Zürich, es ist Freitag, der 16. Mai 1980. Nach der Arbeit genehmige ich mir das Abendessen im Restaurant Bluetige Tume in der Zürcher Altstadt. Wie so oft esse ich ein Kotelett mit Rösti. Das schmeckt gut und ist in diesem Szenenspunten auch bezahlbar. Das Restaurant ist gut durchmischt. Einer der letzten Orte im Niederdorf, wo sich Rentner, Büezer und Studenten an den gleichen Tisch setzen. Die ältere Kellnerin kennt ihre Pappenheimer. Wer mal die «Brieftasche vergessen» hat, kann auch anschreiben lassen.
Gegen den späteren Abend, wir sind nur noch einige Junge im Restaurant, führen wir eine dieser hitzigen Debatten über Zürich. Wie kann es sein, dass in Zürich die Kneipen schon um Mitternacht schliessen? Dass wir noch immer kein Kulturzentrum haben? Dass sich seit der Schliessung des Alternativen Jugendzentrums «AJZ Bunker» 1970 so gar nichts mehr bewegt, in dieser frostigen Stadt.
Im prächtigen Jugendstil-Café Odeon, dem Stammlokal von Lenin, Thomas Mann, Dürrenmatt und Einstein, waren wir Jungen, aufmüpfige Nach-68-er, nicht ungern gesehene Gäste. Doch auch dieser Ort wurde im Jahre 1972 Opfer der Gewinnmaximierung. Der neue Besitzer vermietete den grössten Teil des Cafés an eine 24-Stunden Apotheke. Im übriggebliebenen Drittel kamen die Überreste des Odeon hin: Ein Schickimicki-Lokal und viel zu teuer für unsereins.
Bei einem anderen beliebten Treffpunkt, der Brasserie an der Rämistrasse, hat der Besitzer gar eine Sprinkleranlage bei den Treppen des Lokals installiert: Diese wurde in Gang gesetzt, wenn wir im Sommer dort sassen und diskutierten. Selbst an der «Riviera», auf den ausladenden Treppen beim Bellevue an der Limmat, dem Treffpunkt für alle Hippies und sonstige Verrückte, wurde es unangenehm: Die ständigen Polizeikontrollen nervten. Die Bar «Revolution» schloss ihre Tore schon sehr früh: Nach zahllosen Polizeirazzien im Lokal bekam der Wirt die Kündigung. Seither ist dort eine Galerie. Hätten wir an diesem Abend wissen können, dass sich in wenigen Wochen alles ändern würde in der Finanzmetropole Zürich?

Der Hauch der Revolution

«Die AJZ-Zeit war für mich die intensivste, und wenn du mich fragst, was damals das Wichtigste war, so sage ich: die Energie, die Energie, die damals in der Luft gelegen hat. Manchmal frage ich mich: Woher ist die gekommen? Wo ist die hin? Gibt‘s die nicht mehr? Kann man die nicht wieder herausholen aus den Leuten? Damals ist wirklich etwas in der Luft gelegen. Manchmal habe ich sogar das Gefühl gehabt, ich rieche es, wenn ich mit dem Töffli in die Stadt gefahren bin. Es war ein geiles Feeling, ein Geruch wie Sommerregen.» (Aus einem Flugblatt.)
Am 17. Mai findet in der leerstehenden Roten Fabrik am See im Quartier Wollishofen ein Fest statt. Diese Party wird vom Stadtrat nicht bewilligt, aber toleriert. Über 2000 Leute finden sich ein. Eine Woche später ist das traditionelle «Allmändfäscht», eine Open-Air Veranstaltung, die jedes Jahr am Pfingstwochenende durchgeführt wird. Ohne Bewilligung – mal mit Polizeieinsatz, mal ohne. Dieses Jahr gehen über 4000 Junge an das Fest, viel mehr als üblich. Popstar Polo Hofer wird ausgepfiffen. Hier wird es auch politisch: Die einseitige Verteilung der Kulturgelder und die hohen Eintrittspreise bei Rockkonzerten werden diskutiert. Für den 30. Mai 1980 wird zu einer Demonstration vor dem Opernhaus aufgerufen. Anlass für die Kundgebung ist ein geplanter 60-Millionen-Kredit für die Renovation des Opernhauses. Ausserdem soll für die Freigabe der Roten Fabrik als Kulturzentrum geworben werden. Ein Bewilligungsgesuch für die Demonstration wird von der Polizei abgelehnt, der Konflikt ist damit vorprogrammiert.

