Im Jahr 2022 heisst der höchste Berner mit Nachnamen von Graffenried, so wie das schon ab 1590, 1623, 1651 und 1700 der Fall war.

Bevor er von seinen Untertanen auf seinem Ross und auch sonst bewundert wurde, war er ein ganz normaler Patrizier.

Denn ja, in Bern liebt und lebt man die Beständigkeit. Eines der schönsten Geschenke, die die Menschen in Bern erhalten haben – natürlich nebst dem Fakt, dass sie Bernerinnen und Berner sein dürfen, was ein Privileg ist, welches an Luxus und Beständigkeit, insbesondere der Beständigkeit von Luxus, nicht zu überbieten ist – ist, dass die Berner Altstadt zum UNESCO-Welterbe ernannt wurde. Das passt zur Stadt und deren Einheimischen, die ja auf ihre Beständigkeit stolz sind, darum ist dieses Geschenk ein i-Tüpfelchen auf der Grossartigkeit Berns, und deshalb sehen sie auch kein Problem darin, dass seither die Menschen, die in der Altstadt wohnen, einzig rote Geranien auf ihren Fenstersimsen haben dürfen. Ob das auch während der letzten 500 Jahren schon so der Fall war, als Alec von Graffenrieds Vorfahren die Stadt regierten, ist nicht klar.

Weil viel wichtiger ist es doch, dass alle am selben Strang ziehen! Und was für ein Strang das ist! Ein ganz alter Strang, beschmiert mit Bärenschmalz und gewoben aus dem Hanf, den die Untertanen der Berner Burger vor Jahrhunderten dem beständigen Berner Boden für ebendiese Burger abgerungen haben, und das haben sie mit Stolz gemacht! Stolz erfüllte sie, dass sie als Untergebene einer solch beständigen Oberschicht dienen durften und wer hätte damals gedacht, dass das bis 2022 und darüber hinaus anhalten würde? Bäuerinnen und Bauern des 17.Jahrhunderts, erhebet eure Hand! – Wieso? – Ja, zur Abstimmung. Ach, ihr wisst nicht, wie das geht? Ach, ihr wollt das gar nicht? Natürlich wollt ihr das nicht! – Das wussten die Burger schon 1832, als es hiess, dass nun die meisten, der in Bern ansässigen Männer Berner Bürger werden würden. Zum Glück haben die Burger blitzschnell und originell reagiert, indem sie deklariert haben, dass, wenn nun alles männliche Gesindel Bürger sein soll, dann seien sie eben die Burger. Wobei wir wieder bei den Tüpfelchen wären. Nicht i, sondern ü, weil die Burger sind irgendwie schon das doppelte i-Tüpfchen der Stadt Bern.

Aber wo ist nun unser Lieblingsburger Alec von Graffenried geblieben? Sitzt der mit Kartonkrone auf dem Kopf im Burger King? Wehe dem, der sich Derartiges auch nur ansatzweise vorstellt! Der wird sofort am LOEB Egge an den Pranger gestellt! Denn Bern ist einer der wenigen Orte auf dieser Welt, wo sich Würde und Bürde der alten Sitten erhalten konnte! Deshalb reitet von Graffenried hoch auf seinem Ross Patrizia die Berner Gerechtigkeitsgasse hinunter. Er ist zufrieden mit seinen Untertanen, die er allerdings nur verschwommen sieht, da Patrizia ein ausgenommen hohes Ross ist. Die Untertanen nicken ihm zu und sagen: «Ah, lug dert, dr vo Graffenried. Hei, dasch de no ä Stapi! Ufem Ross, he! Geilä Siech. Dä hani äbä gwäut! Mou. Sicher nid diä Ursle Wyss.»

Wer aber ist Ursle Wyss? Fast könnte man ob einer solchen Aussage denken, er wäre nur gewählt worden, damit sie nicht gewählt wird? Was natürlich ein anmassender Gedanke ist, denn Ursula Wyss war, als es damals zur Stichwahl kam, eine profilierte Politikerin. Und von Graffenried im Vergleich zu ihr politisch viel unerfahrener. Von daher muss er wirklich ein überaus toller Siech sein, weil sonst wäre er ja nicht gewählt worden von den Burgern und Nichtburgern der Stadt!

