Um der Bedeutung Jüdischen Lebens in der Schweiz aus einer historischen Perspektive näherzukommen, habe ich mich mit Naomi Lubrich, Direktorin des Jüdischen Museums der Schweiz, unterhalten. Das Jüdische Museum der Schweiz wurde 1966 in Basel als erstes jüdisches Museum im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet. Die vergangene Ausstellung «Buchstäblich Jüdisch» stellt Fragen nach Definitionen, Fremd­zuschreibungen und Selbstbeschreibungen des Jüdischen im Verlauf der letzten 400 Jahre. Im Gespräch werden Zitate aus Enzyklopädien umschrieben, die teilweise antisemitische und rassistische Aussagen enthalten. In den letzten drei Fragen geht es um die Geschichte und Gegenwart des Museums. Für alle, die lieber nur diesen Teil lesen wollen.

Aurelia Rohrmann: Wie ich gehört habe, seid ihr mitten im Umzug und ich habe die Ausstellung gerade verpasst?

Naomi Lubrich: Die Ausstellung ist seit gestern im Depot. Wir haben einen neuen Standort an der Vesalgasse 5. Das ist ein grosses, altes Haus, bisher ohne Wasseranschluss und ohne Strom. Vor dem Umbau haben wir eine Pop-Up Ausstellung aufgebaut, die «Buchstäblich Jüdisch» hiess. Wir haben uns 175 Lexikon­einträge der vergangenen 400 Jahre angesehen. Wie wurde «jüdisch» definiert? Was galt als jüdisch über die verschiedenen Zeiten? Wir haben uns nicht nur die typischen Enzyklopädien wie Brockhaus oder das Schweizerische Idiotikon angesehen, sondern auch Nischen-Enzyklopädien. Wie zum Beispiel das Damen Conver­sations Lexikon aus dem Jahr 1836. Je nachdem wer schreibt, aus welcher Region, in welcher Zeit, gibt es vollkommen unter­schiedliche Deutungen des Jüdischen.

AR: Diese Fragen beschäftigen die Menschen ja bis heute. Worüber wurde geschrieben, was heute nicht mehr die Frage ist? Was hat dich überrascht bei den Einträgen?

NL: Man sieht eine Art Kulturgeschichte der Projektionen. Im 17. Jahrhundert noch waren die Lexikonschreiberinnen sehr mit der Frage beschäftigt, welche Religion die Richtige ist. Wie steht das Judentum im Vergleich zum Christentum? Warum ist das Judentum älter und das Christentum aber dennoch die Religion, die sich durchgesetzt hat? Oder in der damaligen Ausdrucksweise – die wahre Religion? Dann kam eine ganze Zeit, in der sich die jüdische Emanzipation auch in den Einträgen niedergeschlagen hat. Sind «Juden» und «Nichtjuden» eigentlich gleich? Wo haben sie welche Rechte? Warum haben sie in Frankreich schon seit 60 Jahren Rechte, die sie in der Schweiz noch nicht haben? Und dann kommt eine sehr unglückliche Zeit, in der die Physiognomik eine grosse Rolle gespielt hat. In den Lexika findet man statistische Angaben: «Wie gross ist der durchschnittliche Jude? Wie kraus ist sein Haar? Wie sehen die Nasen von Jüdinnen aus?» Schlägt man das Lexikon auf, liest man drei Seiten lang von körperlichen Merkmalen. Wie sehen die Knie aus? Wie sehen die Füsse aus? Aus heutiger Sicht natürlich vollkommen belanglos. Mit der Zeit haben manche Enzyklopädien die Erkenntnis gewonnen, dass Charakter und Eigenschaften sich nicht durch den Körperbau erkennen lassen. Sie stellten fest, dass in der Türkei die JudenJüdinnen anders aussehen als in Skandinavien. Wie kann das sein, dass – wenn es eine jüdische «Rasse» und jüdische Charaktermerkmale gäbe – sie im Süden anders aussehen als im Norden? Manche führten das auf eine «Durchmischung» zurück, beharrten aber insgesamt noch auf rassistischen Ideen.

