Gibt es einen Zusammenhang zwischen Geschlecht und Frieden? Diese Frage stellten sich Virginia Woolf und Clara Ragaz. Die Biografien der beiden Frauen waren nicht nur von zwei Weltkriegen geprägt, sondern auch davon, dass ihnen als Frau jeglicher Zugang zu politischer Partizipation verweigert wurde.

Die Bücher der einen öffneten mir Türen in eine literarische, feministische und queere Welt. Die andere steht am Anfang der religiös-sozialen Bewegung, deren Zeitschrift «Neue Wege» ich mitherausgebe. Auch wenn Virginia Woolf und Clara Ragaz sich wohl nicht gekannt und in unterschiedlichen Ländern gelebt haben, trieb die «Friedensfrage» sie beide um. Ihre Essays und Vorträge weisen überraschende Parallelen auf. Ich lese sie als Verbündete, trotz unterschiedlicher Lebenskontexte, und lasse ihr Werk in den Dialog treten – auch wenn manches für heutige Begriffe fremd bleibt.

Virginia Woolf, 1882 in London geboren, gehörte wie Clara Ragaz, 1874 in Chur geboren, der gebildeten Oberschicht an. Clara Ragaz reiste jung als Hauslehrerin nach England und Frankreich. Von einer solchen Hauslehrerin erhielt Virginia Woolf wiederum ihre Schulbildung und unterrichtete bald selber englische Literatur und Geschichte.

Woolf begann früh zu schreiben und bewegte sich im intellektuellen Kreis der Bloomsbury Group. Sie avancierte 1922 mit ihrem Roman «Jacob’s Room» zur international gefeierten und in der literarischen Avantgarde anerkannten Schriftstellerin. Im selben Jahr tat Clara Ragaz den radikalen und entscheidenden Schritt einer «Proletarisierung»: Ihr Mann, der Theologe Leonhard Ragaz gab seine Professur an der theologischen Fakultät Zürich auf, und das Paar zog mit den beiden Kindern an die Gartenhofstrasse im Arbeiterquartier Aussersihl in Zürich, um dort ein Zentrum der Arbeiter*innenbildung und der Nachbarschaftshilfe zu eröffnen. Clara Ragaz setzte sich bis zu ihrem Lebensende 1957 im und vom Gartenhof aus für Bildung, Frauenrechte, die Arbeiter*innenbewegung, Geflüchtete und für Frieden ein.

Virginia Woolf schrieb bis zu ihrem Suizid 1941 zahlreiche Romane, Essays und ein Theaterstück. Sie setzte sich für finanzielle Unabhängigkeit und politische Rechte von Frauen ein und gilt heute als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Moderne.

«Great War»

In den Biografien der beiden Frauen ist der erste Weltkrieg eine Zäsur, der zweite eine vernichtende Katastrophe. Beide beobachteten das Kriegsgeschehen entsetzt, die Schreckensbilder des Krieges beschäftigten sie. Sie analysierten kritisch die ideologische Wertepropaganda: Für Woolf war der Krieg eine «absurde männliche Fiktion». Die «Aufopferung fürs Vaterland», wie sie von jungen Männern verlangt wurde, prangerte sie in ihrem Roman «Jacob’s Room» an. Der Krieg ist das Hintergrundgeräusch, das den Roman beklemmend durchzieht.

Für Ragaz war der erste Weltkrieg ein Politisierungsmoment und markiert den Anfang ihres Engagements für den Frieden: Clara Ragaz gründete den Schweizer Zweig der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) mit, organisierte als dessen Präsidentin internationale Friedenskongresse und reiste in unterschiedliche Städte Europas. Dieses Netzwerk leistete in der Bevölkerung Bildungsarbeit zu Atom- und Biowaffen, trat mit Resolutionen an Regierungen heran und brachte drei Friedensnobelpreisträgerinnen hervor: Jane Addams, Emily Greene Balch und Alva Myrdal.

