Diese Ausgabe besteht aus Texten von Menschen, die Daniil Charms lieben. Sie versammelt Essays über seine Person, sein Leben, seine Texte, sowie Gedichte und Geschichten von aktuellen Autorinnen und Autoren, denen die Entdeckung von Charms Inspiration, Offenbarung, Erleuchtung war.

Die Werke des russischen Avantgarde-Autors Daniil Charms (1905-1942) waren in der Sowjetunion bis in die späten 80er-Jahre verboten. Erst im Zuge der Perestroika wurden sie gedruckt und so einer grösseren Öffentlichkeit bekannt. Zu Lebzeiten konnte der Meister des Komischen und «Absurden» nur zwei Gedichte für Erwachsene veröffentlichen; Auftritte hatte er ausser wenigen Ausnahmen ausschliesslich vor Kindern. Seine Prosawerke, Theaterstücke und Gedichte kannten nur wenige, ihm nahestehende Menschen; vorgelesen hat er Überlieferungen zufolge auf einem Schrank sitzend und dabei virtuose Zaubertricks vorführend.

Charms starb 1942 nach einer zwangsweisen, politisch bedingten Einweisung in die Psychiatrie. Die offizielle Todesursache: Unterernährung. Seine bis dahin zumeist unbekannten Texte wurden durch einen Freund aus der bombardierten Wohnung gerettet und für die Nachwelt aufbewahrt. Bis zu einer breiteren Würdigung würden Jahrzehnte vergehen. Bis heute ist Charms in Russland nicht offiziell rehabilitiert worden – die Begründung: Da er als Geisteskranker nicht schuldig sein konnte, erübrige sich eine Rehabilitation.

Ab 2010 erschien Charms‘ Gesamtwerk im Galiani Verlag in neuer deutscher Übersetzung; herausgegeben von Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg.

Anfänge

Daniil Charms, geboren 1905 als Daniil Iwanowitsch Juwatschow in Sankt Petersburg, wächst in einer grossbürgerlichen Familie auf. Seine Mutter entstammt altem Adel, der Vater war als Zarismus-Gegner jahrelang in Haft. Charms besucht die deutsche Schule und erfährt eine religiös orthodoxe Erziehung; beides sollte ihn sein Leben lang prägen – er schreibt teilweise auf Deutsch und wendet sich besonders in verzweifelten Texten immer wieder an Gott. Als 13-Jähriger erlebt er die Oktoberrevolution, die seine Familie von einem Tag auf den andern mittellos macht. Er bricht das Studium der Elektrotechnik ab und schließt sich der St. Petersburger Avantgarde-Szene an. Mit kaum 20 führt er das Leben der Bohème und experimentiert mit ersten Gedichten. Schon sie zeigen die Lust am Spielerischen und eine Abwendung von traditionellen Vorstellungen von einer gehobenen Diktion von Lyrik:

meine Gedichte Papa mussten

dir vorgekommen sein wie Husten

deine Gedichte sind ganz sicher

gehobener doch icher kicher

 Charms frühe Gedichte orientieren sich stark am Futurismus, daneben zeigen sie surrealistische und dadaistische Anklänge. Sie bedienen sich der «zaum’»-Lautsprache, die, v.a. von Welimir Chlebnikow entwickelt, dem Klanglichen eines Wortes grösstmögliche Autonomie gewähren soll. Diese rein lautmalerischen Texte Charms‘ verschwinden bald. Die Sprache wird knapper, das Experiment verlagert sich mehr auf die Bedeutungsebene: Alltägliche Begebenheiten und Figuren rücken in den Vordergrund und sorgen dadurch für Verblüffung, dass sie jederzeit urplötzlich ins Absurde kippen können. Realistische Miniaturen gehen in Phantastisches, in Traum- und Alptraumartiges über, sodass man als Leser regelmässig vor unlösbaren interpretatorischen Fragen steht. Charms stellte sich die Frage nach dem Zwang nach Sinn selber:

Was soll ich machen! Was soll ich machen! Wie schreiben? Der Sinn drängt sich mir auf. Ich spüre seine Notwendigkeit. Aber wird er gebraucht?

«Zerschlagung der Kunst – es lebe Oberiu!»