AR: Ich glaube, bis heute ist das Thema der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit präsent. JudenJüdinnen werden von aussen nicht gleich markiert wie BIPoC (Black, Indigenous, and People of Color). Der nicht-jüdische weisse Blick soll JudenJüdinnen sichtbar machen, was aber nicht funktioniert, weil «Rasse» ein Konstrukt ist und weil äusserliche Merkmale – so sehr man es auch versucht hat – sich Menschen nicht aufzwingen lassen.

NL: Interessanterweise hat sich das auch von selbst dekonstruiert. Wir haben einen Satz aus einem Lexikon von 1932 aus Rom und dort steht als erster Satz: «Judentum ist keine Rasse». Sie fangen mit dieser Pauschalbehauptung an, doch dann geht es trotzdem weiter mit statistischen Angaben des Körperbaus. Die Einträge aus der Nazizeit sind einerseits ganz erschreckend, andererseits absurd. Beispielsweise 1941 in Leipzig. Der erste Absatz klingt eigentlich wie alle anderen Einträge zum Judentum: Das Judentum entstand 1700 v. Chr. in Mesopotamien und so weiter. Und dann: Cut. Im nächsten Absatz: «Juden» seien «Schädlinge» und müssten vernichtet werden, sie hätten sich zu «geistigen Führern» aufgebauscht, seien übel und so weiter. Ein fürchterlicher Absatz. Dann wieder: Cut. Der nächste Absatz: Adolf Hitler hat das «Problem» erkannt und wird es lösen. Die Einträge aus der Neusten Geschichte sind auch interessant. In einem Eintrag aus der DDR behaupten die Lexikon­schreiberinnen, dass die «Arbeiterbewegung» den Antisemitismus ganz natürlicherweise ausrotten würde. Es gibt auch positive Einträge, etwa von 1994 im Wörter­buch der Soziologie. JudenJüdinnen werden so beschrieben, als seien sie qua Herkunft brillant.

AR: Wie nennt sich denn diese Art von Antisemitismus, wenn Juden*Jüdinnen eine Pauschalisierung von positiven Attributen zugeschrieben wird?

NL: Der Begriff lautet Philosemitismus. In diesem Fall liegen die gleichen Stereotypen zugrunde, die dann aber positiv gewendet werden. Dass Philosemitismus in Deutschland 50 Jahre nach dem Krieg Fuss gefasst hat, hat vor allem mit der «Wiedergutmachungs­politik» Deutschlands nach der Shoah zu tun.

AR: Das waren nun alles Zeugnisse mit einem nicht-jüdischem Blick. Habt ihr auch Selbstzeugnisse gesammelt?

NL: Das ist eine gute Frage. Wir haben die Einträge aus jüdischen Enzyklopädien mit den anderen Lexika verglichen. Dort haben wir festgestellt, dass über viele Fragen diskutiert wurde. Die jüdischen Enzyklopädien haben auch danach gefragt, ob das Judentum eine «Rasse» sei. Die Lexikonschreiber*innen fanden aber wenig, was an ihnen anders sein sollte. Sie wiesen jedoch auf einen physio­logischen Unterschied hin, der sich angeblich feststellen liess, nämlich die früher einsetzende Menstruation.

AR: Diese rassistische Idee, anhand biologistischer Merkmale die Menschen zu kategorisieren, ist ein globales Phänomen. Die Ausstellung bildet sowohl den deutschsprachigen, sowie auch den englisch-, französisch- und italienischsprachigen Raum ab. Was habt ihr denn für Einträge in der Schweiz gefunden?

NL: Das war erschreckend und ein bisschen erheiternd zugleich. Ein Bild war besonders vieldeutig. «Der Jude» sei in der Idiomatik eine Karte, die falsch herum liegt im Kartendeck. Irgendwie wie alle anderen, aber anders. Es gibt sehr viele Phänomene, die dann das Wort «Jude» bekommen haben. Im Malerhandwerk ein Tropfen, der fällt und der im Fallen eingetrocknet ist. Bis heute! Wir haben dazu das Vorarlberger-Mundart-Lexikon von 2008 konsultiert. Juden*Jüdinnen haben sehr gut als Projektionsfläche gedient für alle möglichen Ideen des «Anderen».

