1.

Bei jedem Aufwachen denke ich, ich hätte am Vorabend besser doch meine Zähne putzen sollen. Ich schaue an die Decke, lausche den Nachbarsschritten, wie sie über meinen Kopf herziehen. Heute bin ich vierzig geworden, über Nacht. Ich denke mir, dass mein Rücken weniger schmerzt als gestern. Ich höre Schritte vor meiner Tür, ein Klopfen, ein Schreien: «Antony!» Meine Grossmutter. Ich wünschte, es wäre eine Ehefrau, die mir beim Aufstehen helfen würde. Das Aufstehen fällt mir immer schwer. Draussen regnet es. Ich hänge den Wandspiegel ab und stelle ihn neben das Fenster, damit ich mich besser sehen kann. Je heller es ist, desto besser wirke ich. Es ist mein Geburtstag und ich sehe ganz gewöhnlich aus. Eine Spinne wandert über den Spiegel, ich folge ihr mit meinem Blick und ertappe meine Augen beim Schielen. Die Grossmutter flucht, die Nachbarn stampfen.

Du siehst ganz schlecht aus, Antony

Sie sitzt vor dem Fernseher, die Gabel sticht einzelne Broccolistücke. Mit vollem Mund schaut sie mich an, schmatzt: «Du siehst ganz schlecht aus, Antony.» Ein bisschen Grün spickt auf meinen braunen Lederschuh. Sie kann sich nicht vorstellen, wie wertvoll meine Schuhe sind. Sie ist widerlich, aber ich sage nichts. Sie ist alt und Alte dürfen es sein. Sie wechselt den Sender, eine Gewinnshow mit Glückszahlen. Heute ist mein Geburtstag. Ich gehe raus.

Ich gehe in den Buchladen gleich um die Ecke. Wortbaum heisst er. Ich kenne den Besitzer, denn immer, wenn ich ihn sehe, sprechen wir darüber, dass wir zusammen ein Bier trinken sollten. Er drückt mir eines der aktuellsten Bücher in die Hand und sagt: Wir sprechen dann darüber. Wir haben es noch nie zum Bier geschafft, aber er hat es vor, sonst würde er es nicht anbieten. Ich glaube zwischen uns könnte sich eine tiefe Freundschaft entwickeln, eine Freundschaft, in der wir über Muttermale sprechen und über all diese Dinge, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind. Er heisst Jakob, das hat er mir gesagt. Heute habe ich meine braune Ledertasche dabei, sie ist leer, denn ich werde gleich zwei Bücher kaufen und mit Jakob ein Bier trinken gehen. Im Buchladen sehe ich ihn vor dem Poesieregal. Ich sage: «Hallo Jakob, heute ist ein besonderer Tag!» Er klopft mir auf die Schultern, mit Kraft, so wie es richtige Freunde tun und ich fahre fort: Ein Bier? Er klopft mir ein weiteres Mal auf die Schulter; der physische Kontakt ist genau das, was ich heute brauche. Er würde sehr gerne mit mir ein Bier trinken, sagt er und hält mir ein Buch entgegen: ‹Niederlage der Meister und Besitzer›. Er habe es selber noch nicht gelesen, aber die Ausgabe sei schön, ob ich sie auch schön fände, fragt er. Ich fahre mit meinem Zeigefinger über die roten Buchstaben, blättere im Buch und ich sage ihm, dass ich es noch schöner fände, mit ihm anzustossen, nach all den Jahren hier in der Gegend. Die Ladentür öffnet sich und eine Frau mit schwarzem Lackhut kommt uns entgegen. Ich möchte, dass sie fernbleibt, dass sie mich und meinen Freund in Ruhe lässt, also klopfe ich Jakob auf die Schulter und bin überrascht: Er ist tatsächlich muskulöser als ich. Die Frau lächelt Jakob trotzdem an und er küsst sie auf den Mund. Einem solchen Szenario zuzuschauen bringt mich immer durcheinander, schaue meine Füsse an und sehe Broccoli. «Bist du bereit?», fragt die Frau Jakob und er sagt ja, verabschiedet sich mit einem Nicken von mir und seinem Angestellten, und sie gehen.

