Nativ: Keiner hat so tief in seine Gefühlswelt blicken lassen, sich dermassen mit den Problemen unserer von Profit getriebenen Gesellschaft auseinandergesetzt und die Bühnen des Landes derart gerockt wie der Berner Mittzwanziger. Solo, als Teil von S.O.S und Psycho’n’Odds hat Nativ mit eloquentem, berndeutschem Rap Sprach- und Genrebarrieren niedergerissen.

Sitze dusse ufem Balkon
Mängisch chumi mir so alt vor.
7 Nachrichte uf mim Cellphone
Aber ich ha no öppis vor, drum stelli d Wält stumm.
Hanes Rendez-vous mit mir sälber,
Willd Zit für mi, die nimmi mer viel z’sälte.
I bi i Clubs und gibe Gäld us woni nid ha,
Hitte Chicks ohni Grips nur, dassi gfiggt ha, aber nid hüt.
S Läbe isch e Boustell und i wott fertigwerde, bevori dr Tod gseh.
Früecher umd Hüser zoge wie dr Lothar,
Hüt bini introvertierter als mi Grandpa.
Aber isch okay,
I dänke gern nache,
Soviel Lehrtage,
Wos mängisch schwermache,
Dassi cha abschalte,
Aber das söll mis Schicksal si,
Zünde e Zigi ah und luege ufd Strass abe.

Es isch e ruhigi Nacht ume Kreis ade Rue de Morat.
Bi wach wennd Sunne schlaft, Chopfhörer i mine Ohre.
Lose Bootsy Collins, de gliich Tune gäng wieder vo vore,
Ade Rue de Morat,
Ade Rue de Morat.

Gseh z Färnsehflimmere dürs Fänster im Block vis-à-vis,
S mues e Krimi si
Oder e Doku überd Technoszene in Rotterdam,
Was irgendwodüre ja chli z gliche isch.
I ha ke Zit uf mir, aber i bruch se grad nid,
Hüt bruchi nume mi,
Luege zum Mond und reflektiere chli.
All die schlächte Entscheidige verdiene mi,
will hüt weissi z Karma isch real.
Zeige allne woni liebe jede Tag, dassi sie liebe, füre Fall, dass üs z Schicksal morn wott trenne vonenand
Und mache mis Glück nümm abhängig vode Mönsche, willi gmerkt ha: D Schönheit, sie liegt überall, sie isch unändlich wienes All.

Es isch e ruhigi Nacht ume Kreis ade Rue de Morat.
Bi wach wennd Sunne schlaft, Chopfhörer i mine Ohre.
Lose Bootsy Collins, de gliich Tune gäng wieder vo vore,
Ade Rue de Morat,
Ade Rue de Morat.
(«Parisienne Vert» von Album «Baobab», 2018)

Pfingstsonntag in der Berner Altstadt. Grossandrang vor dem Club Bonsoir in der Aarbergergasse. Es scheint fast, als stehe die gesamte Berner Jugend, die ihre Turnschuhe nicht nur zum Sport treiben trägt, gerade hier herum. Irgendwas liegt in der Luft.

Bei den drei Künstlern, die im schuhkartongrossen Backstage-Keller des Clubs auf ihren Auftritt warten, ist es Anspannung, Nervosität, Ungeduld. Aber auch – wie bei jener Hundertschaft, die draussen vor der Tür wartet – das Wissen, dass hier bald die grosse Entladung bevorsteht. Dass sich hier bald Energien in grossen Mengen aufbauen, zirkulieren, kollidieren und potenzieren werden.

Es ist 2016 und die Rapper Nativ und Dawill und der Produzent Questbeatz erfinden gerade Mundartrap neu. Die Dürrezeit ist endlich vorbei. Sie stellen die Speerspitze einer neuen Generation dar. Noch nie hatte Schweizer Sprechgesang so ein Energielevel, noch nie so viel formelle Freiheiten wie bei den Saviours of Soul, kurz S.O.S. Der Sound des Berner Trios lässt sich in keine Schublade packen – ausser denn in die des Rap. Sie variieren je nach Lust und Laune von klassischen Midtempo-Tracks im Kopfnicker-Rhythmus bis hin zu aktuellstem, böse zischelnden und wummernden Trap – und das alles in Mundart. Ihre Grundaussage scheint immer wieder dieselbe zu sein: Beuge dich keinen Konventionen. Auch nicht dem Reim. Wenn sich die Wörter nicht reimen wollen – tants pis, sie hatten ihre Chance. Ihr damals aktuelles Album «Candomblé», für alle gratis im Netz erhältlich, enthält eine einfache spirituelle Grundthese: Wenn sich die Menschheit auf ihre Gemeinsamkeiten besinnt und die Musik auf sich einwirken lässt, hat wohlmöglich niemand mehr Lust anderen die Köpfe einzuschlagen.

