Ich habe abgetrieben. So postulierten es 374 Frauen in der legendären stern-Ausgabe vom 6. Juni 1971. Seit diesem politischen Aufbegehren gegen die Kriminalisierung der Abtreibung sind 45 Jahre vergangen. Ich als Frau kann studieren, abstimmen, Geld verdienen, Politikerin werden oder Rockstar und in der Schweiz habe ich auch ein befristetes Recht auf Abtreibung. Dieses Recht war für mich seit jeher selbstverständlich – umso mehr befremdeten mich gewisse Reaktionen von Bekannten und Freunden, die ich für diesen Artikel nach ihrer Meinung zum Thema Abtreibung befragt habe. Immer wieder bin ich aus meiner vermeintlich sachlich-toleranten Welt in eine andere gestolpert, in der Frauen, wenn sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, «gemein» sind. Ich war ernsthaft überzeugt gewesen, dass eine liberale Einstellung in Sachen Abtreibung die Mehrheitsmeinung darstelle. Aber – wer hätte das gedacht? – zumindest in meinem Bekanntenkreis weit gefehlt: «Geht’s noch? Es ist natürlich in jedem Fall falsch, irgendein Kind abzutreiben! Ich meine… Das ist ein Kind! Und sorry, man muss die Konsequenzen seiner Handlungen tragen: Wer zu blöd ist zu verhüten, der wird halt Eltern», meinte eine Mitstudentin von mir. Ähnliche Antworten habe ich nicht selten bekommen. Ein Kind. Ist ein Kind, ist ein Kind, ist ein Kind… Was bedeutet das? Gemäss der Fristenregelung in der Schweiz, bei der bis zur 12.Schwangerschaftswoche abgetrieben werden darf, ist das Kind in diesem Stadium keine Person im eigentlichen Sinne. Ausserdem ist das Argumentieren in ethisch-moralischen Diskussionen mit vermeintlich selbst-begründenden Sätzen etwa so aussagekräftig, wie tautologischen Sätzen die Möglichkeit zur Erkenntnis zu unterstellen. A ist A, und jetzt? Das behindert eine konstruktive Diskussion. Dabei sind Tautologien wenigstens eindeutig. «Das ist ein Kind!», ist eine bedeutungsschwangere Aussage ohne Explikation. In einer sachlich zu führenden Debatte sind derart schwache Argumente fehl am Platz. Was genau ist damit gemeint? Die Mehrdeutigkeit stellt eine ungleiche Diskursbeteiligung dar und ist in diesem Fall von einem unterschwelligen Vorwurf begleitet. Die Fragen um das Recht auf Abtreibung oder deren Unrecht lösen sich nicht auf, sondern verschwimmen hinter quasi-mystischen Worten, die eine alttestamentarische Bedrohlichkeit ausstrahlen.

Was ich da schreibe, betrifft zwar eine Formalität der Argumentation, scheint mir aber eine allzu beliebte Sackgasse. Schwieriger ist die inhaltliche Auseinandersetzung. Vor allem mit Positionen, die implizit eine essentiell liebende Verbindung zwischen Mutter und Kind unterstellen. «Ich würde jedes Kind austragen, schliesslich ist es mein Kind und ich bin seine liebende Mutter.» Schön, wenn eine Freundin von mir sich als milchsäugenden Quell der Liebe in Symbiose mit Kind ansieht, aber ebenso unheimlich, zumindest für mich. Zumal ich einige Mütter kenne, deren Erfahrung dieser Ansicht widersprechen. Eine Mutter erzählte mir neulich, dass sie beim ersten Anblick ihrer Tochter dachte: «Ah… Das ist es also. Nicht gerade hübsch.» Ob das an den Schmerzmitteln, der Erschöpfung oder an was anderem lag, sei dahin gestellt. Aber sie musste sich erst einmal an die neue Rolle und den kleinen Menschen gewöhnen. «Da wächst man hinein», meinte sie, «und dann ist es mega toll!» Die Vorstellung einer Verbindung von Mutter und Kind, die wiederum auf der Vorstellung einer natürlichen Bestimmung der Frau beruht, ist schwer als universell gültig zu begründen. Denn die heutige Rolle der Mutter (und auch die des Vaters) in der Schweiz kann nicht ohne die gesellschaftlichen Bedingungen gedacht werden, mit denen sie zusammengeht: Arbeitsteilung, Kinderkrippen, sozialstaatliche Unterstützung usw. Natur oder Kultur? Schwierig. Vielleicht ist das aber auch gar nicht die richtige Frage – um sie zu beantworten, müsste man an den Anfang der Menschheit und wohl auch deren Ende gelangen und gleichzeitig die Zeit anhalten, damit sich die Evidenz der Befunde durch neue Perspektiven nicht verändert.

