Was bisher geschah: Bundesrat Liechti regt sich über seine Nachbarn auf – sie schneiden ihre Bäume nicht! Ausserdem braucht er eine Auszeit vom Bundeshaus. Er haut ab und reist mit der SBB nach Herzogenbuchsee. Auf dem Weg findet er ein seltenes, köstliches Gut wieder: Langeweile.

Bundesrat Liechti ist im Elend. Das Parlament hat eine von ihm in jahrelanger Arbeit gereifte Gesetzesänderung abgelehnt. Bundesbern scheint einfach nicht parat für Hochbegabte wie ihn. Sein Telefon versteckt er in der Jackentasche des persönlichen Mitarbeiters, der sich um die enttäuschten Kollegen im Departement, die schadenfreudige Presse und um trostsuchende Bürger kümmern soll.
Niederlage – Liechti mag dieses Wort weder hören noch benutzen, noch soll es überhaupt existieren. Er mag es so wenig wie den Rattenschwanz an Bedeutungen, den es nach sich zieht. Versagen, Scheitern, Schmerz, Siechtum – und die einzige Assoziation, die einen Lichtblick darstellt: Freitod. «Es ist mir verleidet. Als Bundesrat hörst du nie: Gute Idee, das machen wir! Sondern immer nur: Zurück auf Feld eins.»
«Vergessen Sie’s», sagt Steiner, sein persönlicher Mitarbeiter. «Das Leben geht weiter. Hoffentlich.»
Liechtis Hochbegabung manifestiert sich unter anderem in der Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen. Jetzt etwa liest er, dass Steiner genug hat von seinen Klagen. Denn dieser blickt totenbleich auf die fliehende Landschaft unter ihm.
Die beiden fliegen im Helikopter nach Liechtenstein. Sofern der Helikopter Vaduz erreicht. Nichts ist so sicher wie der Tod, denkt Liechti beschwingt, als eine Windböe sie in unmittelbare Nähe einer erodierten, vom Gefühl her vertikal in den Raum hängenden Glarner Kuhweide trägt.
Selbstverständlich spielt der angegurtete und behelmte Liechti mit dem Tod aus dem gleichen Grund, weshalb Männer gern mit dem Tod spielen: Sie suchen das erregende Erlebnis, bei dem sie dem schwarzen Nichts nur um Haaresbreite entrinnen. In diesen viel zu seltenen Momenten im Helikopter bedeutet das Bundesratsdasein, einen Beruf auszuüben, der so männlich ist wie Kosmonaut, Stierkämpfer, Tiefseetaucher, Velokurier oder Bauarbeiter. Liechti kostet es aus, dass eine einzige Fehlmanipulation seines Piloten sein Leben beenden und irgendein minderwertiger Kompromisskandidat, Panaschierkönig oder Zauderer seinen Platz einnehmen könnte.
Seine Frau verbietet ihm, die OSZE-Ministerkonferenzen für privatmotorisiserte Runden auf Rennstrecken in Hockenheim, Le Mans, Estoril, Silverstone oder Monza zu nutzen. Wegen seinem schwachen Leistungsausweis als Schwimmer verzichtet Liechti auf den jährlichen Genfersee-Segeltörn mit dem Regierungskollegen Kocher. Dem Druck des Zürcher Wirtschaftsflügels ist er machtlos ausgeliefert. Bleiben ihm die Helikopterflüge, um sich seiner Männlichkeit zu erfreuen und Zeit und Musse zu finden, sich an seiner Sterblichkeit zu ergötzen.
Liechtis persönlicher Mitarbeiter wischt sich den kalten Schweiss von der Stirn und versucht sich mit dringlichen Fragen der bilateralen Finanzmarkregulierung abzulenken, während der Pilot ins windstille Rheintal schwenkt und die plötzliche Reduktion der Gesundheitsgefahren am Arbeitsplatz Liechtis Vergnügen zu beeinträchtigen droht.
Wer weiss, was das Schicksal noch an Abenteuern für mich bereit hält, denkt Liechti zuversichtlich, und beginnt, sich mit dem sentimentalsten Aspekt von Leben und Tod zu befassen: Mit seinem Testament.

