Irmgard Keuns ‹Gilgi – eine von uns›

«Aus dieser Frau kann einmal etwas werden», schreibt, deutlich paternalistisch, Kurt Tucholsky 1932 zur Veröffentlichung von Irmgard Keuns Debütroman ‹Gilgi – eine von uns›. Er findet Lob, allerdings nur für den ersten Teil des Romans, denn: «Wenn Frauen über die Liebe schreiben, geht das fast immer schief». Das ist schade für Tucholsky, denn er hat unrecht und zwar auf doppelte Weise: Weder schreibt Keun über die Liebe – sie schreibt, man muss das so platt sagen, über das Leben selbst –, noch geht das derart schief, wie Tucholsky meint. Wenn etwas schief geht im Roman, dann ist das Gilgis Leben selbst, allerdings nicht auf Kosten von Keuns Roman, dem es ganz prächtig ergeht: Sechs Auflagen im Erscheinungsjahr, Übersetzungen in sieben Sprachen und eine von den LeserInnen leidenschaftlich geführte Diskussion im sozialdemokratischen «Vorwärts» (wo ‹Gilgi› zunächst in Serie erschien). Thema: Ist Gilgi nun «eine von uns», wie das der Titel verspricht, oder eben nicht? Die Frage ist müssig zu beantworten und die innerlinks im Oktober 1932 geführte Diskussion wirkt heute fehl am Platz, werden doch nur wenige Monate später sowohl Keun und Tucholsky als auch der gesamte «Vorwärts» vom Nationalsozialismus stillgestellt.

Wieso Tucholskys gönnerhafter Ton so verfehlt ist

Tucholskys positive Rezension blieb trotz alledem natürlich förderlich für Keun. Die anfängliche Protektion durch ihn (und auch durch Alfred Döblin), soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, wieso Tucholskys gönnerhafter Ton so verfehlt ist. Die Legende besagt immerhin, dass Keun mit den Worten «Ich habe hier ein Manuskript von mir und wünsche bis spätestens übermorgen Antwort» ihr Buch bei ihrem Verleger ablieferte. Damit «aus dieser Frau» etwas wird, dafür brauchte sie weder Tucholskys Zustimmung noch seine Rezension. Keun, so könnte man mit einem Satz aus ‹Gilgi› sagen, hatte ihr Leben selbst in der Hand.

Das Leben in der Hand zu halten, ist auch das erklärte Ziel der Protagonistin von Keuns Erstlingsroman. Gilgi ist jung und selbstbewusst, berufstätig und gutaussehend. Sie duscht morgens kalt, macht im Winter Gymnastik, im Sommer Brustschwimmen; sie bringt sich Fremdsprachen bei und sucht sich ihre Liebhaber selbst aus. Der erste Satz des Romans spricht das bereits aus: «Sie hält es fest in der Hand, ihr kleines Leben, das Mädchen Gilgi». Er formuliert allerdings nicht nur Gilgis Lebensideal, sondern präfiguriert syntaktisch geschickt die Instabilität dieses Entwurfs und damit schon Gilgis Niedergang. Denn was im Folgenden passiert – ein Mann, eine ungewollte Schwangerschaft, die Kündigung, der Wegfall sozialer Selbstverständlichkeiten und die Konfrontation mit dem sozialen Elend anderer – wirft Gilgi derart aus der Bahn, dass ihr eben ihr eigenes Leben buchstäblich abhanden kommt: «Ich kann von heute auf morgen nicht mehr für mich garantieren.»

Ich habe hier ein Manuskript von mir und wünsche bis spätestens übermorgen Antwort

Der Roman ist die Inszenierung dieses Umkippens. Er erzählt dabei nicht nur das Scheitern eines weiblichen Lebensentwurfs, sondern kippt gemeinsam mit Gilgis Leben auch sprachlich ins Melodram, gerade in und dank den von Tucholsky so gehassten Liebesszenen: «Sie will die Hand abstreifen, die über ihre Schulter streicht, und hat nicht einmal soviel Kraft, um den Arm zu heben.» Und danach: «Er legt ihr die Hand auf den Arm – braucht sie nur anzufassen, gleich ist die Haut wie versengt». Das mag «süsslich» (Tucholsky) klingen, aber mit dieser Auffassung ist wenig gewonnen. Man sollte stattdessen versuchen, diese Stellen beim Wort zu nehmen. Denn Gilgis Anspruch und Gilgis Scheitern werden durch die Hände des Romans strukturiert und realisiert. Sie spannen einen Bogen vom ersten Satz des Romans, in der Gilgi ihr Leben fest in der Hand hält, bis zur entscheidenden Fehlentscheidung Gilgis am Ende des Romans: «Meine Hände», sagt Gilgi dort zu ihrem Freund Martin, «die brauche ich jetzt für dich».

Man muss also genauer nachfragen: Was bedeutet es, das eigene Leben in der Hand zu halten? Für Gilgi heisst das zunächst, selbst über die eigenen Hände bestimmen zu dürfen. Verfolgt man diese Linie, wird klar, dass sie dabei mindestens zwei, deutlich getrennte Paar Hände besitzt. Das sind einerseits die Arbeitshände, die für die Stenotypistin Gilgi ihren Anspruch auf berufliche und finanzielle Selbständigkeit und Unabhängigkeit garantieren. Und andererseits die Hände, welche Gilgis Selbstverhältnis als Frau definieren und ihr Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung einfordern.

