Kennen Sie das «Magazin Z»? Nein? Macht nichts. Es erscheint achtmal pro Jahr und wird jeweils der Samstagsausgabe der «Neuen Zürcher Zeitung» und der «NZZ am Sonntag» beigelegt. Nach eigenen Angaben richtet sich das Blatt an «eine intelligente und konsumfreudige Leserschaft mit dem Bedürfnis nach hochwertigen Gütern und Dienstleistungen». Die Weihnachtsausgabe vom Dezember 2020 widmet sich «Weihnachten im kleinsten Kreise». Auf Seite 32 der besagten Ausgabe findet man dann unter dem Titel «Lichtblicke» ein verstörendes Bild: Eine Frau, ihre Pose wirkt apathisch. Die Augen sind geschlossen, die Haare fahl und nässlich. Um den Hals trägt sie eine schlangenartige Halskette («Preis auf Anfrage»), die stark an einen zugezogenen Strick erinnert. Das ist aber nicht alles: Sie hat ein blaues Auge – aus Glitzer. «Glitzer braucht kein grosses Publikum», heisst es dazu. «Weihnachten im kleinsten Kreise» fühlt sich schlagartig an wie eine Drohung, wie ein Gefängnis der häuslichen Gewalt. Die Laune wird dann Seite für Seite besser, die Bilder fröhlicher. Als wäre nichts gewesen auf Seite 32. Die stechend tragische Ironie ist wohl tatsächlich – unbeabsichtigt.

Gewalt gegen Mädchen und Frauen ereignet sich tagtäglich in den unterschiedlichsten Kontexten und wird von der WHO als eines der grössten Gesundheitsrisiken für Frauen weltweit eingestuft. Einem Bericht der Weltbank zufolge wird mindestens eine von drei Frauen im Laufe ihres Lebens geschlagen, vergewaltigt oder ist auf andere Weise aufgrund ihres Geschlechts Gewalt ausgesetzt. Die Sensibilität gegenüber diesem ungleichen Machtverhältnis hat sich zwar in den vergangenen Jahren durch Bewegungen wie #MeToo enorm gesteigert, jedoch scheint sich – zumindest bisher – die Realität vieler Betroffener, sowohl der Täter*innen wie der Opfer, nicht ausreichend verändert zu haben.

Häusliche Gewalt geschieht hinter verschlossenen Türen und gilt oftmals als Privatsache.

Wer meint, Gewalt an Frauen sei nur in weit entfernten Teilen der Welt ein Thema, irrt: Jede zweite Woche wird in der Schweiz eine Frau ermordet, und jede Woche kommt es zu einem weiteren Mordversuch an einer Frau. Wird ein solcher Fall überhaupt von den Medien aufgegriffen, betrauert man ihn meistens als tragische Einzeltat oder, je nach Kontext, als «Beziehungsdrama». Das Bewusstsein dafür, dass es sich hierbei um Femizide handelt, scheint in der Schweiz nicht vorhanden zu sein. Neben diesem extremsten Fall der Gewalt an Frauen gibt es aber noch ganz andere Formen und Ausprägungen davon. Neben der physischen und sexuellen existiert auch die psychische Gewalt; diese kann sich durch Drohungen, Erpressungen oder in der totalen Kontrolle über die Finanzen oder die sozialen Kontakte der betroffenen Person äussern. Das eigene Zuhause, so absurd das auch scheinen mag, ist für Frauen auf der ganzen Welt – auch in der Schweiz – der potentiell gefährlichste Ort überhaupt.

Häusliche Gewalt geschieht hinter verschlossenen Türen und gilt oftmals als Privatsache. Opferbefragungen lassen darauf schliessen, dass sich lediglich zwischen 10 und 20 Prozent der Betroffenen an die Polizei wenden. Die Hemmschwelle, eine Anzeige zu erstatten, ist in vielen Fällen hoch, da es sich bei den Täter*innen oft um eine dem Opfer nahestehende Person handelt und starke Gefühle und Ängste im Spiel sind. Zudem wird häusliche Gewalt häufig erst nach jahrelanger Ausübung gemeldet. Die Erfassung von repräsentativen Statistiken ist demnach schwierig und die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein. Rund die Hälfte der im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt durch die Polizei registrierten Straftaten ereignen sich innerhalb einer bestehenden Partnerschaft, bei einem weiteren Viertel um eine ehemalige Partnerschaft. 99 Prozent ebendieser Verbindungen sind heterosexuell, wobei der Frauenanteil der geschädigten Personen bei etwa 80 Prozent liegt. Die Opferhilfestatistik (OHS) gibt ebenfalls Aufschluss und enthält Angaben zur Inanspruchnahme der Opferberatung, wobei diese keine polizeiliche Anzeige erfordert; manche Personen wenden sich aber sowohl an die Polizei wie auch an die Opferberatungsstelle. Neben Geschlecht, Alter und Nationalität wird auch die Beziehung zum Täter oder zur Täterin erfasst. 2019 standen bei knapp 60 Prozent der erfassten Fälle durch die OHS Opfer und mutmassliche Tatperson in einem partnerschaftlichen oder familiären Verhältnis. Neun von zehn der Beschuldigten innerhalb der Familien waren männlich.

Die meisten Fälle von häuslicher Gewalt ereignen sich am Sonntag. Dann, wenn man für längere Zeit zusammen ist.

