Was hat die weltweite Care-Krise mit Kapitalismus zu tun? Zu dieser Frage forscht die Soziologin Christa Wichterich und zeigt mit dem Konzept des Care-Extraktivismus: Die Care-Krise ist im Kapitalismus begründet, intersektional organisiert und verschärft sich mehr und mehr.   

«Schon vor Corona Notstand. Heute! Morgen! Widerstand!», steht am 29. Mai 2020 auf dem Transparent vom Zürcher Kollektiv «Care Work Unite». Kritisiert wird das zunehmend ökonomisierte Spitalwesen in der Schweiz. Für das Kollektiv ist klar: Schuld am Notstand ist nicht die Covid-19-Pandemie, sondern die anhaltende Care-Krise in der kapitalistischen Gesellschaft. 

In vielen Care-Berufen sind die Löhne tief und die physisch und psychisch harte Arbeit wird kaum als solche anerkannt. Laut dem Schweizerischen Gesundheistobservatiorium treten 40 Prozent der Pfleger*innen vorzeitig aus ihrem Beruf aus. Viele Arbeiter*innen sind sogenannte Care-Migrant*innen. Das heisst, dass sie nicht in der Schweiz angemeldet und darum schlecht oder gar nicht versichert sind. Erschöpfungsdepressionen und Stress sind an der Tagesordnung. Viele wollen den Job wechseln. 

Im Aktivismus, in der Forschung, in der Öffentlichkeit – überall ist die Rede von der Care-Krise. Die wird an verschiedensten Orten und bei verschiedensten Menschen, etwa durch Personalmangel, Erschöpfung oder mangelhafte Pflegequalität sichtbar: in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Spitälern und Kliniken, beim Reinigungspersonal, bei be_hinderten Menschen, bei Sexarbeiter*innen, zu Hause, bei kranken und alten Personen und auch bei Kindern, Jugendlichen und ihren Elternteilen. 

Was hat die Care-Krise mit Kapitalismus zu tun?

Warum ist die Care-Krise, die wir gerade durchleben, eine kapitalistische? Zu genau dieser Frage forscht die feministische Soziologin Christa Wichterich. Am 22. und 23. Oktober 2022 ist sie an der Aktionskonferenz zu Care-Arbeit «Für Widerstand sorgen» mit dabei. Die deutsche Soziologin teilt die Meinung von «Care Work Unite»: Es war schon vor 2019 Care-Krise. Darüber hinaus habe die Covid-19-Krise den Notstand der Care-Arbeit in einer kapitalistischen Gesellschaft verschärft. 

Wichterich ist auch Expertin für feministische Kapitalismuskritik, die in den 1970er-Jahren einmal mehr erstarkte. Damals hinterfragten die Feminist*innen in der Hausarbeitsdebatte scheinbare Selbstverständlichkeiten: Warum wird Hausarbeit nicht entlohnt? Mehr noch: Warum gilt Care-Arbeit wie etwa Kochen, Waschen, Trösten, Putzen oder Pflegen nicht als Arbeit? Die Antwort der Feminist*innen war klar: Die sexistische Unterdrückung liegt in der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung zwischen unbezahlter Hausarbeit und Lohnarbeit. 

So eröffnete sich eine neue Perspektive darauf, was produktiv ist und was nicht. Dem herkömmlichen marxistischen Verständnis von der Reproduktion (Care-Arbeit) als kleine Schwester der Produktion wurde eine feministische Kritik entgegengestellt. Der feministischen Kritik zufolge ist Reproduktion immer auch Produktion. Reproduktionsarbeit produziert nämlich Arbei-ter*innen. Dementsprechend verstanden viele Feminist*innen nicht nur Lohn-, sondern eben auch Care-Arbeit als produktive Arbeit. 

Demnach werden kapitalistische Produktionsverhältnisse nicht nur durch die Spaltung von Produzierenden und Produktionsmittel gekennzeichnet, sondern auch indem Produktion und Reproduktion getrennt werden. Also beruhen kapitalistische Gesellschaften ebenso auf Ausbeutung der Lohnarbeit wie auf sexistischer Unterdrückung.

Befeuert durch die Hausarbeitsdebatte und feministische Marx-Kritik entstand eine umfassende Care-Debatte, die bis heute anhält. Sie drehte sich um die Fragen, wer die reproduktive Arbeit macht und wer dabei wie ihren Wert bestimmt. Wichterich zeigt auf, wie die soziale Reproduktion durch intersektionale Diskriminierung organisiert ist. Die Care-Arbeit ist nicht nur geschlechtshierarchisch organisiert, sondern auch klassizistisch und rassistisch. Es ist nicht zufällig, wer wie viel Care-Arbeit leistet. Nach wie vor sind es vor allem Frauen, inter, trans, non-binäre, agender und genderqueere Personen sowie Menschen mit Rassismuserfahrungen, welche den Grossteil der unbezahlten Care-Arbeit übernehmen.