In Zeitungsartikeln, im Internet und in Gesprächen bin ich folgendem Standpunkt oft begegnet: Nach Möglichkeit ist alles daran zu setzen, dass frau nicht schwanger wird und falls es doch geschehen sollte, könnte eine Abtreibung in Betracht gezogen werden, aber frau und mann sollten sich das selbstverständlich sehr, sehr gut überlegen. Verantwortung, vor allem: Selbstverantwortung. Nicht, dass ich das für falsch halte. Wohl als Stimme der Vernunft gedacht, ist es jedoch eine Aussage, die eben nicht nur Mahnung, sondern implizit auch soziale Schranke sein soll. Aber ist es wirklich notwendig, eine Abtreibung immer als ein soziales, moralisches und politisches Prekariat darzustellen? Ich kenne ein paar Frauen, die aus freien Stücken abgetrieben und für sich damit später keine Probleme hatten. Trotzdem haben sie Angst, frei darüber zu sprechen, wohl aus Furcht vor Ablehnung und Verurteilung. Bei allen mir bekannten Frauen mit Abtreibungserfahrung – es sind vielleicht fünf oder sechs – begann das Gespräch immer als verhalten gerauntes Geständnis. Etwa so, wie wenn man zugibt, gerade schwarzgefahren zu sein oder Gras bei sich zu haben. Wieso scheint es, trotz der Rechtslage und den vielfältigen ethischen Argumentationsmöglichkeiten für eine Abtreibung, noch immer nicht möglich zu sein, den Frauen diese Möglichkeit ohne jede Einflussnahme zuzugestehen? Es geht ja nicht darum, den Schwangerschaftsabbruch als gängige Verhütungsmethode zu etablieren, wie in unreflektierten Kreisen tatsächlich oft geschrien wird. Interessant ist auch, dass die Legalität trotz allem an die Auflage eines Beratungsgesprächs mit einer Frauenärztin gebunden ist, bei dem frau von der behandelnden Ärztin mit kantonalen und anderen Informationsbroschüren eingedeckt wird und eine Erklärung zur Freiwilligkeit der Entscheidung unterschreiben muss. In solch einem Gespräch wird frau nicht nur über den medizinischen Eingriff informiert, es dient auch zur Entscheidungsfindung. Dass von professioneller Seite her Beratung geholt werden kann, ist sicher eine gute Sache. Dass es aber als gesetzlich verordnete Auflage geschieht, ist insofern spannend, als dass die oben beschriebene soziale Schranke offensichtlich Eingang ins Recht gefunden hat. Man stelle sich einmal als Gedankenspiel ein staatliches Verbot vor: Welche Auswirkungen könnten antizipiert werden? Es gäbe trotzdem Frauen, die schwanger würden und sich gegen das Kind entschieden. Die müssten dann Abtreibungsurlaube ins nahe gelegene Ausland veranstalten. Womöglich gäbe es auch illegale Abtreibungen im Inland (nicht einmal Herumgestochere mit Stricknadeln oder Ähnlichem, soweit muss man ja nicht gehen). Die soziale Isolation würde durch die Strafbarkeit schlimmer, ebenso die Tabuisierung. Durch das Verbot gäbe es wieder Opfer und TäterInnen, die teilweise zu einer Person verschmelzen würden. Rhetorische Frage: Wollen wir das wirklich?

Es gibt keine halben Kinder und keine aufgeschobenen.

Ich wollte unbedingt wissen, was meine Mit-Philosophen in spe dazu denken, da die eher dazu neigen, abzuwägen, und vorsichtiger sind, Argumente vorzubringen. Ich fragte meinen Mitstudenten Lars, der aber nur meinte: «Weisst du was? Zufällig habe ich mir gerade neulich ein Totschlagargument ausgedacht: Wer gegen Abtreibung ist, müsste auch gegen das Töten von Tieren sein!»

