Als sie die Tür öffnet, empfängt mich ein fragender Blick aus Augen, die mir früher mit Liebe begegneten. Heute erkennt sie mich nicht. Ich sage: Ich komme zum Putzen. Sie schlägt die Hände zusammen. Stimmt, ich sei ja die, die zum Putzen komme. Sie bleibt unsicher und trotzdem scheint sich etwas in ihr ehrlich zu freuen. Ich lege meine Hand auf ihre Schulter, ein spitzer Knochen, sie weicht mir aus und ich ziehe die Hand wieder zurück.

Sie hat einmal mit dem Prinzen von Schweden getanzt.

Ich beginne im Bad, manchmal schaut sie mir zu, manchmal geht sie in den Zimmern umher, es sind nicht viele, manchmal fragt sie mich, ob ich ihr den Fernseher einschalten könne. Dann schaut sie Beatrice Egli oder Helene Fischer zu, stehend und summt die Lieder mit, deren Melodien sie nicht mehr kennt. Ich beobachte, wie sich das hellblaue Mittel von unter dem Schüsselrand einen Weg in den Abfluss bahnt. Ein Flussdelta.

Ihre Eltern hatten ihr den Namen Rösli gegeben. Sie war die Jüngste, die Überraschung, die keines mehr erwartet hatte, sie war die Prinzessin, das schönste Blümchen. Später änderte sie ihren Namen zu Rosmarie, eine Art Selbstermächtigung. Auch ich bin die Jüngste, die Überraschung, die keines mehr erwartet hatte. Die Prinzessin. Meine Eltern haben mir den Namen Selina gegeben, wegen eines Bündner Kinderbuchs, ihn trage ich noch immer. Sie wurde im August geboren, eine Löwin. Auch das teilen wir. Blaue Augen und so viele Gefühle, dass sie zu oft überlaufen.

Ich stelle mir ihre Arme vor, dünn und aufgeraut. Die Haut aus Backpapier. Ich stelle mir vor, dass ich ihre Hände halte, und dass es ihr gefällt. Obwohl ich nicht mehr wirklich weiss, wie sie aussah, bevor ihr Kopf verwässerte. Wie ihr Blick war. Ich beschliesse: sanft und manchmal trotzig-stolz. Ich stelle mir vor, dass sie den Kopf über diese Aussage schüttelt. Ich weiss, dass sie mich liebte, und ich liebte sie. 

Ich sitze mit ihr auf dem übriggebliebenen Teil der Couch. Es ist nur noch ein Teil, weil die riesige Eckcouch keinen Platz fand in der Alterswohnung. Sie ist plüschig, lila-schwarz-türkis gemustert. Darauf ist es immer ein bisschen zu warm, ich spüre Schweiss auf meiner Oberlippe. Wir schauen Glanz & Gloria, heute geht es unter anderem um Beatrix, die Königin der Niederlande. In einigen Jahren werde sie das Amt ihrem Sohn übergeben. Das mache sie dann wieder zur Prinzessin. Ich wusste nicht, dass das der Weg ist. Prinzessin – Königin – Prinzessin. Ich sage: Rosmarie. Ihr Kopf ist nach hinten gekippt und der Mund steht weit offen. Ich sage nochmals, lauter: Rosmarie. Grossmami.

Der Schlaf hat sie mir gestohlen. Später geht es um Patty Schnyder und ihren Rücktritt. Ich sage: Alle treten sie zurück, diese Königinnen. Sie erwacht und ihre Augen folgen dem Ballwechsel. Ruckartig steht sie auf. Bitte, sagt sie. Bitte, und zeigt auf den Fernseher. Ich stelle den Ton aus, was möchtest du, frage ich. Sie macht eine Bewegung mit den Armen, als würde sie einem Hund befehlen, sich hinzulegen. Bitte, sagt sie eindringlich. Das mache ihr Angst. Ich schalte den Fernseher aus.

Sie steht in der Mitte des Raumes und bleibt noch eine Weile so stehen, weiss vielleicht nicht mehr, warum sie dasteht. Irgendwann fällt ihr Blick auf mich, sie ist überrascht. Selina, sagt sie, ihre Augen leuchten, die Pupillen wie verschwunden. Selina, weisst du, ich habe einmal mit dem Prinzen von Schweden getanzt. 

Sie war lange der einzige Mensch, bei dem ich übernachten konnte, ohne dass ich Heimweh nach meiner Mutter bekam. Wir lagen in den Betten unter der Dachschräge, und sie erfand Geschichten, um mich müde zu machen. Und morgens, egal wie früh ich wach wurde, begrüsste sie mich mit einer riesigen Freude. Die Freude darüber, dass ich da war.

