hemden aus der Schublade an und eine alte Hose. Gehe runter ins Café, in dem laut Musik dudelt und vier Fernseher alle Fußball zeigen. Alte Tanten und ein paar junge Typen sitzen an den Tischen und reden über Essen, ich höre dauernd Gemüse- und Käsesorten- und andere Lebensmittelvokabeln.

Oggi: Cidre di Francia, brut!!!!!! steht auf einem Schild.

Nehme ich, sage ich. Er kommt in einer kleinen Flasche, dazu ein Weinglas mit Eiswürfeln.

Als ich angenehm ein bisschen betrunken bin, denke ich, wie schön es ist, nicht zu schreiben. Man kann sich alles anschauen und das Gesehene sodann vorbeiziehen lassen. Schwinde, Leben! Schwinde hinfort! Erzählen ist ja sowieso Lügen. Was wird schon der Wirklichkeit gerecht? Man würde überhaupt nichts verstehen, wenn man versuchte, in ganzer Gleichzeitigkeit zu erzählen. Das echte Leben erzählt nur das Leben selbst, alle anderen sind verzweifelte Trittbrettfahrer, die über Sechzehntausendstelwahrheiten nicht hinauskommen.

Die Schwermut glotzt mich an. Sie hat wieder diesen verklärten, leicht debilen Glanz in den Augen. War sie es, die gerade gesprochen hat? In meiner Sonnenbrille auf dem Tisch spiegeln sich die Deckenventilatoren, in jedem Glas einer, wie zwei durchdrehende Augen.

Ich lasse mir immer mehr Cidre kommen.

«Weißt du, was eigentlich der Trick ist?», sage ich zur Schwermut. «Man muss sich einfach immer nur vorstellen, man wär gestern gestorben. Dann wärs ein wahnsinnslustiges Abenteuer, trotz Totsein noch so auf Erden rumzuhängen. So müsste man es machen. Immer, wenn es unangenehm wird, denken: Wenn ich tot wär, wär gar nix.»

«Schlürf», macht die Schwermut.

Dann fällt mir ein Mann am Tisch nebenan auf, der Dinge in ein Büchlein notiert. Ich pirsche mich an.

«Was notieren Sie denn so?»

«Was mir eben einfällt.«

«Darf ich es lesen?“

Er schaut mich irritiert an.

«Was sind Sie denn für eine?»

«Eine arbeitslose Autorin. Trinken Sie einen Cidre mit mir.»
«Ich trinke nicht, ich notiere nur.»

Ich schnappe mir sein Notizbuch. Ich lese: «Die Frage ist ja: Was reicht einem? Wo will man hin im Leben? Konnte ich noch nie beantworten. Höchstens mit: Gern mal nach Amerika.»

Empört reißt er mir das Buch wieder weg.

«Spinnen Sie?»

«Ja, aber mir geht es doch genauso!», rufe ich ihm ins Gesicht. «Ich versteh Sie! Ich versteh Sie!»

«Ich brauche niemanden, der mich versteht», grunzt er und dreht sich ab.

Jetzt reicht es mir. Ich zahle den Cidre und gehe den Berg um zwei Kurven hinunter zum Hafen und miete ein Motorboot. Der Bootsvermieter ist in Ganzkörper-Camouflage gekleidet und auf seiner Tasche sind lauter Marihuana-Blätter gedruckt. Er hat so kleine Augen, dass er gar nicht merkt, dass ich betrunken bin. Ich steige ins Boot, schiebe den Hebel auf Vollgas und rase über den See.

Der Schwermut wird das Haar nach hinten geblasen.

Sie hat sich ganz vorn auf die Bootsspitze gesetzt und dreht sich zu mir um. Wo hat sie den Drink her, mit der kleinen Zitronenscheibe dran und woher die kleine Sonnenbrille, die sie auf der Nase trägt?

«Siehst du», ruft sie, «Was anderes wollte ich doch gar nie! Ich liebe unser Leben!»

Sie lacht wie irr. So glücklich habe ich sie noch nicht gesehen.

Ich sage ihr lieber nicht, dass wir das Boot nur gemietet haben.

«Whatever blows your hair back», rufe ich gegen den Wind und winke gönnerisch hinterm Steuer hervor.

Kurz überlege ich, mal eine Kurve zu fahren, aber dann lasse ich es. Der See ist so groß, dass uns sowieso niemand in die Quere kommt.

Mercedes Lauenstein ist Autorin und Journalistin. www.mercedeslauenstein.de

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