Ich lausche der Klingel beim Schliessen der Tür und kaufe das Buch, das Jakob mir empfohlen hat. Mein Magen knurrt. Heute werde ich mir im Bistrot nebenan das Mittagsmenu leisten.

Eine solche Frau schreit nach Sensibilität

Diese Frau will also nicht, dass sich Jakob mit mir anfreundet. Er wollte bestimmt nicht streiten, sonst hätte er ihr gesagt, dass er bereits mit mir verabredet sei auf ein Bier. Aber unter Freunden verzeiht man sich das. Und tatsächlich, es gibt sensible Gemüter, die eine solche Absage nicht verkraften würden. Eine Frau, die sich unter einem glänzenden Hut versteckt, den auch meine Grossmutter tragen würde, aber in rot, eine solche Frau schreit nach Sensibilität.

Ich bezahle das Buch und bitte den jungen Mann an der Kasse, seinem Chef auszurichten, dass ich es verstehen und morgen nochmals vorbeischauen würde. Der Verkäufer nickt und fragt, ob ich eine Tasche zu den Büchern bräuchte. Ich klopfe auf meine Ledertasche. Er nickt, er hat verstanden. Wenn ich mit der Katze meiner Grossmutter im Wohnzimmer sitze und auf meine Beine klopfe, versteht sie mich nicht. Mit einer Katze könnte ich nicht befreundet sein. Es gibt Menschen, die das können. Wie Monique, die Inhaberin des Bistrots, sie hat sechs Katzen. Früher, wenn ich mittags im Bistrot sass, streichelte sie mich manchmal. Mehr nicht. Sie hat es immer wieder gesagt: Freundschaften sind wertvoll. Also bin ich zu meiner Grossmutter gezogen, um ihr beim Altsein zu helfen. Über Jahre war ich sauer auf Monique, auf diese Entscheidung, die sie ohne mich getroffen hatte. Aber heute glaube ich, es ist gut so. Sie wollte die Freundschaft bewahren. Es ist mein Geburtstag heute und ich brauche einen Freund.

Ich zeige meine Enttäuschung nicht

Es gibt Lauchspeckquiche mit Salat. Ich setzte mich auf die Terrasse an den grossen runden Tisch, für den Fall, dass noch jemand zum Essen kommen möchte. Antizipieren kann ich gut. Ich glaube, das kommt mit den Jahren, mit der Erfahrung. Vielleicht möchte Jakob mit dieser Frau noch kommen und sich zu mir setzen. Unser Gespräch ist so schnell vorbei gewesen. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass heute mein Geburtstag ist. Er hätte mich bestimmt umarmt. Ich fühle mich richtig wohl in diesem Stuhl, als ob das Kissen heute mit sehr viel Liebe darauf gelegt worden sei. Monique steht hinter der Theke, ich winke ihr, aber mittags ist sie oft gestresst, dass weiss ich. Ich bestelle die Quiche. Eigentlich habe ich Lust auf Ravioli. Aber ich zeige meine Enttäuschung nicht. Ravioli hat es hier noch nie gegeben.

Unauffällig spucke ich in die Papierserviette und versuche den Broccoli von meinem Schuh wegzukratzen. Nicht einmal an meinem Geburtstag begegnet mir Grossmutter mit Respekt. Verwandte können grausam sein. Die Schuhe waren ein Geschenk einer besonderen Liebe.

Jedes Mal, wenn man mir beim Einkauf die Schuhschachtel anbietet, bin ich gerührt. Ich habe das Gefühl, einen Tresor geschenkt zu bekommen. Ein Geschenk, das ich mir selber schenke, verpackt in einer soliden Schachtel. Eine Schachtel, in der ich später andere Dinge verstaue und in einer grösseren Schachtel in den Schrank lege, der im Wohnzimmer steht. Mein Wohnzimmer, das mein Schlafzimmer ist und meine ganz eigene Wohnung.

