Neben der sexuellen Dienstleistung erfüllen Sexarbeitende auch psychologische und emotionale Bedürfnisse ihrer Kundschaft. Sexarbeit ist also auch Care-Arbeit. Und wie andere Care-Berufe, beinhaltet Sexarbeit viel unbezahlte Arbeitszeit und erfährt zu wenig Wertschätzung.

Er atmet immer noch schwer. Der benutzte Gummi liegt auf dem Boden des Hotelzimmers. Es riecht nach Schweiss, Gleitmittel und Sex. Seine Zeit ist abgelaufen und offiziell ist meine Arbeit als Sexarbeiter hier getan. Doch so einfach kann ich nicht aus dem Zimmer in die Dusche verschwinden. «Weisst du, manchmal denke ich, wenn ich jünger wäre, könnte ich mich vielleicht outen und würde ein anderes Leben führen», klingt es aus dem Mund des Mannes Mitte fünfzig, der mich gerade für 30 Minuten Sex bezahlt hat. 

Solche Kommentare kann und will ich nicht einfach ignorieren. Es sind Fragen oder Bemerkungen, die oft aus dem intimsten Innern meiner Kunden kommen. Gedanken, die sie sonst vor niemand anderem ausdrücken können. Ihnen in solchen Momenten einfach die kalte Schulter zu zeigen, ist nicht einfach. 

Nach getaner Arbeit wasche ich mir die Hände im Wissen um den falschen Namen, Wohnort und Lebensgeschichte, die ich ihm erzählt habe. Und er? Er kriecht langsam aus dem Bett, zieht sich seine Hose wieder an und erzählt mir die intimsten Dinge seines Lebens. Momente wie diese können schön, menschlich und intim  sein – aber auch verdammt anstrengend. Nicht zu vergessen, dass seine Zeit schon abgelaufen ist und das Gespräch für mich keine zusätzliche Bezahlung einbringt. 

Da ich als männlicher Sexarbeiter nur Sexarbeit für Männer anbiete, drehen sich diese Gespräche oft ums Thema Homosexualität oder die Ehefrau und Kinder zu Hause. Einige können sich mir gegenüber wohl nur deshalb öffnen, weil sie mir gerade sowieso schon ihre tiefsten Geheimnisse und  sexuellen Fantasien offenbart haben. In diesen Gesprächen gilt es für mich das Gleichgewicht zwischen emotionaler, ehrlicher Unterstützung und professioneller Abgrenzung zu finden.

Es sind diese Gespräche, die mich als Sexarbeiter am meisten fordern. Nicht die Momente, in denen ich mit einem Kunden sexuell interagiere. Nein, es sind jene Momente, in denen ich mit den wahren Gedanken, den ehrlichen Gefühlen und dem menschlichen Empfinden eines Kunden konfrontiert bin. Denn dann beginnt meine psychische Care-Arbeit. Der Teil meiner Arbeit, der sich um die Bedürfnisse meiner Klienten dreht, die nicht körperlicher Natur sind. 

Ein neues Treffen

Wieder ist sein Atem laut, die Kondompackung liegt zerrissen auf dem Boden und wieder riecht es nach Feierabend für mich. Diesmal schaut er mir jedoch kaum in die Augen, will möglichst schnell von mir weg und wie es scheint, schämt er sich dafür, mich gerade für homosexuellen Sex bezahlt zu haben. Er erzählt mir nichts von sich, reflektiert das Geschehene nicht – heute geht es allein um Sex und alles was dazu gehört: Fetische, Wünsche, Stellungen, Rollen, Geräusche, Gerüche. Der Kunde wünscht sich etwas und ich erfülle es ihm, solange ich mich dabei vollumfänglich wohl fühle. 

Bei solchen Treffen bin ich weit entfernt von therapeutischer Care-Arbeit. Ich bin für meinen Kunden ein sexuelles Objekt, gewissermassen ein Spielzeug. Und das ist für mich von A bis Z in Ordnung. Denn auch wenn ich objektiviert werde: Ich entscheide über die Dauer, ich entscheide über den Ort, ich entscheide über alles. Doch auch diese rein sexuellen Treffen gehören zur Care-Arbeit. Ich mache jene Arbeit, die sonst keine Person im Umfeld meines Klienten leistet: Ich erfülle seine körperlichen Grundbedürfnisse. Wenn das keine Care-Arbeit ist, dann weiss ich auch nicht. 