Die Kulturleichen proben den Aufstand

An die Demonstration kamen – wie üblich – vielleicht 300 Leute. Sie versammelten sich hinter dem Transparent mit der Aufschrift «Wir sind die Kulturleichen der Stadt» und zogen vom Bellevue vor das nahe gelegene Opernhaus. Dort hatte die Polizei eine Falle gestellt. Während wir Parolen riefen, mehr Geld für die Alternativkultur forderten und mit Seifenblasen auf uns aufmerksam machten, wartete im Innern des Opernhauses eine Hundertschaft schwer bewaffneter Ordnungshüter auf den Angriffsbefehl. Diese mit Schild und Helm und Schlagstock ausgerüsteten Polizisten stürmten ins Freie und prügelten uns von der Treppe. Das ging schnell. Man war sich ja in Zürich an eine brutale Polizei gewöhnt. Doch dieses Mal liessen wir uns nicht so rasch vertreiben. Einige deckten sich auf einer nahe gelegenen Baustelle mit Steinen, gar mit Baulatten ein, kamen zurück und griffen die vor dem Gebäude portierten Polizisten an. Es entwickelte sich eine regelrechte Strassenschlacht. Während im Opernhaus die Vorstellung lief, verlagerten sich die Scharmützel immer mehr ins Niederdorf, auf dem Weg dorthin wurden die Scheiben des Café Odeon eingeschlagen. In der Altstadt bekamen die Demonstranten unerwarteten Support: Kneipengänger solidarisierten sich spontan mit den Jugendlichen, einige nützten die Gunst der Stunde und plünderten Spirituosengeschäfte und Elektronikläden. Die Auslage eines Musikalienhändlers wurde entwendet, die teuren Instrumente am nächsten Tag aber zurückgebracht.
Pech für die Polizei: Am selben Abend hatte in Oerlikon ein Bob-Marley-Konzert stattgefunden. «Getupstandup, fightforyourrights!» – die aufgeheizten Konzertbesucher trafen genau zur richtigen Stunde im Dörfli ein. Eine Tränengas geschwängerte Luft, eine mittlerweile auf mehrere tausend Personen angewachsene Menschenmenge, welche der total überforderten Polizei ein Katz und Maus Spiel lieferte. Erstmals setzte die Zürcher Stadtpolizei in dieser langen Nacht auch ihre «Geheimwaffe» Gummigeschosse gegen die Manifestanten ein. Auch das Nervengas CB wurde wiederholt eingesetzt, dafür benützte die Polizei eigens umgebaute Flammenwerfer der Armee. Es kam zu einigen Verhaftungen und Verletzten. Ein Polizist starb an akutem Herzversagen. Doch es sollte erst der Anfang sein.