AR: Vielleicht können wir noch einmal auf die Geschichte des Museums zurückkommen. Das Jüdische Museum der Schweiz ist eines der ersten Jüdischen Museen. Wie kam es zur Gründung?

NL: Eine wirklich faszinierende Geschichte. Nach dem Krieg, um die 1960er Jahre, haben sich deutsche Intellektuelle um Heinrich Böll gefragt, was überhaupt noch an jüdischer Materialkultur übriggeblieben ist. Sie fanden sehr wenig. Das meiste wurde ins Ausland gerettet oder von den Nazis zerstört. Was sie jedoch fanden, waren Objekte in der Schweiz. Hier haben die Objekte den Krieg unzerstreut und unzerstört überlebt. Insbesondere fanden sie im damaligen Völkerkundemuseum (heute Museum der Kulturen Basel) einen ganzen Schatz an jüdischen Objekten, die zur Jahr­hundertwende gesammelt wurden. Diese Objekte wurden zum Kern der Ausstellung «Germania Judaica», die 1963/64 in Köln gezeigt wurde. Die Baslerinnen gingen nach Köln, um sich die Ausstellung anzuschauen und waren beeindruckt, dass die Schweiz einen Schatz besass, über den die Welt gerade staunte. Und so wurde im Dialog mit Deutschland 1966 ein schweizerisches Museum aufgemacht, das ein Pionier seiner Art war. 1966 war das 100-jährige Jubiläum der Gleichberechtigung der JudenJüdinnen in der Schweiz. Die Objekte, die in der Welt für Staunen gesorgt haben, werden seitdem hier ausgestellt.

AR: Wie geht ihr jetzt mit diesem Material um? Wie bereitet ihr die Gegenstände 2022 neu auf und wie schafft ihr es, nicht in stereotypen Darstellungen oder einer Erinnerungspolitik des letzten Jahrhunderts zu verharren?

NL: Was für Deutschland gilt, gilt nicht unbedingt für die Schweiz. Hier ist das Wissen über das Judentum und jüdisches Leben nicht so verbreitet, denn es hat nicht dieselbe Art der Aufarbeitung gegeben. Insofern haben wir in der Schweiz doch noch immer die Rolle, dass – wenn Schulklassen zu uns kommen – wir den Leuten oft zum ersten Mal von einer nicht-christlichen Religion erzählen. Die Thorarolle ist für die Besucherinnen ein eindrucksvolles Objekt. Die Feiertagsvergleiche finden auch Anklang: es interessieren sich viele für Themen wie Chanukka. Das jüdische Lichterfest Chanukka im Monat Kislev (November/Dezember) erinnert JudenJüdinnen an die Geschehnisse um das Jahr 164 vor der Zeitenwende, als es ihnen verboten war, ihre Religion frei auszuüben. Auf diese Unterdrückung antwortete die jüdische Makkabäer­revolte, nach deren Erfolg ein Leuchter mit geweihtem Öl entzündet wurde, der acht Tage lang brannte. Aber auch Beschneidung ist ein wichtiges Thema, gerade für muslimische Schulkinder. Das ist etwas, was sie verbindet.

AR: Als letzte Frage: wie würdest du denn «jüdisch» definieren?

NL: Es ist ein Gemisch von sehr vielen verschiedenen Dingen. Judentum ist gleichzeitig eine Kultur, eine Ethnizität, eine Religion und eine Erfahrungsgemeinschaft. Das Judentum ist ein sehr amorphes Konstrukt, das immer wieder neu definiert wird.

Aurelia Rohrmann studiert «Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts» in Jena. Sie liest viel und schreibt ein wenig. Anlässlich des Themenjahrs «Neun Jahrhunderte Jüdisches Leben in Thüringen» hat sie in an einem interaktiven Themenportal mitgewirkt.
Naomi Lubrich wurde 1976 in Toronto geboren und ist die Leiterin des Jüdischen Museums der Schweiz. Sie studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in New York und Berlin, wobei Jüdische Studien und Kostümgeschichte ihre Schwerpunkte waren. Zuvor arbeitete sie am Metropolitan Museum of Art und am Jüdischen Museum Berlin.

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