Ein Scheissjahr geht zu Ende! Titelt Spex im Dezember 2014. Vier Jahre später endet ein weiteres Scheissjahr. Spex, Groove und Intro sind am Ende. Die Auswirkungen auf Radio im Allgmeinen, Pop im Radio und Popradio im Speziellen dürften katastrophal werden. Hunderte von Autor_innen, die bei Spex, Groove und Intro schlechtes Geld verdient haben, werden nun versuchen, beim Radio etwas weniger schlechtes Geld zu verdienen. Da droht Lohndumping. Ja, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden zwar fixe Honorare gezahlt. Aber: Das Überangebot an jobsuchenden Autor_innen wird dazu führen, dass diese für ein fixes Honorar mehr Leistungen erbringen. (Selbst)Ausbeutung gibt es im Radio nicht erst seit dem Niedergang der Print-Magazine. Das Programm wird mehr und mehr von sogenannten freien Mitarbeiter_innen konzipiert, geplant und produziert. Feste Stellen werden sukzessive abgebaut; «Freie» übernehmen Tages-, Wochen- oder Monatsschichten, dafür müssen sie so frei sein, tage-, wochen- oder monats­weise ihre Arbeitskraft zu verkaufen, auf Neoliberal heisst das: flexibel. Sogenannte Freie betrauen andere, noch Freiere – hier greift der feine Unterschied zwischen sogenannten Festen Freien und den noch recht- und privilegienloseren Freien Freien – mit Programmarbeit. Sie erteilen Aufträge für Beiträge und Sendungen. Diese werden von den Freien Freien oftmals frei produziert, das heisst: ausserhalb der öffentlich-rechtlichen Häuser mit ihren Studios und Archiven. Die Arbeit am Programm wird nach und nach outgesourct, Freie müssen sich freimachen von den Institutionen, für die sie arbeiten. Sie müssen sich Equipment anschaffen, mit dem sie ihre Beiträge und Sendungen autonom produzieren können, denn die Studios der Rundfunkanstalten können sie nicht mehr so ausgiebig nutzen, wie es für ihre Arbeit nötig wäre. Studios sind teuer, sie erfordern Personal, das eingespart wird. Während also die Freien in den Status der Ich-AG genötigt werden, sind festangestellte Redakteure immer mehr mit Controlling-Aufgaben beschäftigt. Wenn das Musikprogramm einer Pop-Welle vom Computer gestaltet wird – egal ob die Zielgruppe «Jugend» heisst, oder «Middle Age» oder «Silver Surfer» – werden festangestellte Musik­redakteure tendenziell überflüssig. Stellen werden vernichtet, und wo das aufgrund noch nicht de­regulierter Strukturen nicht möglich ist, werden, wie der amerikanische Ethnologe David Graeber in seinem neuen Buch beschreibt, Bullshitjobs etabliert: Administration, Controlling, Technokratie, Bürokratie. Das hat zur Folge, dass festangestellte Bullshit-Jobber alles, was mit Kreativität zu tun hat, argwöhnisch beäugen. Kreative Fantasie, Einfallsreichtum, unkonventionelle Ideen – all das gerät unter Verdacht. Zuviel davon könnte Kontrollverlust bedeuten. Diesem Kontrollverlust wird vorgebeugt mit rigiden Formatvorgaben für Bei­träge und Sendungen: Zeitvorgaben, Verhältnis Wort-Musik, Sprachduktus, Tonalität, Klangfarben, Planbarkeit, Vorhersehbarkeit…