Und wie wird der Wert der Care-Arbeit bestimmt? In der kapitalistischen Logik wird Produktivität bemessen, die Arbeit wegen Profitzwang rationalisiert und immer weiter verdichtet. Ein Beispiel dafür ist Fliessbandarbeit, in der jeder Arbeitsschritt in Zeit, in Bewegung und Ablauf bis ins Detail durchgetaktet ist. Die Care-Arbeit kann dieser Logik nicht folgen. 

Emotionalen Anteile der Care-Arbeit sind zum Beispiel kaum zu bemessen. Es kann schlecht bestimmt werden, wie lange es dauert, sich um eine*n Patient*in zu kümmern und es ist oft gerade die Zeit an sich, die Care ausmacht: Einen Spaziergang machen, mit Kindern spielen oder einfach Zuhören. Diese Tätigkeiten lassen sich nicht beschleunigen.

Diese Art der Arbeit, Pflege und Aufmerksamkeit ist wichtig für unser aller Leben. Denn jede Person braucht Zuwendung – nicht nur, wenn sie Kind, alt oder krank ist. Daher ist auch die kapitalistische Gesellschaft auf diese Zuwendung angewiesen: Sie braucht Care-Arbeit, um Arbeitskräfte zu erhalten. Analog dazu braucht die kapitalistische Gesellschaft auch die Regeneration der Natur. Nur wenn sich diese von der Übernutzung erholt, kann sie wieder neu genutzt werden. 

Gleichzeitig will das kapitalistische System stets Profit anhäufen. Es will und muss ständig wachsen. Dadurch entsteht ein Widerspruch zwischen Wachstumsdrang und sozialer Reproduktion, zwischen Nutzen und Zerstören. Der Kapitalismus muss ebenso wachsen wie regenerieren und zerstört damit seine eigenen Grundlagen.

Care-Extraktivismus

In diesem Widerspruch zeigt sich der Zusammenhang zwischen Care-Krise und Kapitalismus. Der Pflegenotstand ist normal und notwendig, um Wachstum sicherzustellen. Care-Arbeit im Kapitalismus ist krisenhaft. Die Soziologin Christa Wichterich beschreibt den Umgang mit der momentanen Krise als  «Care-Extraktivismus», also als systematische und verschärfte Ausbeutung von Care-Arbeit. Galt Care-Arbeit lange als unproduktive Arbeit, die ausserhalb des Marktes geleistet wird, wird sie nun in den Markt integriert. Nach der Finanzkrise 2008 seien verschiedene Care-Extraktivismen entstanden. Das heisst, um aus der Krise herauszukommen, wurde öffentliche und private Care-Arbeit produktiv und markttauglich gemacht. 

Die Formen des Care-Extraktivismus sind vielfältig: Erstens wird das Gesundheitswesen professionalisiert und rationalisiert, wie Wichterich erklärt. Neu werden Pfleger*innen nach physischen Tätigkeiten wie etwa das Füttern eines Babys bezahlt, wodurch die Wertschätzung und Entlohnung von emotionaler Arbeit wegfällt. Die Folgen davon sind systematische Unterbezahlung, ständiger Zeitdruck und psychische Belastung. Die Care-Arbeit wird nach Massstäben der Industriearbeit bemessen, was wegen der besagten Eigenlogik nicht funktioniert. 

Wichterich spricht auch von Care-Extraktivismus, wenn reproduktive Arbeit unbezahlt und scheinbar freiwillig erfolgt. Das Sorgen und Kümmern verschiebt sich ins Ehrenamt, in Familie, in Eigenverantwortung und Selbstfürsorge. Das neue Motto heisst:  Jede*r soll für sich selbst sorgen. Während alle Individuen einzeln für sich sorgen und sich selbst optimieren, wird der Staat entlastet.