Das Essen schmeckt heute ausgezeichnet. Ich esse alles auf, sogar die Salatblätter, obwohl es an Sosse fehlt. Monique steht noch immer hinter der Theke. Ich bin mir sicher, dass sie nicht vergessen hat, dass heute ein besonderer Tag ist. Ich fühle es, sie will mich überraschen. Vielleicht möchte sie mich in ihre Wohnung einladen. Immer wieder schwärmt sie von meinen Fähigkeiten und meinem ausgeprägten Körperbewusstsein. Ich mache ihr ein Daumenhochzeichen und sie nickt. Jetzt bin ich mir ganz sicher. Ich bleibe eine Weile sitzen, um nicht uninteressant zu wirken. Ich bestelle einen Kaffee, das Mittagessen macht mich immer ein wenig schläfrig. Aber heute werde ich wohl keine Zeit für eine Pause haben. Heute ist ein besonderer Tag. Ich stehe auf und stopfe das Hemd ordentlich und tief in die Hosen.

 

2.

Ich ging dann am Abend nochmals hin. An seinem Geburtsag darf man auch zweimal ins Bistrot, sagte ich mir. Monique musste länger arbeiten und ich hing an der Bartheke und trank. Ein Bier schenkte sie mir, nachdem ich sie an meinen Geburtstag erinnert hatte, obwohl ich wusste, dass sie ihn nicht vergessen hatte. Wir begegnen uns mittlerweile wie Fremde. Dabei bin ich sicher, dass sie noch an mich denkt. Ich denke oft an sie. Und wenn ich sie vor mir sehe, wie sie zärtlich den Bierknauf betätigt, wird mir ganz warm. Sie hat sehr schöne Ohren. Das habe ich ihr gesagt, weil ich der Meinung bin, dass wir diese Intimität wieder aufbauen sollten. Nur traut sie sich noch nicht. Sie hat jetzt ein Geschäft, das sie führen muss. Es fiel ihr nicht leicht, mir zu gestehen, dass ich durch ein paar Stühle und eine Bierzapfsäule ersetzt wurde. Als der letzte Gast gegangen war, stellte ich mir vor, wie wir uns hier und jetzt lieben würden. Aber Monique sagte, sie sei müde, ich solle gehen. Also bin ich gegangen. Wahrscheinlich braucht sie einfach mehr Zeit.

Antony, pürieren!

Ich habe von ihr geträumt, es war ein echter Traum, und mit jedem Hämmern und Klopfen der Nachbarn über mir wurde er stärker und stimmiger. Das Geschrei der Grossmutter aber schaffte ich nicht in den Traum einzubauen, so liege ich jetzt wütend wach. Sie spielt mit der Laustärke des Fernsehens, sodass sich Nachrichtenfetzen mit ihrer Stimme und der Information, dass die Kartoffeln auf dem Tisch warten, vermischen. «Antony, pürieren!» Sie könne das nicht mehr, die Vibration des Stabmixers versetze sie in einen Zustand, den sie nicht ertragen könne. Auf solche Aussagen gehe ich nicht mehr ein. Ich schlurfe zu den gekochten Kartoffeln und steche den Stab hinein. «Antony, die Milch!» Grossmutter steht ächzend auf und leert Milch in den Topf, reisst mir den Mixer aus der Hand und sagt: «So macht man das.» Einzelne Kartoffelspritzer landen auf meinem Seidenhemd. Ich putze sie mit dem Finger schnell weg. Einer nach dem anderen. Ich schaue Grossmutter auf die Kopfbehaarung, wie wenn man von einem Berg ins Tal schaut, und ich finde ihr Haar äusserst ungekämmt. Sie drückt mir den Stab in die Hand und ich püriere wortlos weiter, bis sie mich, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden, fragt, wo ich gestern Abend so lange geblieben sei. Mit einer Frau, beginne ich, und sie schaltet sofort die Lautstärke des Fernsehers hoch. Ich hätte eine Kochschürze anziehen sollen. Das denke ich mir jetzt, wo mein Hemd schon verdreckt ist. Ich stelle mir vor, wie ich Grossmutter püriere und fühle ich mich kurz darauf schlecht. Sie ist doch so alt und kann nichts dafür.