Die Konsequenzen der Verbullshittung von Radio beschreibt Frank Witzel in der vorletzten jemals erschienen Ausgabe von SPEX: «Es folgt ein Radiofeature über eine der wenigen Komponistinnen für Filmmusik. Ein langer Beitrag, der das Thema von allen Seiten ausleuchtet. Radio hat ja den Vor­teil, dass man Musik zu Gehör bringen kann. Allerdings kommt in diesem Beitrag keine Musik von besagter Filmkomponistin vor, weil die Musik von einer Musikredaktion ausgewählt wird, während die Beiträge von einer Beitragsredaktion gemacht werden. Das ist inzwischen so üblich, weshalb sich in längeren Talkformaten unzusammenhängender Mainstream-Muzak zwischen die Worthäppchen keilt, egal ob die Eingeladenen gerade von Gräueltaten aus Kriegsgebieten erzählen oder ein schwieriges Kapitel der eigenen Biografie behandeln. So bildet sich die Arbeits­teilung nicht nur im Produkt ab, sondern vermittelt sich weiter an die Zuhörenden, die auf ein Konsumverhalten konditioniert werden, das alles unverbunden wahrnimmt und Widersprüchen hilflos gegenübersteht. Musik wird zur Aufforderung, einfach abzuschalten – was ich in der Regel auch tue.» Frank Witzel schaltet ab – im wahrsten Sinn des Wortes. Dabei ist Abschalten ja durchaus erwünscht, bei dieser weit verbreiteten Sorte Radio. Abschalten im Sinne von nicht mehr konzentriert zuhören, sondern auf anderes konzentriert nebenbeihören. Die vornehmste Aufgabe dieser Sorte Radio ist daher nicht die Vermeidung von Ab-
sondern die von sogenannten Ausschaltimpulsen.
Der stärkste Ausschaltimpuls ist: das gesprochene Wort. Deshalb werden beim Popradio beständig die Wortanteile reduziert, dafür wurde ein spezieller Bullshitjob erfunden: die «Entwortung» des Programms. Der Ausschaltimpulsminmierung dient auch die Verpackung von Nachrichtensendungen, die qua Gesetz nicht in Gänze entwortet werden dürfen. Um bei den Nebenbeihörenden die Überforderung durch zu viel Wort abzumildern, werden Nachrichten mit Muzak unterlegt und durch Sound-Trenner rhythmisiert: kurze Klang-Signale, gerne an Explosionen oder Autounfälle gemahnend, unterbrechen den als monoton empfundenen Redefluss der Nachrichtensprecher_innen, die
Zeit vergeht schneller. Dafür nehmen die Entwortungsjobber in Kauf, dass Sound-Trenner, die an  Explosionen oder Autounfälle gemahnen, schon mal Meldungen rhythmisieren, die von Explosionen oder Autounfällen erzählen – auch das Makabre hat seinen Reiz. Eine bei sogenannten Jugendradios verbreitete Variante der Nachrichtenrhythmisierung ist der Count-Up: «News One» verkündet eine dominante Männer-Stimme mit viel Hall, dann verliest die eher sonore Nachrichtensprecher_innenstimme die erste News, «News Two» donnert der Mann mit dem Hall, zweite News undsoweiter. So spüren konditionierte Hörer_innen, dass spätestens bei News Four endlich Schluss ist mit unentwortbaren Nachrichten. Erleichtert wird der Newskonsum dadurch, dass spätestens die letzte Nachricht aus dem «Kessel Buntes» kommt: Katy Perry hat einen neuen Mann, Justin Bieber eine neue Frisur.

Beim Formatradio handelt es sich also um ein nach den Regeln der Psychoakustik austariertes Konstrukt, das bis in die letzten Ritzen der Wahr­nehmung reicht. Nochmal Frank Witzel: «Also auch kein Radio mehr. Schade eigentlich. Früher gab es dort interessante Sendungen. Nachts wurde manchmal sogar Neue Musik gespielt oder frei improvisiert. Na gut, das ist eben nicht mehr der Zeitgeist. Aber was ist eigentlich der Zeitgeist? Musik ohne Störfaktoren? Nationalhymne zum Mitsingen? Ja, die Kultur. Die Musik. Was waren das nur für Hoffnungen, die wir einst damit verbunden haben. Als mich der Sender, den ich gerade ausgeschaltet habe, zum Tod von Mark E. Smith interviewte, wurde anschliessend Elton John gespielt. Auch eine Form von Grabgesang.»

Suhlt sich Witzel hier nicht ein bisschen zu ausgiebig im Kulturpessimismus? Er könnte doch erstens froh sein, dass eine Redaktion überhaupt auf die Idee kam, etwas zum Tod von Mark E. Smith zu machen, dass sie Mark E. Smith überhaupt kannte und ihn nicht für den Sänger von The Smiths hielt (hier fällt mir eine Kollegin ein, die nach dem Ableben von Klaus Barbie fragte: Ist das der Erfinder der Barbie-Puppe?). Zweitens könnte Witzel froh sein, dass eine Redaktion auf die Idee kam, ausgerechnet mit ihm, dem Schriftsteller, über den Tod von Mark E. Smith zu reden. Aber nein, Witzels Zorn ist gerecht, es ist ein Grab­gesang. Elton John dient hier dazu, das Vorangegangene auszuradieren: Ein Gespräch über Mark E. Smith, The Fall, Misanthropie, die englische Arbeiterklasse, den Brexit und was es da noch zu besprechen gäbe, diese fünf, sechs Minuten Sinnproduktion müssen annulliert werden, um das Publikum aus einer Phase des konzentrierten Zuhörens wieder hinüber zu geleiten in den Standardmodus des unkonzentrierten Nebenbeihörens. Dabei hilft die erwähnte Trennung von Beitrags­redaktion und Musikredaktion. Die Beitragsredaktion kennt und schätzt mutmasslich sowohl The Fall als auch Frank Witzel und ist klug genug, eine Verbindung zwischen beiden zu knüpfen. Die Musikredaktion hat zu The Fall und Frank Witzel allenfalls eine Privatmeinung, die ihre Arbeit nicht tangieren darf. Die Musikredaktion besteht aus Formatknechten, die dafür zu sorgen haben, dass zwischen möglicherweise anstrengenden Beiträgen möglichst unanstrengende Musik läuft, hier im Format Adult Pop, Elton John eben. Wobei, nichts gegen Elton John, schon gar nicht gegen den frühen, aber Frank Witzel ist nicht der einzige, der den Versuch einer Musikredaktion, Hörer_innen, die sich für die Wonderful and frightening world of The Fall interessieren, mit einer Welt zu versöhnen, in der Elton John für Harmonie sorgt, wo Harmonie auf Lügen basiert, für obszön hält.

