Das Fundament unserer Demokratie basiert auf der Idee, dass Bürger*innen eines Staates ihre Rechte in einer freien Öffentlichkeit wahrnehmen können. Die Öffentlichkeit dient dazu, dass in einer Gemeinschaft Probleme diskutiert und Lösungen verhandelt werden können. Sie dient aber auch dazu, die Handlungen des Staates zu kontrollieren und die Haltung der Gesellschaft wahrzunehmen. Diese Leistungen der Öffentlichkeit, ihre Funktion als Forum, als Legitimation und als Kontrolle, ermöglichen es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger eines Landes auch als Mitverantwortliche der vereinbarten Gesetze sehen und deshalb bereit sind, diese mitzutragen. Die zunehmende Internationalisierung unserer Gesellschaft durch die hohe Mobilität und die fortschreitende Digitalisierung stellt das Ideal der Öffentlichkeit vor grosse Herausforderungen.

Ein Grundsatz der Öffentlichkeit lautet, dass der Zugang zu allen Informationsquellen und Medien frei sein muss, damit Informationen uneingeschränkt diskutiert und Meinungen frei geäussert werden können. Die mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen in der Arbeitswelt, des Konsums, der Freizeitgestaltung führen dazu, dass die herkömmliche Aufteilung in eine Privatheit, in der individuelle Freiheiten ihren Platz haben und einer Öffentlichkeit, in der die gemeinsamen Dinge debattiert werden, sich zunehmend auflöst.

Zum einen haben sich digitale Formen des Austausches entwickelt, die zwar grundlegende Aspekte einer Öffentlichkeit aufgreifen, indem sie einen freien Zugang gewähren, dabei aber wesentliche Aspekte einer bisher staatlich gesicherten Öffentlichkeit, nämlich die Freiheit vor Überwachung nicht gewährleisten. Das betrifft sicherlich die Social Media Plattformen, die mit ihren Angeboten genau diese Schnittstelle zwischen Privatsphäre und öffentlicher Meinung bedienen. Es betrifft aber auch die Nutzerinnen und Nutzer selbst, denen in der Regel kein ausreichendes Sensorium zur Verfügung steht, um beurteilen zu können, ob sie jetzt öffentlich handeln oder ob sie sich noch in ihrer Peergroup befinden. Die Empörung über diskriminierende Tweets und Posts verdeutlicht genau die Ambivalenz, bei der diese Grenze aufgehoben wird. Auch Emails mit nicht für die Öffentlichkeit vorgesehenen Inhalten verschicken wir in der Regel so ungesichert wie Postkarten. Und den Kartendienst oder die Trainingsapp nutzen wir im Tausch gegen die Übermittlung von Standort-, Nutzungs- und Kontaktdaten.

Während in den 90er Jahren in Zürich noch mit Plakaten und Veranstaltungen gegen die – aus heutiger Sicht vergleichsweise harmlose – Eidgenössische «Volkszählung 90» und gegen die Fichierung mobilisiert wurde, scheint uns das Ausmass der Überwachung oder zumindest die Möglichkeiten dieser zu entgegnen, heute zu überfordern. Anders ist es nicht zu erklären, dass Menschen Überwachungskameras in Kinderzimmern installieren, die wie von der Mediengruppe Bitnik in ihren «CCTV-Walks» gezeigt, einen Einblick in die privatesten Räume ermöglicht, ohne dabei wirklich das Gesetz zu brechen. Ein Vermieter hat in der Schweiz keinen Anspruch auf einen Schlüssel einer Mietwohnung; den heutigen Heimassistenten von Google, Amazon und Facebook dagegen erteilen wir unbeschränkten Zugang zu unserer Wohnung sowie die Erlaubnis, die stattfindenden Gespräche zur Auswertung auf entfernte Serverfarmen zu übermitteln.

Es ist nicht erstaunlich, dass die Plattformen wenig unternehmen, um uns bei der Wahrung unserer Privatsphäre zu unterstützen. Schliesslich predigen sie seit Jahren, wie viel besser unser Leben durch intelligentere Systeme werden wird. Das macht organisatorisch und ökonomisch Sinn. Schliesslich lebt das digitale Geschäftsmodell von Daten. Es wächst an diesen und hilft mit, die Dienstleistungen laufend zu verbessern. Darum sind sie auf die Skalierung angewiesen, also darauf, ein fixes Ertragsmodell ohne zusätzliche Investitionen auf eine möglichst grosse Community anzuwenden.