Ich halte es nicht mehr aus – lasse alles stehen und liegen. Draussen sehe ich fünf Rekruten. Ich gehe hinter ihnen her. Ich konzentriere mich auf ihre schwarzen Lederschuhe, um nicht die Gewehre anzustarren. Beim Anblick von Waffen fühle ich mich machtlos. Ich streife ein Gewehr mit meinem rechten Arm und entschuldige mich sofort. Ich lächle. Der Soldat nicht. Das erwarte ich von uniformierten Menschen auch nicht.

Ich sollte Monique ein Geschenk machen. So funktioniert das doch mit der Aufmerksamkeit. Als ich den «Wortbaum» betrete, sehe ich Jakob einen Kunden beraten. Seine Bewegungen regen ebenso zum Kauf an, wie seine Augen glänzen, wenn seine Hände dieses und jenes Buch berühren. Ich winke ihm. Er nickt zurück und zeigt auf mein Hemd. Ich lächle und gehe wieder hinaus. Den Kartoffelstock hatte ich völlig vergessen. Wie nett von ihm, mich darauf aufmerksam zu machen. Jetzt bin ich hungrig. Ich werde aber auf keinen Fall zurück nach Hause gehen. Ich werde warten, denn sonst gewinnt die Grossmutter, und ich will nicht, dass sie sich freut. Ich sollte ausziehen. Aus Monique und mir könnte wieder etwas werden. Etwas Schönes. Ich stehe gegenüber vom Bistrot und sehe wie Monique abräumt und mehrere Teller auf ihren Arm stapelt. Das erinnert mich an Zirkus. Da bin ich schon lange nicht mehr gewesen. Trotz des dreckigen Seidenhemdes gehe ich über die Strasse, um Monique besser beobachten zu können. Ich trete in einen Hundekot und rutsche beinahe aus. Der war ganz frisch. Zum Glück hatte ich immer schon ein gutes Gleichgewichtsgefühl. In der Hoffnung, dass mich Monique noch nicht bemerkt hat, drehe ich mich um und gehe zurück. Auf dem Weg versuche ich, meinen Schuh auf dem Asphalt zu säubern. Ich ziehe eine braune Linie hinter mir her und frage mich, wer hier eigentlich das Tier ist. All diese Hunde, die in Kinderwagen gesetzt, mit Hüten geschmückt und am Tisch gefüttert werden!

Das Duschen ist jetzt ein Moment für mich

«Du siehst ganz schlecht aus, Antony.» Meine Grossmutter hat das Öffnen der Tür gehört. Dabei wollte ich doch leise sein. Ich erzähle ihr vom Ungeschick, das mir soeben widerfahren ist und sie sagt, das sei der Grund, warum sie nicht rausgehe. Ich fühle mich dreckig. Der gestrige Tag ist so schön gewesen und der heutige hat schon schlecht begonnen. «Nicht weiter schlimm», sage ich mir, und stelle mich mitsamt Hemd und Schuhen unter die Dusche. Ich höre Grossmutter rufen, aber denke: Das Duschen ist jetzt ein Moment für mich. Der Kot vermischt sich mit dem Wasser und fliesst vom Schuh. Es sieht nicht schlimm aus. Es ist fast dasselbe Braun. Ich stelle mir vor, dass mein Schuh an Farbe verliert und knöpfe mein Hemd auf. Die Brusthaare haben sich mit den Jahren verfünffacht. Einzelne Haare wachsen sogar auf den Schultern. Sobald ich Zeit habe, zupfe ich sie aus, um einen gepflegten Eindruck zu machen, wenn ich mit Monique einschlafen werde.

Wäre die Grossmutter nicht ununterbrochen auf dem Sofa, könnte ich meine Freunde nach Hause einladen. Manchmal macht es mich traurig, dass ich das nicht kann. Aber dann muntere ich mich auf, indem ich sage, dass die Grossmutter ja meine Arbeit sei, und zur Arbeit lädt man nun mal keine Freunde ein.

