Verwirrende Zeiten: Die Plakatwände sind vollgepflastert mit vorgekauten Meinungen, Sabbergesichtern und dem ganz alltäglichen Hass, die Profilierer grinsen um dich Wette, mit Sicherheit, Steuererleichterungen und Freiheit, was auch immer die ganze Scheisse heissen soll. Aber irgendetwas ist anders. Die Luft ist draussen. Sogar Cedric Wermuth schreibt schon in der Weltwoche, wie sehr ihm der Wahlkampf auf den Sack geht. Und wir fragen uns: Wo ist die Wut geblieben?

Auf den Podien diskutieren die Wölfe harmonischer als eine Schafherde an einer Mediation für anthroposophische Kindergärtnerinnen. Alle nicken im Takt, als hätten sie einen U2-Wurm im Ohr und sind sich alle so einig. Jajaja, alles ganz schlimm, das alles. Da muss man unbedingt was tun. Ihre Hände halten sie wie sightseende Senioren auf dem Rücken verschränkt, damit wir  nicht sehen, wie sie die Finger gekreuzt halten. Damit wir nicht merken: Diese Penner haben keine Lösungen. Sie haben keine Ideen. Sie haben nicht mal einen Plan. Alles was sie haben, ist ein Stossgebet an jenen mitleidigen Gott, der auf seiner Modelleisenbahn dort oben die Flüchtlingsströme gerade nochmal an uns vorbei gelenkt  hat.

Und vielleicht sollten wir wirklich dankbar sein. Dankbar, dass uns die menschlichen Abgründe nicht im Spiegel, sondern nur auf Youtube und in den Talkshows vorgeführt werden. Die Flüchtlingsheime und Turnhallen brennen woanders. Die Polizei schiesst woanders mit Gummischrot und die Stacheldrahtzäune zerschneiden woanders die Finger, die sich verzweifelt nach Hilfe strecken. Die einzigen Dompteure, die bei uns mit Brot um sich werfen, arbeiten im Zürcher Zoo oder stehen am Ententeich.

Die Abschotter und Geldseckel hoffen, dass wir vor Menschlichkeit die Wahlen vergessen. Am 18. Oktober ist Zahltag.

Und tatsächlich scheint irgendwo ein Wind gedreht zu haben. Wir haben ein Herz gefunden. In den Kleinstädten werden Kleider gesammelt, Fussballturniere organisiert und in den Ämtern läuten die Telefone Sturm mit Menschen, die gerne ihre Garage, ihren Estrich, ihre Sozialwohnung zur Verfügung stellen würden, wenn man sie denn nur lässt. Heute kaufen wir uns keinen Hamster, heute beherbergen wir eine Syrerfamilie.

Versteht mich nicht falsch. Ich würde gerne glauben, dass wir plötzlich alle unsere Herzen wieder entdeckt haben. Ich würde gerne glauben, dass wir als Gesellschaft endlich anerkannt haben, dass es keine Wirtschaftsflüchtlinge gibt. Dass wir endlich erkennen, dass es den Zaun nicht gibt, der Millionen von Menschen aufhalten kann. Dass wir die Schuld daran mittragen, dass Afrika ausgeblutet und ausgeraubt wurde. Dass wir noch nie Teil der Lösung waren, sondern immer der Mitläufer im Schatten der Kriegstreiber, der das Geld verleiht, mit dem die Waffen gekauft werden und sobald das Artilleriefeuer losgeht, «an die Menschlichkeit der Wölfe appelliert, sich ihnen nützlich zu machen versucht und die Nachtapotheke des Roten Kreuzes unterhält», wie dies Dürrenmatt 1969 formulierte.

Ich würde all das gerne glauben. Doch ich glaube es nicht. Während sich diese Generation zum ersten Mal an Menschlichkeit versucht, rotten sich die anderen zusammen und hocken aufs Maul. Die Abschotter. Die Geldseckel. Die modernen Sklavenhalter. Die Kulturbewahrer. Und hoffen darauf, dass wir vor lauter Menschlichkeit die Wahlen vergessen. Am 18. Oktober ist Zahltag.

Etrit Hasler ist Slampoet, Journalist und SP-Kantonsrat. Für die Fabrikzeitung kommentiert er regelmässig das aktuelle politische Geschehen.

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