Der heisse Sommer

Für Kenner der Zürcher Jugendszene kam der Gewaltausbruch vom Samstag nicht unerwartet. Alleine der Zeitpunkt war die Überraschung. Das Nichtplanbare, das Zusammentreffen verschiedener Faktoren. Seit Monaten hatte sich im Stillen zusammengebraut, was sich schliesslich entlud. Ursachen der Ausschreitungen war die Unzufriedenheit vieler Jugendlichen über mangelnde Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und die generell unglückliche Jugendpolitik der Zürcher Stadtregierung. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt dürfte auch die überaus schlagfreudige Zürcher Stadtpolizei gespielt haben. Bei Aktionen, die anderswo kaum zu einem Polizeieinsatz geführt hätten – schon gar nicht in diesem Mass – hat die Zürcher Polizei schon immer äusserst gereizt reagiert. Vielen war zu diesem Zeitpunkt auch das brutale Vorgehen von Polizisten im Sommer 1968 im Globus-Keller noch in Erinnerung und das Vorgehen der «Schmier» gegen jede Regung, so auch gegen die AKW-Proteste der 70-er Jahre.
In den folgenden Wochen und Monaten kam es beinahe täglich zu Aktionen und Demonstrationen Jugendlicher in der Zürcher Innenstadt. Dabei kam es zu immensen Sachschäden, über 4000 Personen wurden verhaftet und kriminalisiert, dutzende junger Menschen von der immer rücksichtsloser vorgehenden Polizei verletzt, einige von ihnen schwer. Über ein Dutzend verlor durch Gummigeschosse das Augenlicht. An den zahlreichen Vollversammlungen (VVs), die meistens im Volkshaus stattfanden, nahmen regelmässig bis zu 2000 Menschen teil. Dabei waren die Formen des Protests durchaus kreativ. So demonstrierten am 14. Juni rund 30 Jugendliche splitternackt im Hauptbahnhof, gefolgt von einem Umzug mit einigen hundert Sympathisanten, für ein autonomes Jugendhaus: «nackt für den Frieden – nackt gegen Gewalt». Die Bewegung hatte ihre eigene Kultur, sie besetzte Trams und verfügte übereigene Kommunikationsmittel: Die «Telefonziitig» (!) mehrere Zeitungen (z.B. Eisbrecher und Stilett) und Piratensender (Schwarzi Chatz, RadioInfoZüri). Auch an der Universität gärte es. So hat eine Gruppe Ethnologie-Studenten die Proteste von Anfang an mit einer Videokamera beobachtet. Die Aufführung des daraus entstandenen Films wurde aber verboten. Was prompt zu Demonstrationen der Studentenschaft führte. Einige Witzbolde bestellten Lastwagen voller Sand und liessen diesen in der Aula auskippen. Bei Sandkastenspielen zeigten sie ihren Unmut über den «kindischen» Unibetrieb.
Am 20. Juni erreicht die Repression ihren grotesken Höhepunkt: Der Stadtrat befiehlt der Polizei, um die angekündigte Grossdemonstration zu verhindern, die «Drahtzieher der Demonstrationen» in Präventivhaft zu nehmen. Polizeistadtrat Hans Frick versteigt sich sogar zu der Aussage, dass der lybische Diktator Kathafi von seinem Reichtum etwas für die Zürcher Jugendbewegung habe springen lassen. So werden im Laufe des Tages sechs mutmassliche Rädelsführer festgenommen, darunter auch der Autor dieser Zeilen. Ohne Haftbefehl, aufgrund einer Anordnung einer politischen Behörde. Am nächsten Tag, dem Samstag 21. Juni findet eine VV auf dem Helvetiaplatz statt. Über 6000 Leute finden sich ein, um die sofortige Freilassung ihrer Freunde zu verlangen. Noch während der Versammlung treffen die «Rädelsführer» auf dem Platz ein. Die Polizei hat sie just zu Beginn der Demo frei gelassen. Im Hintergrund wurde nämlich massiver Druck auf die Behörden, vor allem auf den Stadtrat ausgeübt, diese jeglichen rechtsstaatlichen Normen widersprechende Festnahmen rückgängig zu machen. Der Massenauflauf der Bewegten sorgt dann für den Rest. Unter dem Motto «Ohne Polizei kein Krawall» ziehen an die 10’000 Personen in Richtung des geforderten AJZ an der Limmatstrasse. Der eindrückliche Demonstrationszug wird angeführt von einem bekannten Friedensapostel mit weisser Fahne, einem Pfarrer mit Esel, einigen SP-Politikern sowie zahlreichen Frauen und Männern des «Vereins betroffener Eltern». Mitten auf der Quaibrücke steht wenig später der Demonstrationszug einer Hundertschaft Polizisten in Kampfmontur gegenüber. Dank dem Mitschnitt des Polizeifunks liess sich das Geschehen auf der Brücke später recht genau rekonstruieren. Polizeichef Frick liess es sich nicht nehmen, aus der Einsatzzentrale persönlich die Befehle zu erteilen. «Angriff mit Wasserwerfer, Tränengas und Gummi!» Doch Einsatzleiter Trachsel widerspricht: «Das ist nicht gut! Ich widerspreche Ihnen ungerne, doch das ist eine solche Menge, das müssten Sie sehen. Das gibt Tote! Aber ich führe Ihren Befehl aus.» Nach der Bestätigung dieser Einschätzung durch Polizeispitzel, dann der Befehl von Frick: «Zug Trachsel zurückziehen, Weg freigeben, Wasserwerfer zurück zum Rathaus». Zum ersten Mal hat die Polizei nachgegeben, und der Slogan «Ohne Polizei kein Krawall» hat sich bewahrheitet.

