…es in der Schweiz noch heute Gemeinden ohne Frauenstimmrecht gäbe?

…2015 in Salzburg alle Flüchtenden im Zug sitzengeblieben und erst am Hauptbahnhof in Zürich ausgestiegen wären

…die Neanderthaler damals nicht ausgestorben wären und heute noch unter uns leben würden?

…deine beste Freundin eine Künstliche Intelligenz wäre?

Was passiert, wenn wir in unserer Imagination ein Detail in der Vergangenheit verändern, sodass der Lauf der Geschichte in unbekannte Bahnen umgeleitet wird? Während kontrafaktische Gedankenexperimente in den Geschichtswissenschaften umstritten sind, ist das Genre in der Literatur sehr beliebt – abgesehen davon, dass die «Was wäre wenn»-Frage in gewisser Weise die Praxis von literarischer Fiktion bedingt. So lässt Christian Kracht in seinem Roman «Ich werde hier sein im Sonnenschein wie im Schatten» Lenin einen Zug verpassen, sodass die Sowjet Republik eine Schweizerische wird. Das Gedankenspiel funktioniert aber nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft. Karen Duves Roman «Macht» geht zum Beispiel von der Frage aus: Was wäre, wenn im Angesicht der ökologischen Apokalypse, die Männer an der Macht diese komplett an die Frauen abgeben würden?

In der kontrafaktischen Geschichtswissenschaft wie in solcher Literatur sind auch Fragen zum 2. Weltkrieg besonders beliebt: Was, wenn Hitler beim Stauffenberg-Attentat umgekommen wäre? Während Romanautoren bei der Beantwortung dieser Frage ihrer Fantasie freien Lauf lassen können, kommen Historikerinnen eher zum Schluss, dass die Macht einzelner «grosser Männer» in der Geschichte überbewertet ist und sich wohl gar nicht so viel verändert hätte. Der britische Historiker Richard J. Evans äussert in seinem Buch «Veränderte Vergangenheiten» ausserdem die Warnung, vorsichtig zu sein mit kontrafaktischer Geschichte, denn «jedes kontrafaktische Szenario ist an eine bestimmte historische Interpretation gebunden.» Aber auch die offizielle Geschichtsschreibung, wie wir sie kennen, ist mitnichten so objektiv und allgemeingültig wie oft behauptet wird – auf Wikipedia zum Beispiel sind über 85 Prozent aller Beiträge von Männern geschrieben und editiert worden.

In dieser Ausgabe widmen wir uns Imaginären Geschichten und Alternativen Realitäten. Wir denken nach über veränderte Vergangenheiten: Welche Rolle spielen sie für die Literatur und wie beinflussen sie unsere Wahrnehmung der heutigen, real existierenden Gesellschaft?

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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