Auf meine Nachfrage bezüglich des Tanzes winkt meine Mutter ab. Nein, das sei anders gewesen. Sie habe mit meinem Grossvater auf einem Ball in Stockholm getanzt und da habe auch der Prinz von Schweden getanzt, oder so etwas. Ich kenne sie ja. Wie sie alles verdrehe und ausschmücke. Meine Mutter verschränkt die Arme, da sind blaue Adern, wie Flussläufe. Ich nicke. Ok, sage ich, bin aber mit der Antwort nicht zufrieden.  

Ich versuche gerade den Staubsauger im überfüllten Wandschrank zu verstauen, als eine Sirene losheult. Rosmarie hastet ans Fenster. Sie kommen mich holen, sagt sie wieder und wieder. Ich stelle mich neben sie und der Krankenwagen fährt tatsächlich in die Einfahrt. Sie knetet ihre Hände, ich mache mir Sorgen, sie könnten zerbrechen. Ich streiche vorsichtig über ihre Schulterblätter, sie weicht nicht aus, ich sage: Die kommen nicht für dich. Die kommen für jemand anderes. Sie schüttelt den Kopf. Ich sage: Die kommen nur, wenn man sie ruft. Sie schaut mich an mit einem Blick, der sagt: Ja, als hättest du eine Ahnung! Sie bläst mir ins Gesicht.

Ich muss sie ablenken, setze Tee auf und hole eine Schachtel Petit Beurre aus meinem Rucksack. Die Schokolade zieht: Sie setzt sich an den Tisch und kaut brav die Kekse. Der Tee wird kalt. Irgendwann legt sie ihre Hand in meine. Sie ist klein und blass, ich streichle ihren Unterarm. Dann sage ich: Schau, und fahre ihre ausgestellten Adern entlang, die wie Flussläufe sind. Blaues Blut, sage ich, und sie kneift die Augen zusammen. Seit das Denken nicht mehr so gut geht, sieht man ihr die Konzentration an. Sie greift zu und in meiner Armbeuge findet sie ebenfalls blaue Linien. Sie sagt: Tinte. Das sei Tinte. Zum Schreiben. Und ich folge ihrem Blick, schaue durch ihre Augen auf meine Adern und denke: Tinte zum Schreiben. 

Ich blättere in ihrem Tagebuch, das meine Mutter vor ein paar Tagen im Keller gefunden hat. Roter Ledereinband, goldene Schnalle. Es beginnt im Jahr 1950 und es liest sich wie ein Kioskroman. Ich verstehe, dass sie ihr Leben schon als Zwanzigjährige der Liebe verschrieben hatte. Sie schreibt: «Ab Heute beginnt bei mir ein neues und hoffentlich schöneres Leben, als was ich bisher erlebte». Es ist wie ein Prolog und führt die Figur meines Grossvaters ein, der ihr dieses schönere Leben ermöglichen würde.

Ich lese von Liebe, Rollenbildern und von Zärtlichkeit, von Gotteszweifeln, Ausflügen und von der Entscheidung, meinem Grossvater nach Schweden zu folgen. Und dann lese ich vom Prinzen von Schweden. Dass sie getanzt hatte auf einem Ball mit zwei englischen Matrosen, die ihr den Hof machten (die sie aber nicht zu sich nach Hause einlud). Und am nächsten Tag, am schwedischen Nationalfeiertag, dem 6. Juni, da sah sie zum ersten Mal die königliche Familie, mitsamt sechsjährigem Prinzen, den sie ach so süss fand. Und das war’s auch schon mit der Prinzengeschichte. Sogar noch unspektakulärer als das, was meine Mutter erzählt hatte.

Während ich an diesem Text sitze, recherchiere ich, woher der Begriff Blaues Blut kommt, und natürlich ist es im Grunde rassistisch. Beim weissen Adel schienen die blauen Adern durch, im Gegensatz zu Menschen mit dunklerer Haut. Oder im Gegensatz zu den Menschen, die der Sonne ausgesetzt waren. Und das diente wiederum als eine Legitimation für ihre Macht. Die Poetizität des Ausdrucks erlischt.

Ausserdem hat Rosmarie das mit der Tinte nie zu mir gesagt. Ich erfinde eine Erinnerung, damit sie besser passt. Damit sie wichtig wirkt. Dabei waren unsere Gespräche in der Alterswohnung nie poetisch. Wir sprachen sowieso nur noch selten. Ich kam, ich putzte, ich ging. Und sie gab mir Geld dafür. Aber diese Erinnerung schreibe ich nicht. 

S. liegt hinter mir auf dem Bett. Draussen wütet ein Gewitter und sie schläft tief. Ich frage mich, ob ich S. so lieben kann, wie Rosmarie Menschen liebte. Und dann frage ich mich, ob dieser Wunsch auch nur erfunden ist. Ich sehe die Tattoos auf S.’ Armen. Tinte, denke ich. 