«Öffne das Fenster, Antony!», schreit die Grossmutter wieder. Ich steige aus der Dusche und stehe vor dem dampfbeschlagenen Spiegel. Mit der kleinen Schere beginne ich einzelne Barthaare abzuschneiden. Vorsichtig versuche ich eine gewisse Regelmässigkeit herzustellen. Mit den abgeschnittenen Haaren mache ich einen netten Blumenstrauss und lege ihn in den Abfalleimer. «Wenn du das Fenster nicht aufmachst, gibt es Schimmel!» Florist wäre mir lieber gewesen als Altenpfleger. Dann hätte ich jetzt mit Monique eine Familie und eine Wohnung oberhalb des Bistrots. Ich würde ihre Katzen füttern, und ab und an würden wir die Fenster weit offen lassen, um mit den Strassengeräuschen einzuschlafen. Vielleicht hätten wir ein oder zwei Kinder, obwohl ich mir nicht sicher bin, diese Art von Verantwortung tragen zu können. Aber das gehört doch zum Träumen. Immerhin sind die Lederschuhe jetzt wieder sauber. Die Kleider lege ich zum Trocknen auf den kalten Heizkörper. Ich wickle mich in ein Badetuch; Grossmutters Kommentare zu meinem Körper würde ich jetzt schlecht ertragen. Heute Abend werde ich Monique von meinem Traum erzählen und ich werde sie genau so küssen wie im Traum und mit meiner Hand durch ihr lockiges Haar fahren. Das wird ihr gefallen.

Ich hoffe, er ist mir nicht böse

Ganz leise öffne ich die Badezimmertür, aber Grossmutter hat aufgehört zu schreien. Ich hoffe, ihre Stimmbänder sind gerissen, unreparierbar. Schon habe ich wieder ein schlechtes Gewissen. Dann denke ich eben an Jakob. Ich hätte mit ihm reden sollen; ein Bier trinken, mit ihm über Monique sprechen. Aber ich habe den Wortbaum so schnell wieder verlassen müssen. Ich hoffe, er ist mir nicht böse. Ich schlängle mich am Wohnzimmer vorbei in mein Zimmer und halte das Badetuch fest, für den Fall, dass Grossmutter mich unterwegs überraschen sollte. Im Fernsehen läuft eine Werbung für kalziumhaltiges Katzenfutter. Immer diese Tiere, denke ich mir. Grossmutter scheint es zu interessieren. Sie bleibt still.

 

3.

Nach dem Aufstehen heute Morgen habe ich mir Kaffee gemacht. Dann bin ich zurück aufs Sofa und habe eine Rochengeburt am Strand miterlebt. Menschen stehen im Kreis um die Roche herum und werden mit jedem flachgedrückten Rochenbaby übermütiger: Oh my gosh, schreien sie, look at this. Sie grabschen die kleinen Frisbeefische aus dem Wasser und lassen sie wieder hineinklatschen. Die Rochenmutter muss müde sein, denke ich, und versuche das Bild im Fernseher mit den Augen schärfer zu stellen. Die Fischmutter macht ein ausdruckloses Gesicht, aber eigentlich weiss ich gar nicht, wo auf diesem Körper das Gesicht sein soll.

Die modernen Erotikfilme sind unerotisch

Ich liege seit zwei Stunden hier, das Sofa und ich, wir sind quasi zusammengenäht. Zum ersten Mal seit langem habe ich das Gefühl eine Verbindung eingegangen zu sein. Von hier aus sehe ich richtig viele Fernsehshows. Je nach Tageszeit gibt es Verkaufssendungen, Gerichtssendungen, Musikvideos, Romanzen, Tierdokus, Quizsendungen, Nachrichten, die Wiederholung der Nachrichten und abends spät auch Erotikfilme. Ich war schon lange neugierig, wie diese Filme heutzutage aussehen, aber mit Grossmutter konnte ich keine schauen. Ich hätte es auch nicht gewollt. Grossmutter war eben die Grossmutter, und egal wie alt, Nacktheit mit ihr zu teilen, genierte mich. Seither habe ich nun aber bereits bestimmt zehn Erotikfilme geschaut. Oft bin ich dabei eingeschlafen. Die modernen Erotikfilme sind unerotisch, da gibt’s kaum was zu sehen.