Das war 2016, also ein Jahr vor metoo, aber damit hat das hier nichts zu tun. Hier geht es um Politik, nicht um das Geschlecht. Ausserdem sind ja alle Beteiligten links. Und die Linken haben das Schweizer Frauenstimmrecht erfunden, insbesondere Christian Levrat, wie dieser damals an der 40 Jahre Frauenwahlrechtsfeier der SP in Bern bekräftigte, an der ich per Zufall auch teilnahm. Mit Misogynie kann das also nicht zusammenhängen.

Und dann kommt noch hinzu, dass von Graffenried bekannterweise ja gar nicht für das Amt des Stadtpräsidenten hatte kandidieren wollen! Nein, ganz und gar nicht! Das war überhaupt nicht seine Idee gewesen, heisst es von überallher. Er war nämlich vollends zufrieden mit seinem Platz im Nationalrat und seinem Job als Direktor der Baufirma Losinger Marazzi gewesen, die beispielsweise den Prime Tower gebaut hat, und natürlich mit seinem Dasein als engagierter Baulobbyist in der Regierung. Das habe ihn erfüllt und auch müde sei er gewesen und hätte selbst eben gar nicht kandidieren wollen. 

Was also ist geschehen? Um nachzuvollziehen, was diesen Rückschritt verursachte, dass ein Patrizier heute Stadtpräsident ist, müssen wir einen Rückschritt in das Bern von 2016 machen. Bevor Alec von Graffenried – Alec ist übrigens sein Politikername, eigentlich heisst er Alexander von Graffenried – also bevor der von seinen Untertanen auf seinem Ross und auch sonst bewundert wurde, war er ein ganz normaler Patrizier, und ein anderer Alexander regierte Bern. Die Stadt erinnert sich noch heute lebhaft an ihn: Alexander Tschäppät, auch bekannt unter dem Namen Tschäppät der Windige oder, ganz salopp: Cüpli-Tschäppi. Denn ja, wäre der Cüpli-Sozialismus nicht bereits erfunden gewesen, Tschäppät hätte ihn erfunden. Der war aber sicher froh, musste er sich nicht auch noch um diese Invention kümmern, denn so hatte er mehr Zeit, um auf seinem BMW-Töffmobil mit Halbdach und wild im Wind flatternden Trenchcoat von Cüpli-Event zu Cüpli-Event zu fliegen.

Das waren noch Zeiten! Da war der Stadtpräsident tatsächlich noch mit diesem absolut unsinnig-futuristischen Töffmobil in den Gassen der Altstadt unterwegs, um dann an Vernissagen, an denen ich per Zufall auch dabei war, laut kundzutun: «Ig säge dirs, Chrigu, zersch machsch Karriere u när geisch id Politik! Das isch ds Beschte! Soumässig eifach u es klappet!» Dabei wedelte er wild mit seiner Hand, in der er, natürlich, sein obligates Cüpli hielt. Seine Hände waren sowieso immer in Bewegung, wie das bei einem Macher-Typ der Fall ist, im Nationalrat sind sie dann halt während der Sitzung manchmal aus Verlustgründen, dass sie weder Cüpli noch Töff halten konnten, flott auf Knie oder Oberschenkel von jungen Mitpolitikerinnen gelandet, alles im sozialistischen Sinn, ist ja klar! Kurz gesagt: Der Tschäppät war ein Stadtpräsident mit Format und einem Töff mit raffiniertem Profil, und als er leider nach 12 Jahren abtreten musste (übrigens genau wie sein Vater Reynold Tschäppat, der zufälligerweise auch 12 Jahre lang Berns Stadtpräsident war!), da war in Bern klar, das wird schwierig mit der Nachfolge.

