Leben wir tatsächlich in der materiellen «Wirklichkeit»? Diese Frage ist Folge des philosophischen Zweifels und Gründungsnarrativ der in der griechischen Antike entstandenen Philosophie. Platons Höhlengleichnis versuchte, mit den damals denkbaren Mitteln der Illusionserzeugung, ein Szenario für das Leben in einer total künstlichen Welt zu entwickeln, die den Bewohnerinnen als einzige Wirklichkeit erscheinen sollte. Die Konstruktion eines solchen gleichermassen realen wie rein kognitiven Gefängnisses hatte bei Platon oder später etwa bei Descartes das Ziel, die gewohnte Lebenswelt als Simulation darzustellen, um dann Wege vorzuschlagen, wie aus dem epistemischen Gefängnis in eine wahrhaf­tige Wirklichkeit ausgebrochen werden könnte, die sich die Simulationsbewohnerinnen gar nicht vorstellen können

Hintergrund dieser Konstruktion einer Totalillusion ist nicht nur ein theoretisches Spielen mit Wirklichkeitskonzepten, sondern eine philosophische und wissenschaftstheoretische Notwendigkeit. Um eine Hypothese – «Was wäre wenn …» – setzen zu können, muss man erst einmal aus der sogenannten Wirklichkeit zurücktreten, also aus dem epistemologischen Gefängnis heraus. Eigentlich eine banale Einsicht: Um zu wissen, dass man sich in einem Gefängnis befindet, muss man erst das Wissen oder die Erfahrung von einer Aussenwelt haben. Aber wenn man bedenkt, dass die Welt bzw. das Universum selbst eine Art Gefängnis sein könnte – Was war vor dem Urknall? Gibt es Paralleluniversen? etc. – gerät man schnell in zirkuläre Paradoxien. Theoretisch ist es denkbar, um beim Höhlengleichnis zu bleiben, dass der Ausbruch aus dem Gefängnis in die wirkliche/wahre Welt nur der Gang in ein weiteres Gefängnis ist.

Über diese erkenntnistheoretische Überlegung hinaus, liesse sich die These aufstellen, dass die wissenschaftlich-technische Rationalität davon angetrieben war, immer perfektere Gefängnisse zu bauen; und zwar für das Eintauchen in religiöse Zeremonien und künstlerischen Darbietungen – Tempel und Theater als geschlossene, von der Aussenwelt abgetrennte Welten. «Was künstlich ist», so der Homunculus in Goethes Faust, «verlangt geschlossenen Raum». Und aus diesem, so müsste man hinzufügen, ergeben sich neue Ansichten der Wirklichkeit.

Man richtet sich in den Innenräumen ein und träumt vom Draussen. Die Technik der virtuellen Realität, die Perfektionierung des Gesamtkunstwerks Tempel, Kirche, Theater, Oper oder Panorama, ist dafür ein besonders einprägsames Beispiel. Denn hier wird die Schnittstelle zur Tür. Sie stellt kein Fenster mehr dar, wie das ein Bild traditionellerweise tut, indem man einen Blick aus dem wirklichen Raum in einen illusionären Raum wirft, ohne diesen betreten zu können. In der virtuellen Realität können Wahrnehmung und Körper in den simulierten Raum mitgenommen werden. Umso mehr, indem Schritt für Schritt die Sinnesorgane von der Aussenwelt abgetrennt werden: Ohrhörer, Mikrofon, Datenbrille, Datenhandschuhe oder Datenanzug hüllen den Körper ein, um ihn abzukoppeln und an die Simulation anzuschliessen. Der letzt Gang zur Perfektion der Gefangenschaft ins prinzipiell unendliche Land der Simulation, würde im Übergang zur Stimulation des Gehirns liegen. Damit hätte man die Türe hinter sich geschlossen.