In diesem Text lege ich mich zu S., halte sie fest, schaue, dass wir uns immer berühren, zumindest an irgendeiner Körperstelle, damit sie es spürt. Spürt, dass ich da bin und sie da ist. Und dass das schon viel ist. Ich möchte ihr sagen: Ich liebe dich, wie ich meine Grossmutter liebte. Und dass das ein Kompliment ist. In Wirklichkeit lasse ich sie schlafen.

Eigentlich ist es das Gleiche wie beim Prinzen von Schweden. Rosmarie erinnerte sich nicht mehr. Also baute sie sich eine neue Erinnerung. Eine Erinnerung, die man als Anekdote erzählen kann. Und dann frage ich mich, ob die Erinnerung im Tagebuch mit den Matrosen überhaupt so stimmte. Und ob meine Tagebucheinträge stimmen. Ob nicht alles Aufschreiben ein Verzieren, Ausbessern, Kaschieren ist. Ich lese Rosmaries Tagebuch nochmals mit dieser Perspektive, versuche eine Wahrheit zu finden, etwas Rohes. Und dann ist alles eine Lüge und alles ist wahr. 

Ich war dabei, als sie starb. Mit meiner Mutter und meiner Tante. Wir standen neben ihrem Bett. Ihr Gesicht war eine Maske, schon lange. Der Kiefer weit aufgerissen, die Haut gelb, die Augen Murmeln und die Atemzüge eine sinnlose Anstrengung. Da war nichts von dieser Friedlichkeit, von der alle sprachen. Es war ein Kampf. Das Herz, ein Muskel, der weiterarbeitete, sich sträubte, während der Mensch schon längst verschwunden war. Und irgendwann das letzte Aufbäumen, der letzte Zug. Meine Mutter brach in Tränen aus und ich hielt sie fest. Starrte auf die Tote.

Bevor die Ärztin kam, machte ich ein Foto von ihr mit meiner sehr schlechten Klapphandykamera. Das Foto taucht manchmal auf, wenn ich mich durch meine Festplatte arbeite. Sofort klicke ich es weg, in der Hoffnung, dass es niemand sieht. 

Es war eine kleine Zeremonie, nur die engste Familie, und davon war nicht mehr viel übrig. Wir standen im Gras in einem Halbkreis, für einen ganzen reichte es nicht, und alle erzählten eine Erinnerung an sie. Ich sagte: Sie hat mit dem Prinzen von Schweden getanzt. Die anderen lächelten wissend. Ich hab sie geliebt, sagte ich. Und sie hat mich geliebt. So oder so ähnlich. 

Aber das Ende geht so: Ich öffne die Tür für uns, sie hält sich an meinem Arm fest. Heute erkennt sie mich. Wir tragen goldene Kronen, es ist kein Dreikönigstag, aber wir sind trotzdem beide fündig geworden in den süssen Brötchen. Möchtest du Prinzessin oder Königin sein? Sie hat mir nicht geantwortet, aber die Krone behielt sie auf. Wir spazieren durchs Dorf, vorbei am Dom und weiter bis in die Ermitage.

Sie trägt ihre Perlenkette und eine weisse Seidenbluse, ganz vornehm sieht sie aus. Beim Weiher, wo die Karpfen schwimmen, stellen wir uns auf den Steg und schauen ins Wasser. Ich lasse auf meinem Handy Musik abspielen. Ich weiss gar nicht, ob ich damals schon ein Smartphone hatte und ob das überhaupt ging, aber das spielt jetzt keine Rolle. Rosmarie singt mit, obwohl sie die Melodie nicht mehr kennt, und ich tue es ihr gleich. Die Sonne lässt unsere Kronen und das Wasser glitzern.

Irgendwann taucht auch der König von Schweden auf, ohne Krone, dafür in Matrosenuniform. Er nickt Rosmarie kurz zu, die Begrüssung zweier, die sich kennen und dann schauen wir alle zusammen auf den Weiher, dazu Helene Fischer in schlechter Qualität und unsere Stimmen, die der Melodie ein bisschen versetzt folgen, ohne den Text zu kennen. 

(Und das wirkliche Ende: Beim Aufräumen finde ich einen Notizzettel unter ihrem Tisch. Es stehen Kleinigkeiten drauf, die Telefonnummer meiner Schwester, paar Essensgerichte und:

«Holiday on ZDF on Iais?
Ein Kind is born to day
Glaube an Gott!»)

Selina Hauswirth ist Herausgeberin und Redaktorin des Narr. Aktuell arbeitet sie an einem Romanprojekt, für das sie 2022 einen Werkbeitrag von Stadt und Kanton Bern erhielt.

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