«Nichts verpassen» lautet seit 2008 der Werbeclaim der Tageszeitungen der Tamedia tagesanzeiger.ch, bernerzeitung.ch und bazonline.ch. Der Claim, entworfen von der Zürcher Agentur Spillmann/Felser/Leo Burnett, liegt gut in der Zeit, entspricht er doch einem zunehmend verbrei­teten Verhalten in der Nutzung von digitalen Medien. Aktualität ist ein klassischer Nachrichtenwert, auch für die elektro­nischen Nachrichtenportale. Doch noch nie zuvor liess sich Aktualität für den Leser sekundenschnell herstellen, nur damit sie wenige Minuten später bereits wieder ver­flogen sein kann.
Nicht nur klassische Nachrichtenredaktionen bedienen dieses Bedürfnis nach Aktualität; der permanente Reload, der nächste Klick beherrscht auch die Sozialen Medien. Auf Facebook werden täglich 300 Millionen neue Foto­gra­fien hochgeladen. Sie bilden die Grundlage für die immerwährende kleine Abwechslung. Nächstes Foto. Klick. Das Zusammenspiel von informativen und nicht informativen Inhalten führt dazu, dass man immer mal wieder nachsehen möchte, ob man nicht gerade etwas Wichtiges verpasst.
Das dabei zutage tretende Verhalten ist demjenigen von zwanghaft Spielsüchtigen nicht unähnlich. Oft ist es diesen rational bewusst, dass sie nichts gewinnen werden. Der «Flow» den sie in der Maschinen-Zone erle­­ben, lässt dies jedoch als nebensächlich erscheinen. Dabei wird das Echzeit-Erlebnis immer mehr zum Selbstläufer, auf den nicht mehr nur Nachrichtendienstleister zurückgreifen. Der grösste Schweizer Onlinehändler Digitec Galaxus in­formiert auf seinen Portalen live über die von anderen Kunden bestellten und gelieferten Produkte und verspricht dabei Authentizität, Orientierung, Information und Unterhaltung.

Mit der Möglichkeit nach fortlaufender Aktualisierung steigt auch die Erwartungshaltung an die Produktion von Inhalten. Meldungen über ein Ereignis verbreiten sich in den sozialen Medien rasant; die dadurch erschaffene Nachfrage nach Einordnung wird für journalistische Medien so zum Wettlauf gegen die Zeit. Die Leser verlangen nach rascher Einord­nung und belohnen denjenigen, der sich mit der ersten Push-Meldung anbietet. Für Ereignisse, bei denen die Fakten rasch und umfassend vorliegen, mag das praktikabel sein. Bei anderen Ereignissen wäre ein Zuwarten mit der Ein­ordnung vorzuziehen.

Wir versuchen die Zeit bis zum nächsten Reload zu nutzen und fragen unsere Autoren: Was sind die Hintergründe für diese neuen Verhaltensmuster, wohin führt uns das, wie ent­ziehen wir uns, und inwiefern reiten wir selber auf der Welle der Aktualität mit?

Ivan Sterzinger ist ein ehemaliges Redaktionsmitglied der Fabrikzeitung.

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