Mit der fortschreitenden Technik der Immersion in künstliche Welten oder der denkbaren Möglichkeit, Gehirne direkt zu beeinflussen, scheint sich aber die Fragerichtung verkehrt zu haben. Wittgenstein fragte sich noch, wie man der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas, also der vermeintlichen Wirklichkeit als Gefängnis, zeigen könnte. Das Prinzip ist ganz einfach: Fliegen suchen den Ausweg stets an der Seite oder oben, nie unten, wo sie in die Falle gelockt wurden, aber den weiter offenstehenden Ausgang nicht mehr finden. Im Gegenzug scheinen wir fasziniert davon zu sein, in der Falle zu stecken und uns zu beweisen, dass wir in der Falle stecken. Das ist aber gedanklich schwierig, denn um das zu beweisen, muss angenommen werden, dass es eine Welt ausserhalb des Fliegenglases (der Simulation, des Gefängnisses, der Matrix) gibt. Der Philosoph Hilary Putnam sprach von «Gehirnen im Tank». Diese Idee setzt einen externen Beobachter voraus, der sich erschliesst, wie es sein müsste, ein Gehirn im Tank zu sein, das glaubt, sich mit einem Körper in der Welt zu bewegen. Kann der philosophische Trick gelingen? Putnam macht entschlossen einen Schnitt und sagt, seinem Konzept des internen Realismus folgend, dass sich Gehirne im Tank, weil gefangen in der Simulation, auf nichts wirklich beziehen können. Deswegen könnten sie auch nicht denken, sie seien lediglich Gehirn in einem Tank. Nick Bostrom hat bereits 2003 in ‹Are You Living In a Computer Simulation?› mit dem «Simulationsar­gument» versucht darzulegen, dass wir wahrscheinlich in einer Computersimulation leben. Es sei statistisch aufgrund der Vielzahl von Exoplaneten, die von intelligentem Leben mit fortgeschrittener Technik bevölkert sein können – auch wenn wir noch keinen entdeckt haben – weitaus wahrscheinlicher, dass wir simulierte Personen in einer von einer fortgeschrittenen Zivilisation geschaffenen Simulation, einer Matrix, sind, auch wenn es sich nicht beweisen oder logisch ableiten lässt. Eine ähnliche Idee hatte Daniel F. Galouye in ‹Simulacron-3› (1964) als Science Fiction schon angedacht und Werner Fassbinder in «Welt am Draht» (1973) verfilmt. Aber die Vorstellungen sind nur deswegen faszinierend, weil die Möglichkeit von Parallelwelten geschildert wird, aber der Unterschied zwischen wirklicher und simulierter Welt erhalten bleibt, es nur einen gedanklichen Wechsel zwischen der einen und der anderen gibt. Bostrom kam denn auch zum Schluss, dass es eigentlich keinen wirklichen Unterschied mache, ob wir in einer Simu­lation leben oder nicht. Letztlich würden wir als simulierte Lebewesen «sterben», wenn sich das Gefängnis öffnet oder die Simulation endet.

Zuletzt hat der Informatiker und Spieleentwickler Rizwan Virk das Computerspiel-Simulationsargument in seinem heuer erschienenen Buch ‹The Simulation Hy­pothesis› weitergedacht. Ähnlich wie Bostrom geht er im Aufsatz «Science and the Simulation Hypothesis: 5 Reasons We May Be In the Matrix» von der schnellen technischen Entwicklung aus, die bereits stattgefunden hat. In neuen VR-Spielen und 3D-Welten spielen bereits Millionen von Menschen aus der ganzen Welt MMORPG (massively multiplayer online roleplaying game) zusammen. Das macht es plausibel, dass weitere Fortschritte zu hyperrealistischen und immersiven Spielewelten führen, bis sie, wenn der sogenannte «Simulationspunkt» erreicht würde, ununterscheidbar von der Wirklichkeit wären. Dazu würden 3D-Drucker zeigen, dass die materielle Welt von Information repräsentiert werden kann. Das wiederum soll die Denkmöglichkeit unterstützen, dass wir bereits in einer solchen gemeinsamen Welt leben – virtuell oder auch als Spieler, die wie Gehirne im Tank immersiv in die Simulation eingetaucht sind.

Virk führt überdies an, es werde gemeinhin an­genommen, dass die Planck-Länge die kleinste messbare Raumgrösse sei. Das würde, nimmt man auch die Planck-Zeit dazu, sinnfällig machen können, dass Zeit und Raum nicht kontinuierlich, sondern quantifiziert sein können, was ebenfalls für das Computerspielargument spreche. Die Computerspiele hätten deswegen solch schnelle Fortschritte gemacht, weil nur noch die betrachteten Bildteile gerendert werden. Ähnlich sei dies womöglich auch bei der Unschärferelation der Quantenmechanik, wie das das Gedankenexperiment «Schrödingers Katze» zeige: Die Katze im Kasten ist im überlagerten Zustand so lange gleichzeitig lebendig und tot, bis der Kasten geöffnet wird. Dadurch erst kann festgestellt (gemessen) werden, ob die Katze tot oder lebendig ist. Nach Virk würden auch die seit der antiken Philosophie durchgespielten Möglichkeiten von Paral­lelwelten oder die quantenmechanische Viele-Welten-Theorie, sein Simulationsargument stärken.

