Lange Zeit war ich nicht mehr als das, was ich in einem Moment bin. Manchmal, die Erregung darüber, etwas über mich herauszufinden, hatte mich ergriffen, entglitt mir jeglicher Sinn meiner Vergangenheit, bevor ich mir sagen konnte: «Irgendwie bin ich doch hierhergekommen.»

Die Klasse? Womöglich noch Kampfbegriff aus der Konserve nostalgischer Linker

Ich habe es geschafft. Und das fast ohne Kapital (welcher Art auch immer). Das sagen mir Leute manchmal. Es ist mir nie wirklich gelungen, mich soweit von mir selbst zu lösen, dass ich hätte sehen können, was sie sehen. Die Klasse – für mich ist sie Unterstellung geblieben. Für sich habe ich sie nie empfunden, weil ich die Schuld immer bei mir sah und die Verantwortung bei den anderen. An sich, konstatieren manche, sei die Klasse blosse Analysekategorie. Abstrakt also, nichts weiter. Womöglich noch Kampfbegriff aus der Konserve gewisser nostalgischer Linker.

Vielleicht stimmt ja aber, was andere behaupten: Dass es sich mit dem Klassenbegriff an und für sich verhält wie mit einem in der Flasche gefangenen Geist – seine Wirkung wurde von Sozialstaat, Arbeitsintegration und neoliberaler Alternativlosigkeit gegeisselt und vergessen gemacht. Die Leute haben aufgehört an an ihn zu glauben und sehen ihren Feind nunmehr im Nächsten – oder wenigstens im nächsten, der nicht so aussieht und spricht wie sie.

Wenn dem also so wäre – wie beseelte wohl der unsichtbare Geist der Klasse mein Werden?

Proust und kleine Dealerjungs

Während ich von dieser Frage ausgehend versuche, Erinnerungen aus der Tiefe zu hieven, sitze ich im blumenreichen Park einer Kirche in einem gutbürgerlichen Viertel Berlins. Es ist Sommer, der gar keiner ist, denn Grau hat sich auf die Kronen der parksäumenden Bäume gelegt und ein kaltherziger Wind scheucht die Wolken gen Nordost. Ich sitze also da und lese in einem Buch vom alten Meister der Erinnerung. Seine Sätze sind so lang und ihre Aussage zeigen sie nur in der Umschlungenheit ihrer Teile an; im Versuch in Prousts Welt abzuheben, muss ich mich nach jedem Punkt neu aufrappeln. Gerade bin ich einmal mehr abgedriftet, blicke auf und schaue mich um. Der Park wird in der Mitte eingenommen von einem grossen Blumenbeet, das von einem ungewöhnlich niedrigen Geländer begrenzt wird. Es ist tatsächlich so wenig hoch, dass Hunde eher drüber schreiten als springen. Ich sehe einen Dackel, der das Geländer beschnüffelt, sein rechtes Pfötchen hebt, zu seinem Frauchen guckt und unter dem Geländer durchschlüpft.

Um das Beet herum sind grüne, reichlich abgenutzte Bänke angelegt, und auf einer davon habe ich Platz genommen. Auf der gegenüberliegenden Bank sitzen zwei junge Männer, wohl kaum älter als 16 Jahre, beide mit Bauchtäschchen. Der eine lehnt sich vor, stützt seine Ellbogen auf die Knie und blickt auf den Boden, während der andere zurückgelehnt etwas vor sich hinmurmelt. Ich frage mich einen Moment lang, ob sich die beiden wirklich kennen oder nur zufällig gemeinsam auf der Bank sitzen, als der murmelnde Typ ein Säckchen mit was Grünem aus seiner Bauchtasche zieht, aufsteht und mit einem Handklatsch den anderen verabschiedet, ausschreitend davongeht und der verbliebene Junge sich nach hinten lehnt, sein linkes Bein ausstreckt und das Säckchen umständlich in seine Hosentasche stopft. Proust und kleine Dealerjungs.

 Sind die jugendlichen Kleinkriminellen gewöhnlich? Oder bin ich ungewöhnlich, weil ich Hochkultur lese?

Der Stelle, wo ich Proust kurz zuvor verloren habe, ging ein eingehender Bericht über die Köstlichkeiten voraus, welche die Haushälterin des Feriensitzes, Françoise, der Familie des Erzählers Tag für Tag zauberte. Schokoladenparfait, Hammelkeule, Spargeln mit Sauce; Proust kredenzt seine schwelgenden Reminiszenzen auf einem köstlichen Bett aus Grossbürgertum: ein komfortables Ferienhaus mit Angestellten, deren persönliche Identität und Stolz sich in ihrer Funktion für die Hausherren und -herrinnen erschöpft; deren Tagesabläufe, die den Ennui zum Stil hochjazzen, und Sitten, so sauber und getreu anzuwenden, dass sie jeglicher Urteilskraft entbehren. An einer Stelle breitet sich der Erzähler darüber aus, was seine Grossmutter für «gewöhnlich» empfand – und gewöhnlich sein bedeute, unmoralisch und nicht willens genug zu sein, die Person zu werden, deren Möglichkeit sich einem darbietet. Ich fange an zu sinnieren. Sind die jugendlichen Kleinkriminellen also gewöhnlich? Oder bin ich ungewöhnlich, weil ich hier Hochkultur lese, anstatt Drogen zu verkaufen?