Eine dritte Form von Care-Extraktivismus ist, dass die Reproduktionsarbeit international ungleich verteilt ist. In westlichen Ländern gehen immer mehr Frauen, inter, trans, non-binäre, agender und gender queere Personen Erwerbsarbeiten nach, die unterbezahlte Care-Arbeit übernehmen währenddessen Migrant*innen aus dem Süden oder dem Osten. Gastarbeiter*innen, oft hoch qualifizierte Arbeitskräfte, werden bei Bedarf ins Land geholt und wieder ausgewiesen, sobald sie nicht mehr gebraucht werden. Gesundheitswesen von Ländern wie der Schweiz oder Deutschland werden am Leben gehalten, indem ständig Arbeitskräfte wie Waren ex- und importiert werden. Der Pflegenotstand wandert damit über Grenzen von Norden nach Süden, von Westen nach Osten. Soziale Ungleichheit und strukturelle Diskriminierung werden dadurch massiv verstärkt. Diese intersektionale wie international ungleiche Verteilung von Care-Arbeit nennt Wichterich «Global-Care-Chains». 

Die Arbeitskraft wird zur Ware, die genau rechtzeitig importiert und nach Gebrauch schnell wieder exportiert werden kann. Wichterich nennt dafür ein Beispiel: Auf den Philippinen herrschte Anfang 2020 – mitten in der Covid-19-Pandemie – ein massiver Pflegenotstand. Trotzdem emigrierten jährlich 13‘000 gut ausgebildete Pflegekräfte. Viele davon haben eine teure Ausbildung absolviert. Viele sind verschuldet. Deshalb verhängte der damalige Regierungschef der Philippinen, Rodrigo Duterte, für einige Monate ein Migrationsverbot, damit wieder möglichst viele Pflegekräfte in den Spitälern des Landes selbest arbeiteten. 

Zeitgleich – weiter nördlich und westlich auf der Welt – sprach auch Jens Spahn, der damalige Gesundheitsminister in Deutschland, von einem Mangel an Pflegepersonal. Daraufhin ging die deutsche Regierung einen Tauschvertrag mit der philippinischen ein und handelte Impfstoffe gegen hochqualifizierte Pflegekräfte. Regierungsverträge stellten nämlich eine Ausnahme für Dutertes Migrationsverbot dar. Während der Pflegemangel in Deutschland also vorübergehend behoben wurde, verschärfte sich der Care-Notstand auf den Philippinen weiter. Selbstverständlich wären Philippiner*innen auf die eingetauschten Pflegekräfte angewiesen, die nun in Familien, zu Hause und in Spitälern fehlen. Ein extremes Beispiel, wie Care-Arbeiter*innen als Ware gehandelt werden und wie sich ein globaler Care-Markt entwickelt.

Eine weitere Form von Care-Extraktivismus ist die biologische Reproduktion. Auch um sie hat sich ein riesiger und gobaler Care-Markt entwickelt. Ein Beispiel dafür ist die Leihmutterschaft. Weil sie in vielen Ländern verboten ist, werden Staaten wie die Ukraine, in denen eine Leihmutterschaft legal ist, zu Dienstleistungszentralen. Wichterich spricht gar von «Reproduktionstourismus».

An den verschiedenen Formen des Care-Extraktivismus zeigt sich das Ausmass der Care-Krise, in der wir momentan stecken. Weltweit herrscht eine Care-Krise, die intersektional organisiert ist und die sich immer mehr verschärft – zuletzt durch die herrschende Pandemie. Die Parole, dass schon vor Corona Notstand in der Care-Arbeit war, trifft ins Schwarze.

Widerstand regt sich

Eine Krise bietet auch immer die Chance zur Veränderung: Weltweit wächst der Widerstand. Feminist*innen kämpfen zusammen und erfinden den Streik neu: Mit Blockaden, Demonstrationen, Kundgebungen, Boykotten, längeren Arbeitspausen zeigen Care-Arbeiter*innen immer wieder: Care-Arbeit ist Arbeit, sie ist unverzichtbar. Damit widersetzen sie sich der Ausbeutung und der Geringschätzung von Reproduktionsarbeit. 

Die Forderungen der Streikenden gehen über gewerkschaftliche Forderungen hinaus: Care-Arbeiter*innen kämpfen nicht nur für sich, indem sie bessere Arbeitsbedingungen fordern, sondern auch für ihre Patient*innen und deren Menschenrechte. 

Nicht zuletzt sind es diese Kämpfe, die zeigen, wie wichtig Care-Arbeit ist und wie tief ihre Krise geht. Weltweit setzen Feminist*innen ein Zeichen gegen intersektionale Diskriminierung, indem sie sich miteinander solidarisieren. Care-Arbeit wird politisiert – von Argentinien über Polen bis in die Schweiz.  

Mara Haas studiert Zeitgeschichte und korrigiert für das Onlinemagazin das Lamm.

Dieser Artikel orientiert sich stark am Vortrag «Who cares? Kapitalismus, Gender und Soziale Reproduktion in der Corona-Krise», den Christa Wichterich im Mai 2021 an der Universität Basel hielt. 

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