Ab 1926 gründet Charms mit seinem Freund Alexander Wwedenski einige avantgardistische Zirkel, darunter die Künstlergruppe «Tschinari», denen auch die Philosophen Jakow Druskin und Leonid Lipawski angehören, sowie mit Igor Bachterew die «Linke Flanke». Ende 1926 gründen sie im Haus der Presse die Künstlergruppe «OBERIU», die «Vereinung der Realen Kunst». Diese sucht nach einer Erneuerung der Kunst durch Abwendung vom kanonisch werdenden Realismus. Ziel von Oberiu war, die Gegenstände aus ihren relativen Bedeutungen, aus Ursache-Wirkungs- oder Zweck-Mittel-Verbindungen herauszulösen und «frei von der alten literarischen Vergoldung» abzubilden. Oberiu lehnt die Forderungen der Alltagslogik ab: «Kunst hat ihre eigene Logik, und sie zerstört nicht den Gegenstand, sondern hilft, ihn zu erkennen.» Wie der Dadaismus bricht also auch Oberiu mit der etablierten Kunst, die als Opium für ein bildungsbürgerliches Publikum, als Dekoration für die gute Stube und als surrogative Befriedigung eines falschen Bewusstseins dient. «Reale Kunst» heisst dagegen für Charms: Kunst, die nicht vom Leben getrennt ist. Briefe, Tagebuch, Gespräche, zufällige Gedanken – all das kann Kunst sein. Dies führt zu einer Wechselwirkung von Dichtung und Wahrheit: In Charms‘ Notizbüchern stehen Gedichte neben Alltagsnotizen; in realen Briefen tauchen Fantasiegestalten auf, in fiktiven Geschichten dagegen reale Personen – die Übergänge sind fliessend. Charms selbst ist ein exzentrisches Kunstwerk: Er verkleidet sich als Sherlock Holmes und trägt einen Schnuller um den Hals. Er sitzt auf Bäumen und weckt mitten in der Nacht seine Frau, für eine Rattenjagd. Charms verkehrt mit Künstlern verschiedenster Metiers und probiert unermüdlich alles selber aus: Er zeichnet, musiziert, singt, steppt, turnt, ist Schauspieler, Jongleur und Magier. Er untersucht okkulte Lehren, schnüffelt Äther, erfindet «Apparate ohne bestimmte Funktion» – und gibt sich sexuellen Ausschweifungen hin. Auch den ständigen Kampf gegen seine eigenen Schwächen und Obsessionen dokumentiert er; es gibt Zeiten, in denen er es fast allen Ehefrauen seiner Freunde «französisch» machen will, während er gleichzeitig Gott anfleht, ihn von seiner ersten Frau Esther zu trennen.
Zwischen Allmacht und Hunger

Der erste Oberiu-Abend «Drei linke Stunden» im Januar 1928 ernet vernichtende Kritiken, was weitere Auftritte quasi unmöglich macht. In einem Gebet, im Original auf deutsch verfasst, bittet Charms «Mein Gott», ihn auftreten zu lassen.

M.G. Es ist doch logisch mich einladen gedichte zu lesen. Mach es M.G. da sind Menschen die Lieteratur lieben, es wird ihnen intressand sein dass zu hören. G. mache doch das un ich bitte dich. Mach es mein liebe G.

1930 wurde Oberiu endgültig verboten. Eine solche Auffassung von Kunst konnte unter dem Stalinismus lebensgefährlich sein. Die Zensur war rigoros, und eine böswillige Kritik in der Propagandapresse reichte aus, um nicht systemkonforme Literaten als «Volksfeinde» festzunehmen. Sie wurden in Lager geschickt und nicht selten exekutiert. Charms flüchtete in eine innere Emigration, indem er sich als Autor von Kindergeschichten über Wasser zu halten versuchte und seine anderen Texte für sich behielt – sie hätten im Rahmen der Doktrin des «sozialistischen Realismus» nicht nur keine Aussicht auf Publikation gehabt, sondern ihn den Kopf kosten können. Charms hatte nicht, wie eine seiner Bekannten, die Pianistin Maria Judina, den Status eines «Gottesnarren», der auch vor Stalin ungestraft zu seiner inneren Überzeugung hätte stehen können. So blieb ihm, neben seiner prekären, oft von tagelangem Hunger begleiteten Existenz, nur die Rolle des genauen Beobachters:

Ich habe mir die Ohren nicht zugehalten. Alle haben das getan, nur ich nicht. Ich habe mir auch nicht mit einem Lappen die Augen bedeckt, so wie es alle gemacht haben. Und darum habe ich alles gesehen. Ja, ich allein habe alles gesehen und gehört.