Ich beobachte den Jungen dabei, wie er sich verstohlen umsieht und dann seufzend zurücklehnt. Ich überlege, ob er nicht in der Schule sein müsste. Ein reflexartiger Gedanke, der meinen Blick weiten lässt zum grünen Panorama des Parks: Eine angstvolle Erinnerung tut sich auf.

Vielleicht würde sie mich für eine Schleimerin halten

Ich stehe im Bücherlager meiner Schule. Ich bin elf Jahre alt, in der Hand halte ich ein Brötchen. Meine Lehrerin steht auf einer Leiter und stöbert in den oberen Regalen, während ich mich bei entschuldige, weil ich abermals ohne triftigen Grund dem Unterricht ferngeblieben bin. Das Brötchen habe ich vor der Schule für meine Lehrerin geholt. Ich erinnere mich, wie ich diese Geste für angebracht gehalten und zugleich lange darüber nachgedacht hatte, ob sie wirklich angemessen wäre. Die Idee hatte ich von meiner Mutter.

Als Kind war ich oft bei ihr im Büro, da sie meist noch lange nachdem das Tagi bereits zugemacht hatte, arbeiten musste. Bei ihr hatte ich das abgeguckt, jemandem zur Entschuldigung ein kleines Geschenk zu geben. Manchmal tat sie dies, wenn sie eine Patientenakte nicht rechtzeitig vorbeibringen konnte. Manchmal kamen auch Patienten mit Geschenkkörben zu ihr, um sich für ihre Arbeit zu bedanken. Meine Mutter war Sekretärin in einem Spital, über 20 Jahre lang 100% angestellt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie jeden Tag nicht selten von sieben bis einundzwanzig Uhr an ihrem Schreibtisch sass, Patientenprotokolle abtippte, Briefe aufsetzte, sich um Büromaterial und Kaffeekapseln kümmerte, riesige Stapel von Patientenakten von A nach B trug.

Als ich nun vor meiner Lehrerin stand, sie sich nicht weiter um mich zu kümmern schien, derweil ich mich immer mehr schämte für meine Missetat und das blöde Brötchen, kam es mir immer abwegiger und vielleicht gar unheilbringend vor, ihr dieses zu überreichen. Ich hatte noch nie ein Kind gesehen, das so etwas getan hatte. Vielleicht würde sie mich für eine Schleimerin halten. Sie stieg von der Leiter und liess mich mit einem gütigen Kopfnicken versprechen, dass ich so etwas nie wieder tun würde. Ich sah sie an und fürchtete, dass sie mein Brötchen entdeckte und mich durchschaute.

Nein, das konnte ich ihr nicht versprechen. Meine Mutter war schon weg, wenn es für mich Zeit war, aufzustehen. Mein Stiefvater kam manchmal gerade nach Hause, wenn ich aus dem Haus sollte. Ausserdem hatte ich den weitesten Schulweg von allen, eine halbe Stunde quer durch die Stadt. Ich musste mich selber anziehen, selber Frühstück machen, (ein solches ass ich nie), selber den Schulranzen packen, in den Bus steigen, umsteigen auf die Tram, aussteigen. Ich versprach es ihr trotzdem – damit ich mit meinem Brötchen endlich von dannen ziehen konnte.

Geld, Geld, Geld

Meine Bedrückung scheint den Duft von frittiertem Essen zu verströmen, der Duft, der an den Wänden der kleinen Dreizimmerwohnung meiner Kindheit klebte. Mir wird plötzlich ganz klamm auf der grünen Parkbank und ich fürchte, innerlich zu verglühen. Da höre ich Kaugeräusche. Links von mir sitzt eine dreiköpfige Familie, die schweigend etwas aus diesen leicht konvexen Imbissboxen mit chinesischen Schriftzeichen darauf in sich reinschaufelt. Die Frau hat ihre Schlappen ausgezogen, um ihr Bein in einer Art halben Schneidersitzes hochzunehmen. Das kleine Mädchen neben ihr hat dieselben langen, glattglänzenden schwarzen Haare wie ich. Ihre Beine baumeln in der Luft und kleine Nudelstücke fallen ihr immer wieder in den Schoss, die sie mit Zeigefinger und Daumen eher ungeschickt auf den Boden spickt. Der Mann schlürft eine Nudel hoch. Ein grosser Leonberger trabt vorbei, bleibt vor dem Mädchen stehen, sieht zu seinem Herrchen, der ein wenig hinter ihm auf seinem Handy rumtippt, schnüffelt an den Essensresten am Boden und leckt sie auf. Die Frau blickt den Hund böse an, während sie in schneidendem Ton etwas zu ihren Leuten in einer Sprache sagt, die ich nicht verstehe.