Der Sieg

Dann geht alles sehr rasch. Die Behörden übergeben das baufällige Gebäude Limmatstrasse 18/20 der Sozialdemokratischen Partei der Stadt Zürich für ein Jugendhaus. Die SP übergibt die Schlüssel bedingungslos den Jugendlichen. Die Stadt stellt einen (viel zu kleinen) Renovierungskredit von 40’000 Franken zur Verfügung. Während sich die «bewegten» Jugendlichen nun um ihr AJZ kümmern, und mit viel Idealismus und Engagement versuchen, aus einer Abbruchliegenschaft etwas Gemütliches und Nützliches zu machen, sehen sie sich bald mit unerwarteten Problemen konfrontiert: Randgruppen, Alkoholiker, und Drogensüchtige finden im AJZ auch ein Zuhause. Aber es wird weiter demonstriert. Mit der Eröffnung des Autonomen Jugendzentrums war ja nur ein Anliegen der Bewegung erfüllt. Es ging aber um mehr – um den Protest gegen eine ganze Lebensform. Immer wieder kam es in der Folge zu schweren Zusammenstössen. Der kleine Max wurde mit Polizeiknüppeln umgebracht, Silvia hat sich auf dem Bellevue angezündet. Während längerer Zeit wurde in Zürich vom Stadtrat gar ein generelles Demonstrationsverbot verfügt; ein weiterer Freibrief für Polizeigewalt. Der «Aufstand der Jugend» greift wie ein Flächenbrand um sich: Bald demonstrieren nicht nur in Schweizer Städten wie Basel, Bern und Lausanne Jugendliche für Freiräume sondern auch in anderen europäischen Städten; namentlich in Berlin und Wien gehen junge Menschen auf die Strasse.
Nach mehreren z.T. brutalen Polizeirazzien wurde das AJZ geschlossen, an einer Frühlingsdemonstration 1981 von fast 10’000 Teilnehmern gestürmt, von der Polizei dann wieder geräumt – unter Einsatz von Wasserwerfern, die mit dem wasserlöslichen Giftgas CS gefüllt waren. Auch die Gewerkschaften der Journalisten demonstrierten: Für ihr Recht auf Berichterstattung, gegen die gezielten Angriffe auf Kameraleute und Fotografen, gegen den Druck, den die Polizei auf Redaktionen ausübte. So wurde unter anderem sogar ein Film-Team des Schweizer Fernsehens verhaftet. Selbst die Generaldirektion (SRG) sah die Pressefreiheit gefährdet. Der Polizei ging es damals wie heute darum, unliebsame Zeugen von ihren oft mehr als fragwürdigen Aktionen fern zu halten.
Am 23. März 1982 ist es dann soweit: Das AJZ wird von den Stadtbehörden in einer generalstabsmässig geplanten Aktion abgerissen. Damit ist die letzte «Pendenz» des Stadtrates erledigt, wie sich der abtretende Stadtpräsident Sigmund Widmer («Rock ist keine Kultur») ausdrückte. Flugs wird ein fertiges Überbauungsprojekt präsentiert, realisiert wurde es bis heute nicht. Das Gelände ist jetzt ein Busparkplatz – fast wie damals 1970 der «Bunker», der heute noch als Tiefgarage dient.

Besetzt die Idylle

Immer mehr Jugendliche flüchteten ins AJZ, weil sie schlicht keine Bleibe hatten. Nur war ja das AJZ nicht als Gross-Wohngemeinschaft gedacht. Es ist augenscheinlich, dass die Wohnungsknappheit zu einer richtigen Wohnungsnot wurde. Im August 80 kam es zu einem Protestmarsch gegen die Wohnungsnot, in dessen Verlauf man leerstehende Häuser in der City und auf dem Zürichberg sowie die städtische Liegenschaftsverwaltung besuchen wollte. Dazu kam es nicht, die Polizei versperrte mit Wasser- und Tränengaswerfern den Weg. So mündete auch dieser erste Versuch, auf Missstände aufmerksam zu machen, in eine mehrstündige Strassenschlacht.
Doch keine Repression konnte rückgängig machen, was mit den Unruhen in den frühen 80-ern begonnen hat. In der Folge wurde die Bewegung militanter und konzentrierte sich vermehrt auf Hausbesetzungen. Um die Situation zu stabilisieren und weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden, begann der erneuerte Stadtrat unter Stadtpräsident Thomas Wagner mit einer Politik der Integration. Es wurden Vereine gegründet, die das kollektive Wohnen fördern sollten, und die Subventionen für die Alternativkultur wurden stark erhöht. Die Rote Fabrik entwickelte sich nach etlichen Querelen zu einer alternativen Kulturstätte für Konzerte und Theater. Dadurch etablierte sich eine lebendige Kulturszene. Im Laufe der 80er-Jahre entstand zudem eine Vielzahl mehr oder weniger geduldeter illegaler Bars. Sie waren die Vorläufer der Liberalisierung des Gastgewerbegesetzes, das 1998 in Kraft trat. Mit der Integrationsstrategie wurde aber auch die kreative Energie der Bewegung gebändigt und in eingehegte, befriedete «Freiräume» abgedrängt.

Miklós Klaus Rózsa lebt als politisch engagierter Fotograf und Journalist in Zürich. Er dokumentiert über Jahrzehnte die politischen Bewegungen von unten.

Ein Kommentar auf “Aufstand der Kulturleichen

  1. Werni weber sagt:

    Der Bunker wurde zum Polizeimuseum, die Tiefgarage ist nebenan.

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