Woolf und Ragaz waren eng verbunden mit den Frauenbewegungen ihrer Länder und setzten sich mit Vorträgen und Essays für die Rechte von Frauen ein. Für beide war klar, dass zwischen dem radikalen Ausschluss von Frauen aus politischen, ökonomischen, über Krieg und Frieden entscheidenden Institutionen und dem Kriegsgeschehen ein Zusammenhang bestand. In zwei berühmten Aufsätzen – «Die Frau und der Friede» von Clara Ragaz (1915) und «Three Guineas» von Virginia Woolf (1939) – setzten sie sich mit dem Zusammenhang zwischen Geschlecht und Frieden auseinander. Ragaz schrieb während des ersten Weltkrieges, Woolf im Schatten des beginnenden zweiten Weltkrieges. Schauen wir zuerst in den bekannteren der beiden Texte.

Drei Guineen für autonome Frauen

Woolfs «Three Guineas» ist geprägt von der ironischen, visionären, analytischen und klugen Stimme Woolfs und einer verschachtelten Brief-Form, die nicht zuletzt wohl auch der Zensur zu verdanken ist. Im Essay erhält eine Ich-Erzählerin einen Brief von einem Anwalt und verfasst die Schrift «Three Guineas» als Antwort. Im Brief des Anwalts wurde sie einerseits gebeten, eine Spende für den Frieden zu tätigen und andererseits ersucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie Frauen dazu beitragen können, den Krieg zu verhindern. Die Erzählerin antwortet, indem sie zwei weitere Briefe in ihre Antwort einflicht: Jener der Schatzmeisterin eines Frauencolleges, welche um eine Spende für den Ausbau ihres Colleges bittet, und jenen der Schatzmeisterin einer Vereinigung für die Förderung berufstätiger Frauen. Die Ich-Erzählerin investiert die erste und die zweite Guinee in die Bildung und Berufstätigkeit von Frauen und erst die letzte der organisierten Friedensarbeit.

Die Ausbildung zu Hause, welche für Mädchen des gebildeten Standes üblich ist, schreibt sie, diene einzig dazu, Mädchen auf ihre Rolle als Ehefrau vorzubereiten. Die Ehe wiederum dränge Frauen in die Funktion eines Spiegels für ihre Ehemänner; ein Vergrösserungsspiegel, der Männer in ihrer doppelten Grösse zeige, sie heroisiere. Das führe dazu, dass Frauen aus Mangel an eigenen Entfaltungsmöglichkeiten stellvertretend die Möglichkeiten ihrer Männer bewundern – insbesondere die Macht der Kriegsführung und den heroischen Kampf. Für Woolf ist klar, dass Frauen durch diese Ausbildung den Krieg nicht verhindern, sondern ihn geradezu herbeisehnen. Die erste Guinee, die die Erzählerin also spendet, dient dem Ausbau des Frauencolleges.

Die zweite Guinee wird für ein ähnliches Anliegen eingesetzt. Virginia Woolf fokussiert auf die finanzielle Abhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern, Väter und Brüdern. Eine Abhängigkeit, welche zu geistiger Korrumpierung führe. Dagegen verhelfe die Möglichkeit, den Lebensunterhalt selber zu verdienen, auch zu unabhängiger Meinungsbildung und trage damit dazu bei, den Krieg zu verhindern. Die vorherrschende Meinung zeichne Frauen als störend am Arbeitsplatz, als Verbreiterinnen einer vergeschlechtlichten «Atmosphäre». Das Beschwören dieser «Atmosphäre» diene dazu, Frauen auf ihren Platz in Privathaushalten zu verweisen. Diese Sphärentrennung zwischen Öffentlichkeit und Privatem kritisiert Woolf scharf. Sie stellt ein Zitat des damaligen Premierministers von England, Stanley Baldwin, neben ein Zitat von Adolf Hitler:

Lassen Sie uns noch einmal zitieren: «Der heimische Herd ist der wahre Platz für die Frauen, die die Männer jetzt dazu zwingen, müssig zu sein. Es ist höchste Zeit, dass die Regierung darauf besteht, dass Arbeitgeber mehr Männer einstellen und sie so in die Lage versetzen, die Frauen zu heiraten, denen sie sich zur Zeit nicht nähern können». Stellen Sie ein anderes Zitat daneben: «Es gibt zwei Welten im Leben des Volkes, die Welt der Männer und die Welt der Frauen. Die Natur hat gut daran getan, dem Manne die Sorge für die Familie und das Volk anzuvertrauen. Die Welt der Frau ist ihre Familie, ihr Mann, ihre Kinder und ihr Heim.» Das eine ist englisch geschrieben, das andere deutsch. Aber wo ist der Unterschied? Sagen nicht beide dasselbe?