Ihre Musik hat immense Körperlichkeit, ist durchtränkt von jener take-it-or-leave-it-Attitüde, die auch aktuellen Rap aus den Staaten und England prägt. Es geht hier nicht nur um Spass. Das ist Zeitgeist, das ist Rage, Revolutionsgeist, manchmal Raserei. Als Nativ und Dawill irgendwann nach 1 Uhr schliesslich auf der improvisierten Bühne des Nachtklubs stehen, fordern sie das dichtgedrängte Publikum immer wieder dazu auf, sich zum «Mosh Pit» zu formieren, im Pogo-Tanz aufeinander loszustürmen. Die jungen Fans folgen der Aufforderung begeistert. Der Raum, inzwischen auf Saunatemperatur aufgeheizt, besteht während des Konzertes grösstenteils aus einer wogenden Menge. Die ersten Reihen rappen jedes Wort mit – ob sinnentleert oder clever.

Im Gespräch vor dem grossen Heimspiel betonten die drei wiederholt ihre Unabhängigkeit, ihren Willen sich nicht zu verbiegen, sich nicht in ein Schema pressen zu lassen, frei nach Bauchgefühl zu agieren, alle Einflüsse zuzulassen. Und deren sind genug da: Der Vater von Nativ stammt von der Elfenbeinküste, Dawill hat Wurzeln in der Dominikanischen Republik. Gehört haben sie schon immer alles, ganz selbstverständlich.

Kurz nach zwei Uhr morgens stimmen die beiden durchgeschwitzten Rapper zu einem ihrer grössten Hits an. «läbä&stärbä» ist eine Hommage an ihre Heimatstadt – und hat sich in Bern zu einer Hymne entwickelt. Den Refrain: «Hie läbä mer, hiä stärbä mer!» rufen ihnen jetzt sogar schon die Berner Uniformierten von weitem zu, erzählt Dewill schmunzelnd. «Eigentlich waren wir beide richtig schlecht drauf an dem Tag, als der Song entstanden ist. Das war wohl Trotz.»

Im Club gerät der Song zum überhitzten Höhepunkt. So einen Moment hat Mundartmusik noch nicht erlebt. So energetisch, so jetztzeitig war Mundartrap wohl noch nie. Zuweilen herrscht fast Raserei im Berner Altstadtkeller. Und seither praktisch überall, wo die Akteure dieser Nacht vor drei Jahren aufgetreten sind.

Den Club Bonsoir gibt es nicht mehr, S.O.S. sind heuer präsenter denn je. Allerdings vermehrt als Einzelkämpfer. Nach den beiden gleichzeitig veröffentlichten Alben «Akim» und «Imani» im Sommer 2017, war es für beide Zeit, sich ihren Soloprojekten zu widmen. Während Dawill letztes Jahr auf dem Album «Moringa» mit Körperlichkeit und Rhythmik experimentierte, begann Nativ nach und nach eine ganze Auslegeordnung an kreativen Ausdrucksformen vorzunehmen, darunter die Alben «Baobab» und «Awful».

Während auf Ersterem das Storytelling regiert, taucht er auf «Awful» gemeinsam mit Produzent Questbeatz und Gästen wie Stereo Luchs, Pronto und COBEE in die schlierig-bunte Welt des trippigen Trap ein (ultimativer Anspieltipp: «Odysee»). Mit verfremdeter Stimme widmet er sich ganz dem Moment, kreiert flüchtige Stimmungsbilder, die völlig ohne Zagen und Zögern auskommen.

Der eindrücklichste Song seiner Solophase findet sich jedoch auf «Baobab» – und wirkt wie ein musikalisches Trösterchen für ihn selber, und nun auch für uns: «Parisienne Vert» ist das Protokoll einer schlaflosen Nacht an der Rue de Morat in Biel, wohin es Thierry Gnahoré alias Nativ inzwischen verschlagen hat. Bootsy Collins auf dem Ohr, melancholische Gedanken im Kopf. Und vielleicht, ziemlich sicher sogar, schon das nächste Projekt im Hinterkopf. Es dürfte wieder eine Überraschung werden.

Adrian Schräder ist freier Journalist und arbeitet regelmässig für die NZZ, Das Magazin oder das Bieler Tagblatt.
Nativ tritt am Samstag, dem 14. September um 21 Uhr im Rahmen des Breaking Festivals Breakthrough im Clubraum der Roten Fabrik auf.

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