Beim Aufstehen schalte ich auf italienische Sender. Die Sprache wirkt vitalisierend. Mittags schaue ich Nachrichten und danach die Nachrichten in Gebärdensprache. Mir wird immer klarer, dass ich vorher so vieles ignoriert habe. Ich hätte viel lernen und werden können, wäre Grossmutter nicht gewesen. Ich hätte Menschen belehren können mit meinem Wissen und vielleicht wären die Menschen dann gnädiger gewesen.

Das Telefon klingelt manchmal und ich denke mir, dass meine Freunde sich Sorgen machen und sich fragen, wo ich bleibe. Ich hätte die Fenster schliessen sollen, aber ich habe es nicht getan. Ich stelle mich in Frage. Mich und mein Benehmen. Mich und meine Lebensart. Mich und meine Nahrungsmittel. Mich und meine Freunde.

Draussen scheint die Sonne und die Fensterscheiben sind verstaubt. Ich schaue die einzelnen Staubpartikel an. Ich könnte aufstehen und die Wohnung säubern. Ich könnte die Möbel umstellen, so wie ich sie will, wie ich es schon lange tun wollte. Das Sofa bleibt im Zentrum, den Küchentisch etwas mehr nach links, den verwurmten Couchtisch aus dem Fenster schmeissen, die Gardinen abreissen; der Schimmel gehört fast schon zur Deko. Aber das Sofa hat mich eingenommen. An manchen Tagen stelle ich mir vor, ich könnte in den Wortbaum gehen, mit Jakob sprechen, ein Buch lesen. Aber wozu Bücher lesen und den Stimmen zuhören, wenn ich beides auch auf dem Sofa tun kann. Und wenn ich nicht mehr zuhören mag, drücke ich den Knopf. Aus. Still.

Unglaublich, dass Monique jetzt will!

Es klingelt an der Tür, oder im Fernseher, ich weiss es nicht, befinde mich gerade in einem dieser Döszuständen, und Sonnenstrahlen wärmen meine Oberschenkel. Es klingelt und klingelt und ich schreie: Antony mach die Tür auf! Dabei lache ich und höre, wie die Tür von allein aufgeht. Für einen kurzen Moment schaudert es mich, aber dann nicht mehr. Wenn Menschen einfach so aus dem Fenster verschwinden können, können sie auch einfach so durch eine Tür treten. Ich denke an die platten Rochenbabys. Mein Magen knurrt und ein Schatten wirft sich über meine Oberschenkel. «Antony!». Es ist Monique. Ich setze mich aufrecht hin und sage: «Monique, wie bist du reingekommen?». Die übliche und einzig logische Antwort. Sie setzt sich neben mich. Ich sage ihr, dass sie sich keine Sorgen machen muss; ich habe Ferien und geniesse die freie Zeit. Sie lächelt. Ihr Haar steht ihr heute besonders gut. Links und rechts fällt eine Locke über die Wange. Mit dem Zeigefinger versucht sie vergebens sie hinter ihren Ohren zu befestigen. Ihre Nägel sind rot lackiert. Ein helles Sommerrot, das zu ihren Lederstiefeln passt. Ich trage heute Pantoffeln. «Antony», sagt sie erneut und ich überlege mir, zu einem späteren Punkt im Leben meinen Vornamen zu ändern. «Antony», noch einmal. «Ich weiss, dass ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt und es ist nicht einfach für dich, aber…». Sie stottert. Die Nähe ist ihr unangenehm. Vielleicht sollte ich sie einfach berühren, das Eis brechen, den Knopf drücken, die Stimme ausschalten. Ich glaube, sie will mit mir schlafen, aber ich bin dreckig, mein Bart viel zu lange und in ihm hängen Reste der letzten Wochen, Essen und Tabak. Unglaublich, dass Monique jetzt will! Dieses Reizspiel habe ich noch nie verstanden. Zeigt man die Schulter, kriecht der andere und so weiter. Ich lege meine Hand auf ihren rechten Oberschenkel, sie zieht ihn sogleich weg. Sie will Spielleiter sein. Also lehne ich mich zurück, verschränke die Arme hinter dem Kopf und atme tief durch, um ihr zu sagen: Ich höre dir zu Monique. Sie wiederholt meinen Namen, das glaube ich zumindest, denn ich habe sie auf stumm geschaltet und beobachte nur noch ihre Lippenbewegung; die Zähne, die draufbeissen, die Feuchtigkeit an ihren Mundwinkeln. Sie sagt mehr als nur meinen Namen und ich lese so gut ich kann von ihren Lippen ab. Aber meine Gedanken sind immer noch bei der Rochengeburt, die mich mehr als erwartet beschäftigt. Ob meine Mutter bei meiner Geburt wohl auch so ausdruckslos war? Als einziges Kind war ich allerdings etwas Spezielles, während aus der Roche noch fünf andere plumpsten.

