Die Schweiz hat einen Frisch-Fetisch. «Wo ist der neue Max Frisch?» fragen die Deutschschweizer Medien regelmässig und suchen eifrig nach Kandidat:innen, die Frisch (und natürlich, der zweite alte weisse Mann im Bund, Dürrenmatt) das Wasser reichen könnten. Dass Medien dann laut nach Intellektuellen rufen, wenn die Journalist:innen selbst wenig zu sagen haben, liegt in der Natur der Medien. Kürzlich veröffentlichte das Tagblatt reisserisch das GROSSE RANKING DER 50 WICHTIGSTEN INTELLEKTUELLEN DER SCHWEIZ. Platz 1: Sibylle Berg, 839 Punkte, «fast schon Prototyp einer Intellektuellen», Platz 2: Milo Rau, 772 Punkte, «hoch politisch und brisant», Platz 3 (welche Überraschung): Lukas Bärfuss, 613 Punkte, «Parade-Intellektueller», Platz 4, 596 Punkte (die echte Überraschung): Hazel Brugger. Spätestens ab Platz drei entlarvt sich die Liste selbst als Ausdruck einer groben Verflachung des Kulturjournalismus im Allgemeinen und einer argen Definitionsschwäche im Besondern. Hazel Brugger, Pedro Lenz, Patti Basler, Mario Botta, Sophie Hunger, Stephan Eicher, Jürg Halter, Güzin Kar und Milena Moser in Ehren (und wenn Sie unbedingt wollen auch: Barbara Bleisch, Peach Weber, Peter Stamm, Martin R. Dean und Chris von Rohr) – Die einzig intellektuelle Geste auf dieser (hier unvollständigen, aber repräsentativen) Liste ist: Man langt sich an den Kopf. Und fragt: Was ist eigentlich mit Tamy Glauser und Sven Epiney?
Der «Intellektuellen-Index», so CH-Media, setze sich zusammen aus einer «wissenschaftlichen, quantitativen Datenanalyse im Web und dem Jury-Urteil der Kulturredaktion», womit sich der Intellektuellen-Index selbstredend als methodisch fragwürdig (Quantität vor Qualität) und die Kulturredaktion sich als (sagen wir: wenig) intellektuell entlarvt. Die Begründungen der Redaktion für das Ranking lesen sich denn auch wie die Medienmitteilungen fachfremder Kommunikationsbeauftragter: «zerrt tiefliegende strukturelle Probleme an die Oberfläche», «mischt sich auch in die Schweizer Politik ein», «hat während des Lockdowns im Internet ihre Bühne gefunden», «gern gesehener Gast bei Debatten», «Hoher Web-Index», «teilt auf Facebook prononciert linke Gedanken», «ab und zu protestiert er: etwa gegen die Mäkelei der NZZ gegenüber der Klimajugend.»
Es erstaunt nicht, dass sich manch eine:r über diese Liste enervierte. Zum Beispiel (welche Überraschung) Roger Köppel, der auf Twitter fragte: «Sind die superlinken Sibylle Berg, Milo Rau und Lukas Bärfuss wirklich die führenden Intellektuellen der Schweiz? Wen hättet ihr gewählt? Danke für sachliche und ernst gemeinte Zuschriften.» Wir antworten postwendend: Dich, Roger Köppel, dich haben sie vergessen. Nur widerspricht sich Intellektuell-Sein und Rechts-Sein im Kern. Das wusste selbst Max Frisch.
Gemäss dem Ranking durch CH-Media war es nie einfacher intellektuell zu sein. Wikipedia-Eintrag, hohe Web-Präsenz, Social Media und irgendwie bitz etwas mit Politik. Die gute Nachricht ist: Wir alle können jetzt Intellektuelle werden – alle ausser Roger Köppel.

Anja Nora Schulthess schreibt kulturwissenschaftliche Beiträge, Essays und Lyrik. 2017 erschien ihr lyrisches Debüt «worthülsen luftlettern dreck». Im Sommer 2020 erscheint ihr Sachbuch zu den Untergrundzeitungen der Zürcher Achtziger Bewegung im Limmat Verlag.

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