Seitdem nun Bedenken um eine Beeinflussung durch genannte Plattformen zunehmen, werden diese gezwungen, ihr Geschäftsfeld auszuweiten. Damit sich die digitalen «Bürger» nicht einfach unkontrolliert in die eigenen vier Wände zurückziehen können, sehen sich neuerdings einige der grossen Technologiekonzerne berufen, uns bei der Wahrung unserer Privatsphäre zu unterstützen und zu beraten. Nachdem Mark Zuckerberg seine Plattform jahrelang als «digitalen Dorfplatz» beschrieben hatte, bezeichnete er vor kurzem im Firmenblog die private Vernetzung als das digitale Äquivalent zum Wohnzimmer. Das passt – bisher und erneut – zum immer wieder geäusserten Mantra, dass dies letztlich der Grund sei, wieso sie soziale Netzwerke bauen. Nun sollen also die Vorhänge zugezogen werden, um den Einblick von Passanten einzuschränken. Klar ist damit jedoch einzig, dass das Umfeld stärker umkämpft ist. Um eigentliche Privatsphäre geht es auch hier nicht. Die Gucklöcher in das Leben seiner Nutzerinnen und Nutzern wird sich Facebook und Konkurrenz wohl weiterhin erhalten, denn sie werden durch die Anpassung nur noch wertvoller.

Doch auch ausserhalb der eigenen vier Wände zeigen sich durch die Digitalisierung immer deutlicher Veränderungen dessen, was wir als öffentlichen Raum wahrnehmen und wie wir ihn nutzen. Als Allmend der demokratischen Gesellschaft darf die Öffentlichkeit von niemandem privatisiert werden. Für viele Nutzungen, die in den letzten Jahren entstanden sind, werden die Regeln erst verhandelt. Die Obikes, Mobikes, Smides oder Limebikes stehen (inkl. der Werbebeschriftung für einen lokalen Werbetreibenden) aber schon seit zwei Jahren in öffentlichen Strassen und Parks herum, in dem zwar private Fahrräder aber eventuell keine Werbung erlaubt wäre. Die mit Digitalisierung einhergehenden Veränderungen haben somit nicht nur Auswirkungen darauf, wie sie Öffentlichkeit in unserem Alltag im Internet definieren, sondern sie beginnen inzwischen auch den öffentlichen Raum neu zu kapitalisieren und unser Verhalten darauf anzupassen.

Grosse digitale Anbieter messen ihren Erfolg am Grad ihrer Verbereitung und sie begünstigen deshalb Inhalte, die schon viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Die Skalierung als eines der Grundprinzipien der digitalen Geschäftsmodelle verschiebt auch unsere Aufmerksamkeitsprozesse. Die Logik von Influencern folgt ebenfalls der Skalierung als oberstes Gebot. Nach der anfänglichen Euphorie um eine neue Blüte des Bürgerjournalismus merken wir jedoch, dass nicht jeder Broadcaster auch ein Gatekeeper ist. Deutlich zeigte sich das in den letzten Tagen, als eine Auseinandersetzung zweier Youtuber dazu geführt hat, dass sich mehrere hundert Personen auf dem Berliner Alexanderplatz zur Austragung einer Online-Fehde getroffen haben. Und deutlich zeigte es sich auch bei dem Anschlag auf die Moscheen in Christchurch, bei dem es der Täter darauf angelegt hat, den Kreis der zuschauenden Öffentlichkeit per Livestream zu vergrössern. Zwar erreichte er mit seinem Video unmittelbar «nur» knapp hundert Personen, doch durch seine «Helfer» wurde das Video in den folgenden 24 Stunden gut 1,5 Millionen mal erneut hochgeladen. Eine Menge, die auch von den zur Filterung eingesetzten Algorithmen nicht mehr zuverlässig bewältigt werden konnte.

Unabhängig davon, ob man dafür Einzelpersonen oder Konzerne verantwortlich machen will, stellt sich im digitalen öffentlichen Raum die Frage, wieso der Staat es nicht prioritär ansieht, hier die Rahmenbedingungen zu setzen. Während die Planung, der Bau und der Unterhalt von Autobahnen und Strassen klar in der Hoheit des Staates liegen, begnügt dieser sich bei der digitalen Infrastruktur mit der Vergabe von Lizenzen und der Vorgabe von Grenzwerten. Zentrale staatliche Aufgaben wie die Entwicklung eines E-Voting wird in bestem Vertrauen an die Wirtschaft ausgelagert. Dabei ist nach den Skandalen um die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung in Grossbritannien, den USA oder in Burma längst klar, dass sich die wirtschaftlichen und die demokratischen Interessen nicht decken. Und auch die Diskussionen um Netzsperren, die Abschaffung der Netzneutralität in einzelnen Ländern oder der Aufbau eines «social credit system» in China machen deutlich, wie überfällig eine breite Diskussion dazu ist.

Die Skalierung findet auf jeden Fall statt, inzwischen auch in Bezug darauf, was wir als Öffentlichkeit wahrnehmen. Und wie bei jedem Gemeinbesitz sollten wir darauf achten, welche Normen gelten, damit diese Allmend auch in Zukunft genutzt werden kann.

Diese Ausgabe der Fabrikzeitung versammelt Stimmen, Überlegungen und Thesen dazu, wie sich das Verhältnis von Öffentlichkeit, Staat und Digitalisierung aktuell verändert und wo die Herausforderungen für eine aufgeklärte digitale Öffentlichkeit liegen.

Ivan Sterzinger ist ein ehemaliges Redaktionsmitglied der Fabrikzeitung.

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