Woolfs These ist stark: Der Faschismus und der aufkommende Krieg schwappen nicht etwa von Deutschland nach England über, sondern sind in der Gesellschaftsstruktur Englands angelegt, beispielsweise im Ausschluss der Frauen aus der öffentlichen Sphäre. Deshalb muss die Verhinderung des Krieges im vermeintlich «Privaten» ansetzen. Die zweite gespendete Guinee muss also die Berufstätigkeit von Frauen unterstützen. Sie soll sie in die öffentliche Sphäre bringen, sie in ihrer Meinung unabhängig machen.

Die dritte Guinee spendet die Erzählerin jenem Anwalt, der sich mit der Frage an sie wandte, wie Frauen dazu beitragen könnten, den Krieg zu verhindern. Von der Psychoanalyse Freuds beeinflusst, beschreibt sie zunächst das vorherrschende Modell des Mann-seins. Das Ideal von Maskulinität zeige sich besonders in der öffentlichen Sphäre, wo Männer in Gruppen und Bünden aufträten und ihre Angst, als Familienväter ihre Familien nicht ernähren zu können, sich verdichte. In der Extremform gipfle sie in der diktatorischen Gewalt faschistischer Führer. Woolf entwirft eine Perspektive der «Gesellschaft der Aussenseiterinnen», die als Frauen ohnehin kein Land haben, welches sie patriotisch durch Krieg verteidigen müssten, und die der kriegsmächtigen Männlichkeit ihrer Ehemänner, Väter und Brüder gegenüber gleichgültig bleiben.

Frauen als Kriegskomplizinnen

Clara Ragaz hält ihren Vortrag «Die Frau und der Friede» 1915 in Biel an der Generalversammlung des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht – also wesentlich früher als Woolf «Three Guineas» schrieb. Ihre Stimme ist die einer rhetorisch geschickten Frauenrechtlerin, Pazifistin und Sozialistin, die diese Bewegungen zusammendenkt und von ihrer christlich-religiösen Verwurzelung aus argumentiert. Sie geht mit den Frauen als Kriegskomplizinnen hart ins Gericht und konstatiert, Frauen hätten sich einem männlichen Wertesystem angepasst und so den Krieg gefördert, weil Frauen

«zu wenig wir selbst waren; weil wir zu abhängig vom Manne sind. Weil wir immer noch der Meinung sind, die Welt, wie sie die Männer für uns und für sich eingerichtet haben, sei die einzige zu Recht bestehende; ihre Vorschriften, ihre Satzungen, ihre Anschauungen, ihre Ideale müssten ungeprüft auch unsere Vorschriften, Satzungen, Anschauungen, Ideale sein. Das männliche Ideal sei Mut, Tapferkeit, Trotz, so wurden wir von Jugend auf gelehrt und das weibliche Ideal Sanftmut, Hingebung, Milde.»

Für Clara Ragaz führt die politische Partizipation von Frauen entsprechend nicht automatisch zu einer friedlicheren Welt, wenn sich Frauen weiterhin an den geltenden, männlich geprägten Werten orientierten. Ganz wie Virginia Woolf führt sie das «Mitjubeln und Mitfeiern» von Frauen während des Krieges auf eine Konditionierung von Frauen zurück, auf eine Art, stellvertretend Macht zu erlangen: «Die Frau, die eben von Jugend auf in Abhängigkeit vom Manne gehalten wurde und sich ihren Platz neben ihm im besten Falle erst erkämpft hat, schaut unwillkürlich zu diesem Mann, der so vieles besitzt, was ihr noch versagt ist, als zu einem Wesen höherer Ordnung auf […]».

Frauen müssten hingegen ihr ganz Eigenes in die politische Sphäre einbringen. Was Not tue, sei ein System, welches den Menschen und die Beziehungen ins Zentrum rücke, statt einer Wirtschaft, die sich das Kriegstreiben viel Geld kosten lässt, aber Arbeiter*innen ausbeutet. Wie Woolf kritisiert sie den Platzverweis gegenüber Frauen ins Private scharf: «Und wo könnten [die Völker] sein, wenn sie der Frau einen Platz eingeräumt hätten im Staatsleben? Wenn sie ihr erlaubt hätten, ihre Art, ihre Denkweise, ihr Empfinden auch in den Angelegenheiten des öffentlichen Wohls zur Geltung zu bringen, statt dass man sie damit auf die Kinderstube verwiesen hat?»