Von Seiten der SP war dann eben Ursula Wyss die Kandidatin. Und Ursula Wyss war zwar jung und sympathisch, aber sie war eben leider auch sehr erfahren in der Politik. Seit 2013 im Gemeinderat der Stadt Bern, von 1999 bis 2012 Nationalrätin, 2006 bis 2012 Präsidentin der SP-Fraktion im Bundeshaus, 2004 bis 2006 Vizepräsidentin der SP Schweiz, 1997 bis 1999 Mitglied des Grossen Rates des Kantons Bern, ja phu, das klang dann irgendwie doch fast so, als würde sie die Politik ernst nehmen und irgendwie auch gut und engagiert sein darin. Also alles Punkte, die dem Berner Stimmvolk wohl suspekt erschienen sind. Es kann ja eben nicht daran gelegen haben, dass sie eine Frau ist, weil Bern ja eine links-grüne Stadt ist.

Die Burger und Nichtburger haben sich also an ihren beständigen Köpfen gekratzt und ihnen wurde klar: Eine junge Frau wäre einfach zu unprofessionell, insbesondere eine, die wirklich professionell ist! Denn eigentlich war ja eh klar, dass auf Alexander Tschäppät, den Stadtpräsidentensohn, nur ein anderer Alexander folgen konnte, und zwar einer, der mindestens genauso Sohn ist. Und da sind die Menschen in Bern eben immer sehr froh und dankbar für ihr Patriziat. Es ist auch wirklich praktisch, beispielsweise ist die Wohnungssuche sehr übersichtlich, da ca. die eine Hälfte der Stadt Bern der Burgergemeinde und die andere Hälfte der von Graffenried AG Liegenschaften gehört. Und es ist halt auch ein bewährter Wert, wenn man einen Burger in die Regierung wählt.  

 Bald erschienen Artikel darüber (zufälligerweise war bis 2012 der Verleger der zwei grossen Berner Stadtzeitungen ein anderer Herr von Graffenried), dass Alec von Graffenried kandidieren solle, weil er so ein toller Typ sei. Weil mit politischer Erfahrung konnte er ja neben Ursula Wyss nicht gerade punkten. Dafür ist er über zehn Jahre älter als sie und das ist auch Lebenserfahrung! Und dann, nun ja, ist er zwar Mitglied der GFL, einer kleinen Partei, die die Farbe Grün im Namen trägt, aber zum Beispiel die SVP hat ja auch eine Sonne im Logo und die setzen sich auch nicht für Solarenergie ein! Ein Grüner Baulobbyist, das ist doch fast wie Cüpli-Sozialismus! Irgendwie so muss die Logik derer gewesen sein, die von Graffenried als Stadtpräsidenten forderten. Und der folgte artig dem Ruf, den seine Vorfahren und deren Untertanen durch die Münder der heutigen Untertanen und sicher auch einiger Kollegen an ihn richteten.

Also kandidierte er und als sich plötzlich die Frauen der Grünen für Ursula Wyss aussprachen und ihn aufforderten, auf seine Kandidatur zu verzichten, weil es wäre doch an der Zeit, dass endlich auch einmal eine Frau Stadtpräsidentin werden würde und ausserdem sei sie ja auch erfahrener als er, da fand er: Nein, er bleibt bei seiner Kandidatur, er, der nämlich gar nicht kandidieren wollte! Weil das macht doch Sinn! Jawoll! Und mit seiner determinierten Standhaftigkeit war er Hoffnungs- und Sympathieträger und wurde gewählt. Sicher nicht, weil etwa der Wahlkampf tendenziell schmutzig war und Ursula Wyss sehr verunglimpft wurde, nein, er wurde gewählt, weil Bern einen Patrizier an der Spitze will. Weil das sieht einfach super aus, wenn durch die UNESCO-geschützte Altstadt ein Patrizier auf seinem Ross reitet, der auch noch Stadtpräsident ist! Geilä Siech!

Anaïs Meier ist Gast-Co-Redaktorin dieser Ausgabe. Von ihr erschienen die Bücher «Über Berge, Menschen und Bergschnecken» (mikrotext, 2020) und «Mit einem Fuss draussen» (Voland & Quist, 2021).

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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