 Das grösste Glück, das daneben möglich ist, ist das der Selbstbestätigung durch Kreativität. Dort, in der Phantasie, sind dann auch Träume von Erfolg und auktorialer Allmacht realisierbar:

 

Wo auch immer ich auftauche, sofort fangen alle an zu tuscheln und mit Fingern auf mich zu zeigen. «Also wirklich, was soll denn das!», sage ich. Aber sie lassen mich wieder nicht ausreden, und ehe ich mich’s versehe, schnappen sie mich und tragen mich auf Händen.

 Doch auch im Traum lässt sich die Wirklichkeit, die von Hunger geprägt ist und der Enge der Kommunalwohnung, die Charms mit Vater, Schwester und Ehefrau teilt, nicht ganz ausblenden:

 

Seit langem träume ich gern vor mich hin: Ich zeichne mir eine Wohnung und richte sie ein. Manchmal zeichne ich ganze Häuser mit 80 Zimmern, und manchmal gefallen mir ZweiZimmerwohnungen. … Heute kam Maschenka, brachte mir Lebertran und 25 Rubel.

Wie hielt Charms dieses Leben aus? Vielleicht nur, weil er in seinem Schreiben ein Ideal gefunden hatte, das einen Sinn innerhalb des ihn umgebenden totalitären Unsinns ergab. Er glaubte an die geradezu physische Wirkung seiner Werke: «Es gehört sich nicht zu glauben, dass diese Kraft in der Lage ist, Objekte zu bewegen, und doch bin ich überzeugt davon, dass die Kraft der Worte auch dies vermag.» Gedichte sollten so beschaffen sein, dass, «wenn man sie gegen ein Fenster schmeißt, das Glas springt». Er hielt daran fest, so lange es möglich war, schrieb – immer von Hand – auf Einkaufszettel, Rechnungen, Karton; er arbeitete wie besessen und in der Gewissheit, nicht gelesen zu werden.

Ende

Charms und viele seiner Schriftstellerfreunde werden 1931 im Zuge einer grösseren «Säuberungs»-Welle verhaftet, unter dem Verdacht «der Organisation und Beteiligung an einer antisowjetischen illegalen Vereinigung von Literaten». Wwedenski und er werden für rund ein Jahr in die Provinzstadt Kursk in die Verbannung geschickt. Ab 1937 verschlimmert sich seine Lage immer mehr. 1939 weist er sich in die Psychiatrie ein, um vom Einsatz in der Armee befreit zu werden (ein Kunstgriff, der ihm später zum Verhängnis werden sollte). Er verarmt zunehmends und verkauft sein Mobiliar und seine Kleidung. Er fürchtet eine erneute Verhaftung, nachdem auch seine Arbeiten für Kinder angefeindet und mehrere seiner Freunde verhaftet oder erschossen worden sind, darunter fast alle Oberiuten, die Redaktoren der Kinderzeitschriften, sowie die gesamte Familie seiner ersten Frau, die 1938 im Lager starb.

Wir sind besiegt am Feld des Lebens.

Und jede Hoffnung ist vergebens.

Zu Ende ist der Traum von Glück –

allein das Elend blieb zurück.

Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion wird Charms tatsächlich zum zweiten Mal verhaftet, angeblich wegen «Verbreitung defaitistischer Propaganda». Charms täuscht wieder Geistesverwirrung vor und wird in die Gefängnispsychiatrie eingewiesen. Bei der Hausdurchsuchung nach seiner Verhaftung lässt die Geheimpolizei seine Manuskripte und Notizbücher denn auch liegen, weil sie darin nur die verwirrten Kritzeleien eines Geisteskranken lesen kann, als welcher Charms bis zum Ende der Sowjetunion auf dem Index steht. Sein Aufenthaltsort wird seiner Frau nicht mitgeteilt; als sie ihn schliesslich ausfindig macht, ist Charms schon tot.

 

Druskin, der einzige Oberiu-Überlebende, zieht daraufhin seinen Schlitten durch das belagerte, von Krieg und Hunger gepeinigte St. Petersburg, um Charms‘ Manuskripte aus der von Fliegerbomben zerstörten Wohnung zu bergen. Er wird sie über Jahre aufbewahren, bis schliesslich ihre Zeit gekommen ist.

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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