Monique ist aufgestanden und lächelt. Ich lächle auch und nicke ganz langsam und verständnisvoll. «Nimm dir Zeit, und wenn du das Geld nicht hast, dann ein anderes Mal». Ich nicke weiter, aber worüber spricht sie? «Geld?», frage ich. «Ja, wie gesagt, das kann nicht alles aufs Haus gehen, Antony!». Ich sage: «Ja klar, versteh ich, bis dann!» und zum ersten Mal sehe ich, wie es wirklich ist. Monique, die einen Grund sucht, um mit mir zu sprechen, die einen Vorwand erfindet, die sich neben mich schlängelt und meine Wohnung betritt. Das finde ich genau so unerotisch wie die Filme. Sie verabschiedet sich von mir. Diese Winkbewegungen habe ich noch nie verstanden, sie haben etwas Unnatürliches. Aber ich winke zurück und höre wie sich die Eingangstür schliesst.

Die Sonne scheint immer noch. Ich greife mit beiden Armen nach meinen Beinen und ringle mich wie ein Fötus ein. Ich bin immer noch sehr beweglich. Mein Rücken schmerzt, aber nicht so sehr, dass ich mich darüber beklagen könnte. Vielleicht sollte ich rausgehen, aber hier lässt es sich besser feiern. Im Fernseher spiegelt sich mein Bild. Das Bild vom bärtigen Antony mit immer grauer werdendem Bart. Lange fettige Haare, wie Grossmutters, nur fülliger. Welche Parasiten da wohl leben? Man schenkt Unterkünfte, wie man kann, und man hängt sich dahin, wo man sich gut fühlt, oder? Für einen arbeitslosen, intelligenten Menschen wie ich das bin, ist das Sofa eine gute Lösung. Ich könnte irgendwann ein neues kaufen, eines aus Leder. Dann würden die Speiseresten nicht so gut zu sehen sein. Immer wieder an die Tage davor erinnert zu werden, deprimiert mich. Ich werde mir ein braunes Ledersofa kaufen. «Antony, kauf dir ein Sofa! » Ich lache und ziehe meine Knie so fest wie möglich an meine Brust. Mein Bauch quetscht sich dazwischen; so lange er Platz hat, stört er mich nicht.

«Alles Gute, Antony! Antony, der Wertvolle.» Antony ist eine Mischung aus Anton und Tony, zwei widerliche Vornamen, die aber tatsächlich «Der Wertvolle» bedeuten. Und bei jedem Aufwachen denke ich, ich hätte am Vorabend besser doch meine Zähne putzen sollen. Ich schaue an die Decke, lausche den Nachbarsschritten, wie sie über meinen Kopf herziehen. Heute bin ich ein und vierzig geworden, über Nacht.

 

Rebecca Gisler schreibt Prosa und szenische Texte, auf Deutsch oder Französisch. Sie lebt und studiert in Paris.

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