Bei Partnerschaftsgewalt und Gewalt in der Familie kommt es deutlich seltener zu einem Strafverfahren als bei nicht-häuslicher Gewalt oder bei unbekannten Tatpersonen.  Interessanterweise gibt keine einheitliche Regelung zu polizeilichen Interventionen bei häuslicher Gewalt. Daten dazu werden teilweise in kantonalen Berichten publiziert (daraus ist ersichtlich, dass beispielsweise der Kanton Zürich im Durchschnitt circa 13 Mal täglich wegen häuslicher Gewalt interveniert). Ebenfalls gibt es keine einheitlichen Kriterien und Definitionen für die Datenerfassung zu den Strafverfahren; nicht in jedem Kanton werden sie statistisch als solche erfasst. Zwischen 2007 und 2016 wurde zwar in 92% der registrierten Fälle von häuslicher Gewalt ein Strafverfahren eröffnet; jedoch wurden schätzungsweise 80% davon ohne weitere strafrechtliche Konsequenzen wieder eingestellt.

Die meisten Fälle von häuslicher Gewalt ereignen sich am Sonntag. Dann, wenn man für längere Zeit zusammen ist. Das Risiko ist also während der Coronazeit, in der viele Paare und Familien lange Zeit auf engem Raum zusammen sein müssen, gestiegen. Bereits im ersten Lockdown im März 2020 fürchteten Fachpersonen einen starken Anstieg von häuslicher Gewalt. Was passiert hinter verschlossenen Türen, während fast alle zum Alltag gehörenden öffentlichen Einrichtungen geschlossen sind und der Kontakt zu anderen Personen wegfällt? Obwohl der Bundesrat im Sommer in einer Medienmitteilung entwarnte, die Fälle seien stabil geblieben, widersprechen Sozialarbeiter*innen dieser Einschätzung. Die Anlaufstellen seien trotz der durch die Isolation erhöhten Hürden, Hilfe in Anspruch zu nehmen, während und auch nach dem Lockdown überlastet gewesen.

Anpöbeleien, Anmachen und Beleidigungen durch fremde Männer auf der Strasse scheinen mit Corona wieder zugenommen zu haben.

Frustration, Langeweile und Alkohol. Eine gefährliche Mischung – zuhause, aber auch auf der Strasse.

Trotz beunruhigender Zahlen, Statistiken und Einschätzungen habe ich mich in Zürich bis vor Kurzem nie unsicher gefühlt; bis zum Corona-Lockdown. Als Mädchen lernen wir schon im Kindesalter, dass wir jederzeit und überall physischer Gewalt durch Männer begegnen könnten. Wir werden ermahnt, uns von Fremden zu distanzieren, uns nicht zu aufreizend zu kleiden, nie zu frech, zu laut oder sonst auffällig zu werden, sofern wir uns nicht in einem «sicheren Umfeld» aufhalten. Wir nehmen diese Mahnungen vielleicht mehr oder weniger ernst, aber grundsätzlich lernen wir, mit dieser Gefahr zu leben, sie abzuwehren oder ihr aus dem Weg zu gehen. Dass unsere männlichen Freunde diese Dinge nicht lernen mussten, merken wir vielleicht erst als Erwachsene.

Die in den letzten Jahren gefühlt stark zurückgegangenen Anpöbeleien, Anmachen und Beleidigungen durch fremde Männer auf der Strasse scheinen mit Corona wieder zugenommen zu haben. Nie zuvor wurde ich so oft verfolgt, sehr hartnäckig angemacht oder beleidigt. Die Energie, die weder im Club noch im Sport oder wo auch immer herausgelassen werden kann, scheint sich auf der Strasse – oder eben zuhause – zu entladen. Meiner Erfahrung nach haben viele Frauen und queere Menschen unter sich zwar eigene Sicherheits- oder Warnsysteme errichtet – wie zum Beispiel das Teilen des Standortes mit Freund*innen, bestimmte interne Codes oder Selbstverteidigung – jedoch reichen diese Strategien im Extremfall nicht aus: Frauen und queere Menschen müssen besser geschützt werden! Die Gewalt an ihnen ist keine Privatsache, auch wenn sie sich oft in privaten Räumen ereignet.

Wieso gelingt dies trotz alarmierenden Zahlen und Warnsignalen nicht? Wieso wird nicht häufiger darüber berichtet? Wieso entkommen so viele Täter*innen einem Strafverfahren; und was passiert danach mit den Opfern, die eine Anzeige erstattet haben? Und vor allem: Wie zur Hölle ist es in Anbetracht der momentan besonders prekären Situation und all diesen offenen Fragen möglich, dass ein Magazin, welches die NZZ herausgibt und sich «Substanz des Stils» nennt, unter dem Titel «Weihnachten im kleinsten Kreise» eine Frau mit einem blauen Auge und einem Strick um den Hals zeigt?  Und niemand sagt etwas!

Sind Sie oder jemand, den sie kennen, Opfer von häuslicher Gewalt? Holen Sie Hilfe!

Opferhilfe: 044 299 40 50
BIF (Beratungsstelle für Frauen): 044 278 99 99
Frauenberatung: 044 291 46 46

Leonor Diggelmann hat Geschichte und portugiesische Sprach- und Literaturwissenschaften studiert und macht derzeit einen Master in Zeitgeschichte an der Universität Fribourg. Sie lebt in Zürich und arbeitet seit vielen Jahren in der Gastronomie.

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