Die Welt jener feiern, die aus der Norm fallen: Das ist das erklärte Ziel des lila-Festivals, das vom 11.–13. Oktober in der Roten Fabrik stattfindet. Nur: Wie zelebriert man überhaupt sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten? Mit Vielfalt jenseits von Konzerten – und sogar etwas Ruhe.

Es ist genau hundert Jahre her, da ging es der Schwulen- und Lesbenszene Deutschands richtig gut. Jedenfalls um Welten besser als je zuvor. Man traf sich in Homo-Kneipen, gründete Verbände und feierte, dass man so ist, wie man ist: nicht hetero, dafür wunderschön heterogen. 1919 war das Jahr, in dem ein schwuler Aktivist ein «Institut für Sexualwissenschaft» gründete und damit einen Meilenstein für die Homosexuellenbewegung legte. 1919 kam zum allerersten Mal ein Kinofilm raus, der Homosexualität thematisierte. Und bald darauf schrieben zwei Komponisten, vermutlich beide gay as fuck, eine Hymne. Sie heisst «Das Lila Lied». Im Text geht’s darum, wie gern Homos eigentlich homo sind, wenngleich sie dafür geächtet werden: «Und dennoch sind die meisten stolz, dass sie von anderm Holz!»

Deshalb heisst das Festival, das Mitte Oktober in der Roten Fabrik stattfindet, lila-Festival: Es ist eine historische Referenz an eine Zeit, in denen sich homosexuelle Frauen und Männer erstarkt und selbstbewusst fühlen konnten, in ihren eigenen Räumen, Anlässen und Hymnen. Das lila-Festival will genau dieses Gefühl von gemeinsamer Stärke zelebrieren – aber wie genau feiert man Homosexualität? Ist nicht jede glückliche Lesbe, jeder zufriedene Schwule an irgendeinem Open Air schon genug? Wie genau sieht ein Anlass aus, der etwas so Komplexes wie sexuelles Selbstbewusstsein feiern will: Orgien? Politische Parolen? Regenbogen-Deko?

Seit 1919 ist viel passiert in der Welt der Homosexuellen. Unsagbar Schreckliches. Aber auch viel, viel Gutes. Zum Guten gehört das Wachsen der Bewegung: Nicht nur gehen Homos heutzutage zu Zehntausenden auf die Strasse (etwa an der Zürich Pride), sondern sie sind Teil einer Gemeinschaft, die meist an Tiefe und Breite gewonnen hat. Was zu Zeiten des «Lila Lied» noch aus Schwulen und Lesben bestand, bezieht sich heute auf sämtliche Normabweichungen, die traditionelle Vorstellungen von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität sprengen. Das lila-Festival richtet sich nicht nur an Frauen und Männer, die sich zum selben Geschlecht hingezogen fühlen. Sonden auch an Menschen, die sich nicht klar als Mann oder Frau verorten. Leute, deren Identität nicht dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde. Personen, die keine sexuelle Anziehung verspüren – oder sexuelle Anziehung zu sehr vielen verschiedenen Geschlechtern. Sie alle fallen aus der Erwartung raus, wie Mann und Frau aussehen und begehren sollen. Diese Abweichung, dieses Abseits der Geschlechternorm, wird heute gern «queer» genannt. Deshalb heisst das Lila nicht «gay festival», nicht «homo festival», nicht «schwul festival». Sondern queer festival.

Es ist das dritte Mal, dass das lila-Festival stattfindet. Die ersten zwei Ausgaben unterschieden sich frappant: Vor zwei Jahren feierte man mit 300 Leuten im Aargauischen Fricktal, unter freiem Himmel. 2018 zog man in die Zürcher Photobastei und wuchs auf knapp 1000 Festivalbesuchende an. Mittlerweile dauert das Festival drei Tage, von Freitag bis Sonntag; die Organisierenden hoffen auf ein Knacken der Tausender-Grenze. Also geht’s um Wachstum? Gar um Geld?

«Klar geht’s um Geld – aber nicht um Gewinn», erklärt Ronnie, Kommunikations-Verantwortlicher des Festivals. «Das Lila ist nicht gewinnorientiert, wir arbeiten auf ein Nullsummenspiel hin. Aber ja, wir wollen grösser werden. Weil ein Festival mit 1000 Leuten mehr Spass macht als mit 100», so der Aktivist. Ronnie betont: «Uns ist die Zugänglichkeit wichtig. Drum kostet die Teilnahme am gesamten Festival 50 Franken, unter 20 Jahren die Hälfte. Wir wollen ja, dass möglichst viele Menschen das miterleben können: Die schöne Community und die queere Kunst. Unsere Hauptfinanzierung geschieht nicht durch die Einnahmen während des Festivals.»