Ein Psychotherapeut gab einmal in der «Zeit» zu bedenken, dass die reine Rationalisierung der Abtreibungsfrage einer Bagatellisierung der Sache nahe komme und so eine Entmenschlichung stattfinden würde. Schon wieder so ein schlagendes Wort: Entmenschlichung. Was meint er wohl damit? Vielleicht die soziale Abnabelung von der kollektiven Verantwortung, eine Ausserachtlassung jeglicher emotionaler Bedeutung? Einen fortschreitenden Egoismus? Oder ist dieser Psychotherapeut gar ein Speziesist, für den nur das Leben von Menschen zählt? Was er auch immer gedacht haben mag, in jedem Fall möchten auffällig viele Stimmen davor bewahren, die Abtreibung als eine leichte Entscheidung zu sehen. Aber wieso darf es unter keinen Umständen eine leichte Entscheidung sein (bei gleichzeitiger rechtlicher Legalität und Möglichkeiten einer positiven Argumentation)? Diese Frage quält mich.

Auffällig in Gesprächen mit anderen Philosophiestudenten ist für mich der Umstand, dass genau wie der Psychotherapeut erwähnt hat, oft eine Rationalisierung unter weitgehendem Ausschluss der psychologischen, sozialen und sozialpolitischen Aspekte stattfindet. Es ist ja nicht so, dass das Sein (die aktuelle Situation) dem Sollen (den Handlungsmaximen, die zu finden sind) überhaupt keine Anhaltspunkte, Parameter und Einwände liefern könnte – siehe obiges Gedankenspiel mit dem Verbot. Wir müssen Gegebenes interpretieren; bei aller Triftigkeit einer Position kommen wir trotzdem nicht immer darum herum, uns zu entscheiden, und schliesslich müssen wir Interpretiertes und Entschiedenes auch immer wieder reflektieren. Worauf können wir uns denn sonst noch stützen, ausser auf Intersubjektivität? Klar: Logik. Stringenz, Kohärenz, allgemeine Verständlichkeit, die wir als Eckpfeiler in der Argumentation für einen moralphilosophischen Standpunkt beachten müssen. Nichtsdestotrotz erscheint es manchmal irritierend unterkühlt, wenn im philosophischen Diskurs «Menschliches», wie der Psychotherapeut befürchtet, oft weitgehend ausgespart wird. Emotion und Rationalität widersprechen sich nicht per se.

Apropos Menschlichkeit: Da wäre noch das beliebte Schlagwort «Selbstbestimmungsrecht (der Frau)». Einige, mit denen ich sprach, hatten vor allem die körperliche Integrität der Frau im Sinne und sprachen sich für ein Entscheidungsrecht ihrerseits aus. Ja, mein Bauch gehört mir. Und seinerseits? Was ist, wenn die Frau das Kind möchte und der Mann nicht? Er würde dann Vater wider Willen. Und auch, wenn er sich nicht um das Kind kümmern würde und müsste, er wäre dennoch Vater und das Kind im schlimmsten Fall in unangenehmer Weise vaterlos. Hat die Frau also nicht auch eine Verantwortung gegenüber dem Kind und der psychischen Integrität des Vaters? Diesem Gedankengang folgend ständen sich ja die Integrität der Frau die des Mannes gegenüber. «Aber stell‘ dir nur einmal vor, du wärst abgetrieben worden! Wäre das nicht traurig?», sagte ein Freund von mir einmal. Wohl eine Fangfrage. Wenn es mich nicht gäbe, könnte ich auch nicht traurig darüber sein (oder glücklich). Das Zwingende hierbei ist aber: Es ist immer ein Entweder-Oder. Es gibt keine halben Kinder und keine aufgeschobenen. Und in diesem Sinne muss man sich den Konsequenzen der Entscheidung, wie auch immer sie ausfällt, stellen. Vor dieser Freiheit, vor der mystischen Bedeutungslosigkeit graut vielleicht vielen. Denn es zeigt, dass unser Umgang miteinander allein bei uns liegt. Menschliches, Allzumenschliches.

Was ich sagen will: Frauen treiben ab und mittlerweile dürfen sie es auch. Und das ist gut so.

Farah Grütter ist Studentin der Philosophie und der Soziologie an der Universität Basel.

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