Was Ragaz genau unter der spezifischen «Art» von Frauen meint und ob sie diese in Biologie oder Sozialisierung verortet, bleibt wie bei Woolf schwer zu fassen. Fest steht aber, dass auch Clara Ragaz eine radikale Verbindung von «Privat» und «Öffentlich» fordert, und dass die von Müttern gelehrte «Kinderstubenmoral» für die Öffentlichkeit auch zu gelten habe: «Entweder gilt das, was wir die Kinder lehren sollen, Güte, Freundlichkeit, Liebe, Vertrauen, Grossmut, Treue, Wahrhaftigkeit, auch im späteren Leben und Zusammenleben, oder sonst hat es auch für die Kinderstube nicht viel Wert […]».

Hier weist Ragaz wie Woolf deutlich auf die Verzahnung von Wirtschaftsordnung und Geschlechterverhältnissen hin und nimmt quasi voraus, was heute unter dem Stichwort «Wirtschaft ist Care» diskutiert wird. Wie in «Three Guineas» ist auch Clara Ragaz’ Schlussfolgerung, dass Frauen eine Rolle in der Politik zusteht, statt nur «nähren, kleiden, erziehen […], ihnen das Heim freundlich gestalten und vielleicht auch allerlei Freuden bereiten» zu dürfen. «Auf Schule, Beruf, Gesetzgebung, Politik hatten wir keinen Einfluss mehr. Dort herrschte der Mann und herrschten seine Ideale». Und sie bemerkt: «[…] zu was uns diese ausschliessliche Herrschaft des Mannes geführt hat, haben wir gesehen.»

Eine Welt

Die Art und Weise, wie beide Frauen die Verzahnung von Patriarchat und westlichbürgerlicher, kapitalistischer Gesellschaftsordnung in den Blick nehmen, hat wenig an Gültigkeit verloren. Sie fordern Bildungschancen für alle Klassen und sprechen sich dezidiert gegen Imperialismus und Nationalismus aus. Die Schlussfolgerungen sind vergleichbar. Um den Krieg zu verhindern und den Frieden zu fördern, müssen die vergeschlechtlichen Pole von Privat und Öffentlich, Gefühl und Abstraktion, Materialität und Spiritualität verbunden werden, wie es Woolf in der Formel der «einen Welt» fasst:

Ein gemeinsames Interesse vereint uns; eine Welt, ein Leben. Wie wichtig es ist, diese Einheit zu erkennen, beweisen die toten Menschen, die zerstörten Häuser. Denn so wird unser Ruin aussehen, wenn Sie in der Immensität Ihrer öffentlichen Abstraktionen die private Gestalt vergessen, oder wenn wir, in der Intensität unserer privaten Gefühle, die öffentliche Welt vergessen. Beide Häuser werden vernichtet werden, das öffentliche und das private, das materielle und das spirituelle, denn sie sind untrennbar miteinander verbunden.

Dem liegt eine Vision von Frieden zugrunde, die – wie bis heute von feministischen Friedensorganisationen vertreten – Frieden nicht nur als Abwesenheit von Krieg, sondern als Prozess der Befreiung auch von struktureller Gewalt versteht und die Hoffnung auf eine menschlichere Welt in sich trägt. In Clara Ragaz’ Worten von 1915:

Wir meinen […], dass die Männer und Frauen gemeinsam der Welt ihr Gepräge geben sollen. […] Über dem Frauenideal und über dem Mannesideal steht das Menschheitsideal, und unsere Hoffnung ist, dass die freie Frau mit dem Manne zusammen an der Menschwerdung des Menschen arbeite.


Bibliographie

Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege, 6/1915
Clara Ragaz: Ist die Frau Pazifistin? In: Neue Wege, 10/1997
Virginia Woolf: Ein eigenes Zimmer. Drei Guineen. Zwei Essays.
Frankfurt 2001: Fischer

Geneva Moser, *1988, ist Philosophin, Geschlechterforscherin und Co-Redaktionsleitung der Zeitschrift Neue Wege.

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