So zog man also von der Photobastei in die Rote Fabrik: Die Räumlichkeiten hier liessen noch mehr Platz, freut sich Ronnie. Zwischen Partystimmung und Euphorie achten die Organisierenden auf ruhigen Ausgleich: Nicht nur Tanzflächen und Bühnen gibt es, sondern auch Chill-Areas und ruhige Räume. Eine Kombination von Aussen- und Innenbereichen, die Wildes wie auch Entspanntes zulässt.

Man merkt: Am lila-Festival geht’s auch nicht ausschliesslich um Musik und Futter. Vielmehr stellt sich das Programm aus Bühne und Mitmachen zusammen: Mal tritt der deutsche trans Rapper Sir Mantis auf, mal gibt’s in einem Raum Yoga. Hier spielt das Zürcher Trio Dead Milly alternativen Rock, dort findet ein Bondage-Basiskurs statt. Eine besondere Erwähnung verdient der Mini Ball, der bereits in der letztjährigen Ausgabe stattgefunden hat: Der abendfüllende Anlass ist eine Art kunstvoller Mode-, Tanz- und Performance-Wettbewerb, wo jede Person mitmachen kann. Moderation und eine Jury, oftmals aus der Drag-Szene, rahmen den Anlass. Ähnlich wie im Festivalnamen ist auch hier die Geschichte der – wenngleich US-amerikanischen – queeren Szene zu verorten: Um diese Art von «Balls» entwickelte bereits in den 1920er-Jahren eine Subkultur. Nicht nur, um als ungewöhnlich geltende Identitäten zu feiern, sondern auch als Zelebrierung von Solidarität und Selbstschutz: Für gewöhnlich treten an Balls Mitglieder sogenannter «Houses» an. Zu Anfangszeiten der Balls, teilweise noch bis heute, sind diese Houses nicht bloss Wettbewerbs-Gruppen, sondern ganze Wahlfamilien für verstossene queere Menschen. Wo immer in der queeren Community gefeiert wird, schwingt dieser gesellschaftspolitische Aspekt mit: Sich zu feiern in einer Welt, die Abnormalität verstösst, wird zum Protest. In dieser Tradition sieht sich auch die Milchjugend. Zwar werden queere Schweizer Jugendliche seltener aus ihrem Zuhause rausgeworfen als in anderen Ländern; ein Blick in die hiesige Gesetzgebung und in die Statistiken zeigt jedoch, dass das Feiern queerer Kultur noch immer das Feiern einer als abweichend markierten, unterdrückten Kultur darstellt.

Organisiert wird das Festival von der Milchjugend. Im Bereich der queeren Identitäten – oft auch umschrieben mit Akronymen wie LGBT bis LGBTQIA – ist sie die grösste Jugendorganisation der Schweiz. In der Milchjugend verschwimmt die Linie zwischen Veranstaltenden und Teilnehmenden: Ein grosser Teil der Organisations-Aktivitäten beruht darauf, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst Teil sind, anpacken, mitmachen. Queeres Selbstbewusstsein, so die Philosophie der Milchjugend, kann nicht eingeflösst werden, sondern wird durch ein Gemeinschaftsgefühl gestärkt. Und Gemeinschaft entsteht, indem man miteinander etwas erschafft: Etwa in Form von über 70 Helfenden am lila-Festival, strukturiert durch ein 11-köpfiges OK-Team, allesamt ehrenamtlich.

Weil es ausserhalb von Zürich ebenfalls queere Kultur braucht, ist die Milchjugend auch in anderen Kantonen vertreten: Etwa mit Bar-Abenden im Bern, Lager-Wochenenden in der Innerschweiz, Redaktionssitzungen im Aargau. Das lila-Festival aber bleibt das bisher grösstes Projekt der Jugendorganisation. Eine dreistellige, geschweige denn vierstellige Zahl an Besuchenden strebt kein anderes Milchjugend-Projekt an. Entsprechend ist der Aufwand ungleich höher, ist das Team wesentlich grösser. Und der Effekt ebenfalls: Wenn alles gut kommt, feiern über 1000 queere Menschen vom 11. bis am 13. Oktober in der Roten Fabrik die Tatsache, dass sie aus anderem Holz geschnitzt sind als die Norm. Ganz im Sinne vom Lila Lied.

Anna Rosenwasser ist freischaffende Autorin, LGBTQ-Expertin und, vor allem, Aktivistin.
Anna Rosenwasser war auch in der Milchjugend aktiv; das lila-Festival aber geniesst sie als Gast.

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