Yanna Rüger wurde 1986, am Tag des Unglücks von Tschernobyl geboren. Ihr Stück «Chronik der Zukunft» verknüpft private Geschichte mit der universellen Katastrophe. Die Schauspielerin spricht mit der Fabrikzeitung über ihre Rolle als Öko-Jesus, glückliche Liquidatoren und Wiedergeburtskram.

Noëmi Steffen: Yanna, du bist am Tag des Super-GAUs geboren – wann hast du angefangen, dich damit zu identifizieren?

Yanna Rüger: Dadurch, dass meine Eltern sich schon immer aktivistisch gegen Atomkraft engagiert haben, war dieses Thema sehr präsent in meinem Leben. Mir wurde vielleicht viel früher als anderen Kindern von dem Unglück erzählt. Mir ist erst jetzt, viel später, klar geworden, dass es anderen Menschen nicht so im Bewusstsein ist. Viele haben Erinnerungen an die Zeit nach dem GAU. Aber die Generationen nach 1986 wissen oftmals gar nichts darüber, kennen vielleicht noch knapp den Namen. Das hat mich total überrascht.

Fühlst du dich für die Ereignisse verantwortlich?

Nein, gar nicht, da war ich ja noch gar nicht geboren. Aber in unserem Stück übernehme ich als Bühnenfigur «Yanna Rüger» dafür die Verantwortung, stellvertretend für die Menschheit. Ich bin sozusagen eine Art Öko-Jesus. Ich nehme die Schuld auf mich. Eine muss es ja machen. Aber das ist natürlich nur eine Behauptung.

Ich dachte, ich sei ein wiedergeborenes Kind aus der Zone.

Deine Eltern waren Öko-Aktivisten – wie hat dich das geprägt? Siehst du dich selber auch als Aktivistin?

Mir wurde die Natur als etwas Kostbares und Schützenswertes gezeigt. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich glaube, dass mir durch die Demos, die Diskussionen am Frühstückstisch, aber auch einfach durch die Sonntagsausflüge auf die schwäbische Alb ein besonders ausgeprägtes Bewusstsein dafür mitgegeben wurde, dass es die angebliche Trennung von Mensch und Natur so gar nicht gibt, und dass all unsere Handlungen Konsequenzen haben. Als Aktivistin würde ich mich aber nicht bezeichnen. Für mich greift die «Atomkraft – Nein Danke!»-Rhetorik zu kurz. Ich interessiere mich als Künstlerin für die Graubereiche, will Fragen stellen und forschen.

Welchen Raum nahm die Katastrophe ein, als du noch ein Kind warst?

Ich dachte tatsächlich, ich sei ein wiedergeborenes Kind aus der Zone. Naja, das war in der Zeit, in der man sich als Zentrum des Universums begreift, mit so vier, fünf Jahren. Alle haben mir immer wieder erzählt, dass in der Minute, in der ich geboren bin, ein ganz schlimmes Unglück passiert sei, bei dem viele Menschen gestorben sind. Meine Mutter hat an den ganzen Wiedergeburtskram geglaubt, und ich hab das ungefragt als Wahrheit angenommen. Da waren welche gestorben, ich wurde geboren, also bin ich ein Mensch, der dort gestorben ist. Kinderlogik.

Die Verknüpfung deines Geburtstags mit dem globalen Ereignis zwingt dich, anders über Tschernobyl nachzudenken. Suchst du nach Versöhnung? Wie stellst du dir eine Versöhnung vor?

Ach das ist so ein ganz unbestimmter Wunsch nach Heilung, nach Wiedergutmachung an der Natur… Wenn ich z.B. Bilder von mit Plastikmüll verschmutzten Stränden sehe oder vom Mienenbau abgegrabene Berge, dann tut mir das sehr leid. Mir persönlich.

Wieso hat ein Projekt über Tschernobyl 2018 besondere Dringlichkeit?

Das bei der Explosion von Reaktor 4 freigesetzte Uran 238 hat eine Halbwertszeit von über einer Milliarde Jahre… Wir machen nicht wirklich ein Stück über Tschernobyl, sondern vielmehr eines über die Stellung des Menschen in der Natur. Ich glaube, dass viele von den heutigen Problemen wie Klimawandel, Plastikmüll und drohender Atomkrieg im Grunde damit zu tun haben, dass wir uns nicht mehr als Teil des Ganzen wahrnehmen können. Das zeigt sich meiner Meinung nach auch in der gestiegenen Nachfrage nach Mauern und Zäunen. An Landesgrenzen, aber vielleicht auch in den Köpfen der Menschen.

Ich bin ein Art Öko-Jesus.

Für das Stück verwendet ihr Texte der russischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexejewitsch. Ihr geht es nicht um die Enthüllung harter Fakten, sondern um eine Rekonstruktion des Gefühls. Versucht ihr mit eurem Projekt etwas Ähnliches?