Zur Zeit des Brötchenvorfalls hangelten sich die Gedanken meiner Eltern von Mahlzeit zu Mahlzeit. Dass wir mal so arg dran waren, weiss ich, weil meine Mutter eines Abends in grösstem Zorn und sie zu ersticken drohender Verzweiflung eine gute halbe Stunde immer nur «Geld, Geld, Geld» wiederholte. «Geld, Geld, Geld», nachdem sie sich schimpfend darüber beklagt hatte, was für ein Krampf ihr Leben doch sei. Geld, Geld, Geld. Entweder hat man so viel davon, dass es an Wert verliert oder man sagt es so lange auf, bis sich belämmerte Bedeutungslosigkeit einstellt. Mein Stiefvater meinte daraufhin, dass er manchmal weniger esse, damit mehr für mich übrigbleibe. Ich habe mich schon damals gefragt, ob die beiden aus einem verständlichen Selbstmitleid entspringenden, perversen Wohlgefallen heraus übertrieben. Ich drehte den Ton der Fernsehkiste in meinem Zimmer lauter und ass weiter aus meiner Schüssel Reis und Sauce.

Métro, boulot, dodo

Mein Stiefvater migrierte Anfang der 2000er von den Philippinen in die Schweiz und fand bald eine Stelle in der Fleischverarbeitung der Firma Bell. Das hiess, fünfmal die Woche in Schichtarbeit mit Schutzhaube und Kittel am Fliessband stehen. Zunächst arbeitete er in der Niederlassung in Lenzburg, Kanton Aargau. Dafür musste er sich immer zwei Stunden vor Arbeitsbeginn auf den Weg machen, um rechtzeitig zum Schichtbeginn anwesend zu sein. Er erzählte manchmal von seinen Arbeitskollegen: Albaner, Bosnier, Afrikaner, Araber usw. Mit den meisten verstand er sich gut; sie sprachen dieselbe Sprache. Ich stelle mir vor, wie sie in den Pausen miteinander Kaffee tranken oder vielleicht unverkäufliches Fleisch snackten, während sie so viel zu sagen versuchten, wie ihr gebrochenes Deutsch hergab.

Mein Stiefvater hatte wohl Hoffnung auf Wohlstand, gar Reichtum, als er in die Schweiz gekommen ist. An Dinge wie Steuerabgaben, Sozialleistungen und Rechnungen diverser Art hätte er vor seiner Ankunft in der Schweiz niemals gedacht. Obwohl er mehr als den Mindestlohn für seine Arbeit bekam, musste er doch auf schmerzvolle Art und Weise lernen, was es heisst, im Westen als Lohnabhängiger zu leben, dessen berufliche Erfahrungen und schulische Ausbildung nicht zählten, der eigentlich nichts hatte als seine blanke Arbeitskraft. Métro, boulot, dodo: Die Züge, Busse und Trams zur Arbeit rattern den beengten Geist matschig, die Arbeit selbst wringt noch den letzten Sinn aus dem ausgetrockneten Körper aus, und schlafen geht man danach, um das alles und sich selbst zu vergessen.

Genau wie ich

Ich sitze immer noch im blumenreichen Park vor der Kirche und bin zu Proust zurückgekehrt. Mein Blick wandert zu dem Jungen auf der anderen Seite, der mittlerweile sein Telefon zurück ins Bauchtäschchen verstaut hat. Er scheint ins Leere zu starren, nimmt aber plötzlich meinen Blick wahr. Erschrocken ob dieser Verbindung winde ich mich aus seinem Blick und schaue auf seine Hände, die etwas haltend in seinem Schoss ruhen. Plötzlich schüttelt sich der Junge. Ich blicke zu seinem Gesicht hoch und er lacht mich an. Meint er mich? Irritiert kehre ich den Kopf nach hinten, aber da strüppt sich nur das Gebüsch. Ich wende mich ihm wieder zu. Jetzt sehe ich es. Es blitzt matt in seinem Schoss. Er hält die Suche nach der verlorenen Zeit in seinen Händen, genau wie ich.

 

Farah Grütter ist Studentin der Philosophie und der Soziologie an der Universität Basel.

Ein Kommentar auf “Auf der Suche nach dem verlorenen Klassenbegriff

1 Pings/Trackbacks für "Auf der Suche nach dem verlorenen Klassenbegriff"

  1. Editorial | sagt:

    […] Das ganze Semester über fürchtete ich mich vor dem Referat, das Farah und ich gegen Ende desselben im Kapital-Seminar halten sollten. Glücklicherweise stellte sich […]

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