Formatknechte und Entwortungskommissare dürften solche Gedanken abtun als eitle Krittelei eines Literaten, der seine Sensibilität zur Schau stellt. Eine gewisse Eitelkeit glauben diese Leute schon im Titel von Witzels Radio-Show bei ByteFM zu erkennen: «Me, Myself & Why». De La Soul? Nie gehört. Von Justus Köhncke stammt der Song «Was ist Musik», den ich mir als Titel meiner Sendung bei ByteFM geborgt habe, auch da lauert eine gewisse Selbstanmassung. Wer bist du, mir zu erklären, was Musik ist? «Was ist Musik» läuft seit seit 2008, dem Sendestart, beim Internetradio ByteFM. Anfangs war die Sendung drei Stunden lang, von 2010 an zwei Stunden, 2014 habe ich sie auf eine Stunde gekürzt. Die Gründe: Wie alle Autoren-Sendungen bei ByteFM wird «Was ist Musik» nicht honoriert. Zwei Stunden Senden ohne inhaltliche Vorgaben, das ist ein Privileg, das es in dieser Form im öffentlich-rechtlichen Radio kaum noch gibt. Zwei Stunden interessant zu gestalten, das erfordert Zeit und Arbeit, für die es kein Geld gibt. Die Möglichkeiten, im deutsch­sprachigen Radio mit popkulturellen Themen Geld zu verdienen, haben sich mit den Jahren kontinuierlich verschlechtert. Im digitalen Kapitalismus findet immer mehr qualifizierte Popkulturarbeit im Internet statt – für immer weniger Geld. 2009 hat ByteFM den Grimme Online Award bekommen. In der Begründung erinnert die Jury an alte Zeiten: «…bevor der kommerzielle Umbruch der Radiosender den geschmacksbildenden Radio-DJ durch den chartgesteuerten Computer ersetzte. Dass erst ein neues Medium genau das auferstehen lässt, was viele mit Wehmut an die früher vor dem alten Medium verbrachten Stunden zurückdenken lässt, mag Ironie des Schicksals sein. Doch ist ByteFM kein verklärter Blick in die Vergangenheit, sondern eine von Musikliebhabern für Musik­liebhaber gestaltete Plattform…»

Die possierlichen «Musikliebhaber» sind zum grossen Teil Musikjournalist_innen mit viel Erfahrung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Deren qualifizierte popkulturelle Arbeit ist im Zuge des drei Jahrzehnte andauernden «kommerziellen Umbruchs» immer weniger gefragt. Mit dem Sieg­eszug des kommerziellen Privatradios, der übrigens mit dem Fall der Berliner Mauer zusammenfällt, hat sich der öffentlich-rechtliche Rund­-funk in Deut­schland von der Popkritik weitgehend verabschiedet – ruhmreiche Ausnahmen bestätigen die Regel.

Die Folge: Popkritik-Profis reamateurisieren sich zwangsfreiwillig und senden unter Praktikantenbedingungen bei einem Internetradio wie ByteFM. Selbstverwirklichung gegen Selbstausbeutung – die Tauschformel der Prekaritätsökonomie. Was die Grimme-Jury verschweigt: Dass die «Musikliebhaber» sich nicht bloss selbst ausbeuten, sondern dass sie sämtliche Qualitätsstandards unterschreiten müssen, die bei orthodox ausgestatteten öffentlich-rechtlichen Programmen obli­gatorisch sind. Wenn eine Sendung ständig unter Zeit/Geld-Druck entstehen muss, dann drückt das die Qualität und damit die Freude an der Arbeit. Dann bleibt mal eine holprige Moderation drin, die man unter anderen Bedingungen noch einmal aufgenommen hätte, ein schiefer Übergang wird nicht noch mal neu produziert, es fehlt die Zeit, einen Sprechtext auszuformulieren, also redet man redundantes Zeug usw. usf… Die Qualität leidet.Von dem Geld, das bei ByteFM in ein Zwei-Stunden-Magazin fliesst, könnte ein öffentlich-rechtliches Radiofeuilleton keine zwei Minuten senden. Ein Scheissjahr geht zu Ende.

Klaus Walter ist ein Radiomoderator, Journalist und Autor.

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