Ich handhabe in meinem Beruf eine grosse Bandbreite an Situationen und befriedige vielschichtige Bedürfnisse. Einerseits sind es sexuellen Dienstleistung. Andererseits werden genau dadurch emotionale Anliegen meiner Kunden offengelegt und verlangen meine Aufmerksamkeit. Mit beiden Aspekten und Bedürfnissen eines Kunden umzugehen, ist für mich gleichzeitig einer der grössten Reize und Herausforderungen an der Sexarbeit. 

Zu verstehen, dass mein Beruf zu Care-Arbeit gehört, hilft mir. Durch diesen Blick und dem Wissen, dass ich das Ganze total selbstbestimmt mache, bin ich meilenweit vom gesellschaftlichen Denken entfernt, dass ich «mich verkaufe» würde oder «tief gesunken» sei. Nein, ich leiste Care-Arbeit, die getan werden muss. 

Wie in ganz vielen anderen Berufen, in denen Care-Arbeit geleistet wird, gibt es auch in der Sexarbeit einige Defizite. Zwei davon sind die fehlende Wertschätzung und der hohe Anteil unbezahlter Arbeitszeit. Ins Thema Wertschätzung will ich gar nicht erst zu tief einsteigen: Sexarbeit ist von Wertschätzung so weit entfernt, wie das nordische Modell Sexarbeiter:innen hilft. Meilenweit. Überhaupt, wie soll ich über die Wertschätzung meines Berufes reden, wenn ich mich kaum wage, einer Person davon zu erzählen? Auch die Wertschätzung der Kunden, bei mir sind es nur Männer, lässt oftmals zu wünschen übrig. Viele von ihnen versuchen die Preise runter zu handeln, versuchen die Zeit hinauszuzögern, verlangen Dinge, die nicht vereinbart wurden. Kurzum: Viele Kunden übernehmen das gesellschaftliche Bild von Sexarbeitenden und haben so jeglichen Respekt vor mir und meiner Arbeit verloren. 

In solchen Momenten muss ich stur, professionell und knallhart reagieren. Damit verliere ich potenzielle Kunden, doch schlussendlich will ich mich auch nur mit solchen Menschen treffen, die ein gewisses Mass an Freundlichkeit, Respekt und eben auch Wertschätzung mir gegenüber an den Tag legen. Dass ich diese Freiheit habe, ist in der Sexarbeit ein enormes Privileg. 

Doch nicht nur die fehlende Wertschätzung teilt die Sexarbeit mit anderen Care-Berufen, sondern auch den hohen Anteil unbezahlter Arbeitszeit. Das beginnt schon bei der ganzen Vorbereitung: Kondome und Spielzeug einkaufen, Gleitmittel und Kostüme besorgen, Test- und Arzttermine vereinbaren, Intim- und Körperhygiene betreiben. All dies benötigt viel Zeit. Während die erwähnten Punkte nun auch einfach als Vorbereitung oder gar persönliche Bedürfnisse eingestuft werden könnten, sind die ganzen Terminvereinbarungen ganz klar unbezahlte Care-Arbeit. 

Habe ich mit einem Kunden via Mail, Telefon oder Chat einen ersten Kontakt hergestellt, kommen direkt Fragen zu den Leistungen. Dabei ist der potenzielle Kunde oftmals bereits erigiert und befriedigt sich während er mich Dinge fragt, wie: «Wie würdest du denn stöhnen?». Oder: «Würde dir dieses oder jenes gefallen?». 

In diesen Situationen versuche ich ganz neutral, klar und sachlich zu bleiben. Schliesslich gehört das noch nicht zu meiner bezahlten Arbeitszeit und aus Erfahrung  weiss ich, dass es mit dem Abspritzen des Kunden gar noch vor einem bezahlten Treffen enden kann. So habe ich dann Zeit in Nachrichten und Verhandlungen investiert, seine sexuellen Bedürfnisse erfüllt und das alles ohne, dass je ein Treffen zustande kam. Aufwand hoch – Lohn null: Willkommen in der unbezahlten Care-Arbeit. Willkommen im Alltag von Sexarbeitenden. 



A. ist 24 Jahre alt und arbeitet seit mehreren Jahren in der Schweiz als männlicher Sexarbeiter. Dabei bietet er nur Dienstleistungen für Männer an. Zusammen mit anderen in der Schweiz arbeitenden Sexarbeiter:innen ist er Teil des «sexworkers collective». Diese Kollektiv engagiert sich gegen die Stigmatisierung, Diskriminierung und Kriminalisierung von Sexarbeit und Sexarbeiter:innen.

Ein Kommentar auf “Blowjobs sind meine Care-Arbeit

  1. Adrian sagt:

    OMG was für ein guter Text!

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