Warum aber sollte jemand solche Welten für simulierte Bewohner erschaffen, die darin nicht spielen, sondern (virtuell) leben? Was ist also «Gottes» Willen? Die Antwort von Virk in einem Interview ist ein wenig banal: «Es ist gut möglich, dass wer auch immer unsere Simulation geschaffen hat, sehen will, wo wir aufgrund von Zufallsentscheidungen enden werden. Werden wir uns selbst zerstören? Werden wir Atomwaffen bauen? Werden wir unsere eigene Simulation erschaffen?» Virk diskutiert auch Religionen wie den Buddhismus oder die christliche Tradition: In ihnen gebe es wie in Computerspielen auch Scores für die religiöse Leistung. Lebe man in einer Simulation, wäre es für ihn interessant zu wissen, welche Anforderungen gestellt werden, um voranzukommen, wobei es für jedes Individuum unterschiedliche Pfade geben könne.

Leben wir also in einer Simulation? Sind wir Gefangene? Haben wir es uns in den Simulationsgefängnissen bequem gemacht und wollen gar nicht mehr erwachen? Wir richten uns jedenfalls in den Gefangen­schaften ein, die Technik, Wissenschaft und Philo­sophie konstruiert haben – und sind davon fasziniert. Von Höhlenausgängen scheinen wir nicht mehr gross zu träumen, geschweige denn, uns ein Leben ausserhalb der simulierten Höhlen noch vorstellen zu können. Auch politisch träumen viele davon, die Grenzen endlich hermetisch dicht zu machen und nichts mehr von aussen in die Festung einzulassen, um die offene Welt und die Globalisierung hinter sich zu lassen und sich in die Heimeligkeit einer Höhle einzuschliessen.

Oder kehren wir mit den Fortschritten der Simulations- und Neurotechniken zu den Anfängen der Philosophie zurück, als die Unterscheidung zwischen Illusion und Wirklichkeit, Schein und Sein uns noch nicht beherrschte und das platonische Höhlengleichnis, das uns seit über 2000 Jahren beschäftigt, noch nicht erzählt war?

Florian Rötzer ist ein deutscher Journalist. Er studierte in München Philosophie, Pädagogik sowie Psychologie und ist Chefredakteur beim Online-Magazin Telepolis, zu dessen Gründern er gehört.

Ein Kommentar auf “Ausweg aus dem Fliegenglas

  1. Susanne Scheuermann sagt:

    Nach heutigem wissenschaftlichen Stand, vorrangig aus der Physik, dürfte man der Logik folgend eigentlich nicht an eine bewusste Schöpfung glauben. Sei es nun ein göttlicher Schöpfer im religiosen Kontext oder auch eine andere, intelligentere Zivilisation die die Geschichte der Erde und uns Menschen als Computersimulation erschaffen hat.
    Schlußendlich möchte ich aber nicht an zufällige, „glückliche“ Fügungen einer rein evoltutionsbedingten Entwicklung unserer Existenz als Mensch glauben.
    Nein, naiverweise geht mein Glaube und meine Wunschorstellung sogar weit darüber hinaus. Ein Weiterleben unseres Bewusstseinsin einer wenigstens rein geistigen Form, nach dem Ableben unserer physischen Existenz, in der sich jeder seine Welt, gemäß individuellen Erfahrungsschatz, erdenken und in ihr „leben“ kann.
    Weniger aus Eigeninteresse und Trostvorstellungen für mich persönlich, sondern insbesondere als Hoffnung für Abermillionen von Kindern und auch Tieren, die bis heute unerträglichem Leid ausgesetzt waren und sind.
    Ich kann für mich persönlich einfach nicht akzeptieren, dass das Leben das insbesondere so viele Kinder und auch Tiere dieser Welt führen müssen, alles für sie gewesen sein soll.
    Ausbeutung, sexueller Missbrauch, bitterste Armut, Kriegstraumata, seelische-körperliche Misshandlung etc., die die Schwäschsten seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte zu ertragen haben.
    Ich persönlich kann es für mich nicht ertragen und akzeptieren, dass all dieses Leiden sinnlos und ohne eine nachfolgende „Entschädigung“ sein soll.
    Unabhängig davon, ob unsere Welt schlussendlich einem Schöpfer im religiösen Kontext oder intelligenten Zivilisationen als Computersimulation zu verdanken ist.
    Vielleicht beruht unsere Existenz auf der erdachten Geschichte eines Märchens.
    Im Märchen sind am Ende immer die Sieger und Gewinner. Die Schwachen, Betrogenen, Armen, Unterdrückten, Ungeliebten, Misshandelten, Guten, Unschuldigen etc.

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