Ein Testament, wir wissen es, ist dazu da, Menschen zu belohnen, Menschen, die man gern hat, die das Leben reich gemacht haben, die einen weitergebracht haben – sie alle sollen von einem Testament profitieren.
Bundesrat Liechti sieht sein Umfeld vor sich, die Familie und die Kollegen aus Partei und Räten, und er findet, sein Testament könnte auch als eine Form der Bestrafung dienen. Die Menschen, die er weniger gern hat, die ihm das Leben schwer gemacht haben, die ihm im Weg gestanden sind, sollen an die Kasse kommen.
Gedenkt er seiner Bundesratskollegen, kommt Liechti schmerzlicherweise als erstes das offizielle Gesamtbundesratsfoto in den Sinn, worauf er nicht gebührend gewürdigt wird. Die Bundeskanzlei streitet zwar ab, er sei auf dem Foto weniger gut zu sehen – nicht schlechter als Bundespräsidentin Müller-Chirat und die Bundesräte Alberti, Möri, Gökdal, Kocher und Bonnet. Liechti findet aber, es komme nicht auf die Tiefenschärfe des Fotos an, sondern auf die Inszenierung.
Sein erster Satz im Testament, über den Dächern von Buchs ins Diktaphon diktiert: «Ich möchte kremiert werden und ich wünsche mir, dass meine Regierungskollegen die Asche aufteilen und an bestimmte Orte bringen, um sie dort zu verstreuen. Ich möchte, dass die Kolleginnen und Kollegen die Orte ohne motorisierte Hilfsmittel wie Auto oder Flugzeug erreichen. Kamele, Pferde, Ruderboote und Esel seien erlaubt. Die Asche soll in Alice Springs, Australien, in der Wüste Gobi, auf dem Gipfel des K2, auf der Insel Dixon in Sibirien, am Grab Bruno Mansers im Dschungel von Sarawak in Malaysia und im Marianengraben verstreut werden. Es ist meine letzte grosse Reise, und die Wanderschaft des divegierenden Kollegiums ermöglicht mir, den Tod mit einem positiven Bild zu verbinden. Ich weiss, dass ich mich auf meine Kolleginnen und Kollegen verlassen kann, wie auch sie sich die letzten Jahre auf meine Kollegialität viel zu oft haben verlassen können. Bundesrat Kocher hat in unzähligen Segelregatten seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Möge ihn die Verstreuung meiner Asche im Pazifik mit wulstigen Schwielen versorgen, die ihn wochenlang dran hindern, sich an seine Hausorgel zu setzen.»
Lange denkt Liechti darüber nach, wie er seine Kinder aus erster Ehe im Testament begünstigen will, doch nun beschliesst er, sie auf den Pflichtteil zu setzen und den übrigen Teil des Vermögens den Elefanten in Afrika, den Lemuren auf Madagaskar, den Meereschildkröten auf Kreta, den Wildpferden in Südfrankreich und den Vipern im Tessin zu vermachen. Er erinnert sich an frühere Fassungen des Testaments und merkt, dass mit jeder neuen Fassung die Tierwelt besser wegkommt.
«Möge der Pflichtteil den Kindern helfen, bewusster und mit anderen Werten zu leben», diktiert Liechti frohen Mutes. «Habe ich zu Lebenszeiten vergeblich versucht, ihnen beizubringen, dass selbstverdientes Geld nicht unglücklich macht und in Mietwohnungen zu leben noch niemanden umgebracht hat. Selber zu arbeiten und eigene Erbmassen zu häufen wird den Kindern ermöglichen, andere Menschen kennen zu lernen und mit Aufgaben versorgt zu werden, so dass ihnen nie langweilig wird. Meinen drei noch kleinen Kindern aus zweiter Ehe richte ich ein Ausbildungskonto ein, denn bei ihnen sollten sich Entwicklungen noch ins Positive wenden lassen. Meiner Ex-Frau und meiner jetzigen Frau lasse ich ausrichten, dass ich im Prinzip sehr glücklich mit ihnen gewesen bin – mögen sie diese Worte trösten, wenn ich nicht mehr bin. Das Leben ist ein Kreislauf. Eine Zeitlang ist man da, und versucht das beste draus zu machen undsoweiter undsofort.»
Liechti nimmt sich vor, seine Assistentin anzuweisen, geeignete Schlussworte für sein Testament zu finden, das Ganze abzutippen, es dem Notar zur Beglaubigung und ihm zur Unterschrift vorzulegen.
Der Pilot meldet den Grenzübertritt. In feierlicher Stimmung legt Liechti das Diktaphon weg und wendet sich seinem aschfahlen persönlichen Mitarbeiter mit Magenproblemen zu.
«Da unten, sehen Sie, Steiner?», fragt Liechti. «Die Liechtensteiner und ihre Sümpfe. Sie trinken Bier und die Mücken saugen es weg, bevor es der Leber schadet. So schauen Sie doch! Wäre es nicht eine viel zu leichte Aufgabe, müssten wir uns wünschen, unsere Asche hier zu verteilen.»
«Haben Sie die Absicht, mich zu quälen?»
«Ich will Sie doch bloss aufheitern!»
Kaum in Vaduz gelandet, rauscht Liechti mit seinem immer noch erhöhten Adrenalinspiegel ins Medienzentrum und verkündet der versammelten Presse, seine Gesetzesänderung nicht aufzugeben und höchstpersönlich einem Abstimmungskomitee vorzustehen, um den Artikel via Volksinitiative in die Verfassung zu schreiben. Alles, was es zu seinem Gesetz habe gesagt werden müssen, habe er den Räten gesagt. Weil sie nicht zugehört hätten, werde er den Stimmberechtigten halt alles noch einmal erklären.
«Zurück in die Schweiz, Steiner!», sagt Liechti.
«Was ist mit dem Termin beim Fürsten?»
«Egal. Der Helikopter wartet.»
Steiner schweigt tapfer.

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