Es war ca. 17 Uhr, als ein Mann mit Krücke einstieg. Der Mann hatte offensichtlich psychische Probleme und roch unangenehm. Er setzte sich auf den ihm zustehenden Platz, den mit dem Piktogramm, welches einen Mann mit Krücke zeigt. Der Mann mit Krücke hatte noch einen anderen Passagier bei sich, einen, den nur er sah und der ihm offensichtlich sehr zusetzte, denn er verteidigte sich mit Händen und Krücken gegen ihn. Da er in grossem Radius um sich fuchtelte und die realen Menschen nicht wahrnahm, setzten sich die meisten Menschen ausser Reichweite. Alle, ausser einem unscheinbar wirkenden Mann um die fünfzig.

Als zwei Mütter mit Kinderwagen einstiegen, hatten sie Mühe, die Kinderwagen in das Tram zu befördern, da die Krücke im Weg lag. Die Sitze für Menschen mit Krücken sind ja unmittelbar neben den Plätzen für Kinderwagen. Nun trat der unscheinbare Mann um die fünfzig in Aktion. Er nahm die Krücke des Mannes mit Krücke, der noch immer mit seiner Psychose kämpfte, und warf diese zur Seite. Der Mann mit Krücke reklamierte, das sei seine Krücke. Worauf der unscheinbare Mann zum Mann mit Krücke sagte: «Du scheiss Schlappschwanz, das hie isch für Chinder, du Arschloch». Dann packte er den Mann mit Krücke und hielt ihm die Faust ins Gesicht. Der Mann mit Krücke begann zu wimmern, der andere sei selber ein Arschloch. Da rief eine Frau aus dem hinteren Teil des Trams «Lönd sie dä Maa in Rueh». Neben der Frau standen vier Männer in schwarzen Jacken, die die ganze Zeit laut lachten und sagten: «Das isch halt Züri». Nun richtete sich der Fokus des unscheinbaren Mannes auf die Frau. Er schrie, dass das, was er hier tue, Zivilcourage sei und es gehe um den Schutz von Kindern. Worauf die Frau meinte, dann solle der Mann doch auf seine Sprache achten, von wegen «Schlappschwanz» und «Arschloch». Worauf der unscheinbare Mann den mittlerweile wimmernden Mann mit Krücke noch näher zu sich heran riss und schrie: «Du häsch sooo en chline Schwanz» und ihn ins Gesicht schlug. Die Frau rief wieder «Stop» und es wurden gemurmelte «Sie-hät-scho-rächt»s hörbar. Das Tram hielt und der unscheinbare Mann stieg aus, wobei er der Frau noch zurief: «Wenn du en Maa wärsch, wär din Schwanz sooo chli, aber du häsch gar kän Schwanz!»

Das Tram fuhr weiter. Die vier Männer in schwarzen Jacken neben der Frau, die davor lauthals am Lachen gewesen waren, fassten sich und verkündeten: «Billetkontrolle, alli Billet vorwiise bitte!»

Als erstes kontrollierten sie die Frau, die zuvor «Stop» gerufen hatte. Später kontrollierten sie den Mann mit Krücke, was sie sehr feinfühlig taten und dabei ein vorbildliches Bild an Deeskalation abgaben.

Am nächsten Tag rief die Frau den Feedbackdienst der VBZ an und erzählte von dem Vorkommnis. Die zuständige Angestellte reagierte schockiert und versprach, die vier Kontrolleure sofort ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen. Kurz darauf sah die Frau den Mann mit Krücke wieder. Er sass im Hauptbahnhof auf einer Bank, schlug während der Rush Hour vorbeigehenden jungen Frauen mit einem Stock auf den Hintern und lachte dreckig dazu.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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