Alexejewitsch schreibt, sie interessiere sich für das, was man «weggelassene Geschichte» nennt. Also für die Geschichte der Individuen in ihrer Unterschiedlichkeit. Das finde ich sehr spannend. Wie eine Katastrophe für jeden Menschen etwas ganz anderes bedeuten kann. Es gibt bei ihr z.B. einen Liquidator – so nannte man die Leute, die als erstes am Reaktor waren, um «aufzuräumen» – der die Zeit direkt nach dem Unglück als die schönste Zeit seines Lebens beschreibt.

Was macht diese Texte zu den Richtigen für euren Abend?

Viele der Menschen, die bei Alexejewitsch zu Wort kommen, haben durch die Ereignisse um Tschernobyl einen völlig neuen Blick auf die Natur gewonnen. Das Selbstverständliche ist weg, man wird sich der Kostbarkeit eines funktionierenden Systems bewusst. Eines Ökosystems, eines gesellschaftlichen Systems. Des Systems eines gesunden Körpers. Es findet eine Bewusstwerdung der eigenen Position im Gefüge statt: Wir befinden uns eben nicht ausserhalb oder an der Spitze der Schöpfung, sondern mittendrin, verwoben mit allem. Diese Geschichten möchten wir weitertragen und versuchen nachzuvollziehen.

Welches Zitat daraus möchtest du hier gedruckt sehen?

«Vielleicht ist alles ganz einfach: Auf Zehenspitzen in die Welt gehen, und auf der Schwelle stehen bleiben?»

Du schreibst, durch den technischen Fortschritt bewege man sich immer weiter von der Natur und von sich selber weg und damit aktiv auf einen neuen Super-Gau zu: Die Auslöschung des Menschen durch sich selbst. Wo siehst du darin Schönheit?

Für mich liegt ein grosser Trost in dem Wissen darum, dass wir Menschen auf lange Sicht nicht alles kaputt machen können. «Die Natur trägt den endgültigen Sieg davon», schreibt Michel Houllebecq in seinem Roman «Karte und Gebiet». In der Sperrzone um Tschernobyl haben sich viele bedrohte Tierarten wieder angesiedelt, z.B. Wölfe und Bären. Es ist beeindruckend, wie schnell die Natur die menschlichen Bauten zurückerobert. Beim Betrachten dieser Welt ohne Menschen habe ich das Gefühl, eine mögliche Zukunft sehen zu können. Und dass in diese vielleicht endlich Ruhe einkehren wird.

Wir befinden uns nicht an der Spitze der Schöpfung, sondern mittendrin

Im Film «Opfer» von Andrei Arsenjewitsch Tarkowski opfert die Hauptfigur ihr privates Glück und Besitz, um das grosse Unglück ungeschehen zu machen. Wenn du diese Möglichkeit auch hättest: Was würdest du geben, was fordern?

Eine schöne Frage. Die lass ich mal so stehen. Und du?

Ich stelle dir noch ein paar Fragen zur Umsetzung… Wer wird mit dir auf der Bühne stehen und was werden diese Menschen für Funktionen haben?

Neben mir sind der Puppenspieler Marius Kob, der Musiker Thomas Jeker, die Videokünstlerin Heta Multanen und als helfende Hand unser Regieassistent Yanik Riedo mit auf der Bühne.

Das ist dein erstes Projekt mit der «Infinite Cooperation». Woher kam der Wunsch nach dieser neuen Arbeitsweise und wie unterscheidet sie sich zu deinem Engagement am Theater Neumarkt?

Nach meinen ersten Arbeitserfahrungen als Schauspielerin an einem Stadttheater hatte ich den Wunsch, noch einmal anders und neu über den Schauspielerberuf nachzudenken. Wer sagt denn, dass ich als Spielerin immer in der Warteposition sein muss? Also hab ich die Menschen gefragt, die mich künstlerisch interessieren, ob wir was zusammen machen wollen. Das ist doch das Geniale an der Arbeit in der freien Szene in der Schweiz, dass das möglich ist! Wir sind sehr dankbar, dass wir mit dem Fabriktheater einen Ort für dieses Experiment gefunden haben, mit Menschen, die uns sehr unterstützen und ermutigen. Ich verstehe Infinite Cooperation auch nicht als eine geschlossene Gruppe. Ich hoffe, dass dieses Netzwerk in Zukunft weiter wächst und andere Arbeiten aus neuen Zusammenschlüssen entstehen.

Was macht eine gute Zusammenarbeit aus?

Experte sein auf dem jeweils eigenen Gebiet. Einsatz. Respekt. Zuhören. Offen sein. Probenzeit ist Lebenszeit.

Danke Yanna und Toitoitoi!

 

Ein Kommentar auf “Auf Zehenspitzen in die Welt gehen

  1. Degen rolf sagt:

    Ich will keinen kommentar senden.es ist nicht mit einem *markiert

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