Leute, die nicht arbeiten, kann Gilgi nicht leiden

Hände sind für Gilgi demnach zunächst Arbeitsinstrumente, die in ihrem Beruf als Stenotypistin förmlich mit der zu bedienenden Schreibmaschine verwachsen: «Ihre braunen, kleinen Hände mit den braven, kurznäglig getippten Zeigefingern gehören zu der Maschine, und die Maschine gehört zu ihnen.» Gilgi glaubt von Anfang bis Ende des Romans «an die Verpflichtung junger, gesunder Hände». Sie taucht immer als erste im Büro auf (auch mit 39,4 Fieber, wie sie an einer Stelle prahlt) und besucht danach noch auf eigene Faust Fremdsprachenkurse. Das Leben wird für Gilgi, in schön betriebswirtschaftlicher Sprache, zur «sauber gelösten Rechenaufgabe» – die Liebe zu Martin taucht entsprechend zunächst als «Betriebsstörung» auf. Gilgi hat sich dem System kapitalistischer Selbstausbeutung also komplett verschrieben. Ihr Verhältnis zu ihren Arbeitshänden ist entsprechend eines der körperlichen Disziplinierung und der wirtschaftlichen wie zeitlichen Optimierung: Genauste Kalkulationen, bewusste Investments und penibel geführte Ein- und Ausgabenhefte bestimmen ihren Alltag. Gilgi wirkt so teilweise, als wäre sie aus Fritz Gieses ‹Handbuch psychotechnischer Eignungsprüfungen› (1925) herausgefallen.

Die Psychotechnik, Arbeitswissenschaft oder «angewandte Psychologie», die der Psychologe Fritz Giese in der Weimarer Republik mit zahlreichen Veröffentlichungen vorantrieb, unternahm unter anderem den Versuch, durch Optimierung von Arbeitsgerät und durch Disziplinierung «manueller Geschicklichkeit», die Effizienz (auch stenotypistischer) Lohnarbeit zu maximieren. Für Giese war die Psychotechnik als «Psychologie in ihrer Anwendung aufs Leben» immer auch Kulturphilosophie, weswegen er sich berechtigt sah, neben Büchern über die «Psychologie der Arbeitshand» auch solche über «Girlkultur» oder den «Atmosphärenwert der Frau» zu verfassen. Dass sich die Protagonistin von Keuns durchaus sozialkritischem Roman diesem Programm fügt, lässt sie – und das zeigt die Diskussion im «Vorwärts» – marxistischen LeserInnen suspekt werden. Wenn Gilgi sagt, sie möchte «bloss keine Beleidigungstragödie à la ‹Schicksale hinter Schreibmaschinen!›», nimmt sie dabei wörtlich Bezug auf einen Erfolgsroman Christa Anita Brücks, deren desillusionierte Protagonistin ihrem Chef noch den kommenden «Umsturz» an den Hals wünschte. Gilgi liegt nichts ferner: «Faules Pack! Aufreizend zum Klassenhass. Leute, die nicht arbeiten und so idiotisch, albern, verschlafen durch die Tage trotten, kann Gilgi nicht leiden.»

Es ekelt mich an, dass ich so machtlos gegen meinen Körper bin

Die konkrete Umsetzbarkeit dieses weiblichen Lebensentwurfs wird mit dem Beginn ihrer Affäre sabotiert – in der Sprache der Hände also sobald «Martin Brucks Finger Gilgis Hand streifen». Geht Gilgi bis dahin äusserst nonchalant mit bisherigen Affären oder potentiellen Interessenten um, lässt Gilgi für Martin nicht nur ihr berufliches Optimierungsprogramm schleifen, für das der Lebemann Martin keinerlei Verständnis aufbringen kann. Sie gerät vor allem auch in ein toxisches Verhältnis körperlicher Abhängigkeit, in dem «die summende Sehnsucht in den Gliedern» Gilgis bisher so selbstbestimmtes Verhältnis zu ihrem Körper gefährdet: «Ich halte das nicht mehr aus, ich will tot sein – ich will das nicht mehr – ich will nicht – es ekelt mich an, dass ich so machtlos gegen meinen Körper bin.»

Hier spielt sich die eigentliche Tragödie des Romans ab. Denn es ist das zweite der beiden Handpaare, das Gilgi bisher erlaubte, wortstark über den eigenen Körper und das eigene Leben zu bestimmen. Die Spannbreite dieses Selbstverhältnisses beginnt bei der Mode.

Die Hand muss weich und weiss sein

Auch Gilgis Hände sind, als sie zum ersten Mal mit Martin verabredet ist, «säuberlich manikürt». Sie entsprechen dem Idealbild der Modezeitschriften dieser Zeit: «Die Hand muss weich und weiss sein», schreibt im Oktober 1931 die Illustrierte ‹Das Leben›. Sie rät dafür zu einer «Handschuhkur» mit «Gold-Crême» und dem nächtlichen Tragen von Lederhandschuhen (vorausgesetzt man könne sich «über den etwas sonderbaren Eindruck hinwegsetzen, den eine hübsche Frau im Bett mit rosa Crêpe-de-Chine-Hemd und dicken braunen Boxhandschuhen erweckt…»). Diese Produktion «schöner Hände» durch kosmetische Pflege hat nun für Gilgi zunächst den Vorteil, ihre Hände von den Arbeiterinnen-Händen etwa der Schneiderin Täschler abzugrenzen. Es sind nicht zufällig «die Hexenfinger» der verarmten Schneiderin, welche diese Zeitschriften «vor ihr ausbreiten». Das spricht zwar weder für ein solidarischen Klassenbewusstsein der Angestellten Gilgi, noch handelt es sich um ein feministisches Vorzeigeprogramm. Dennoch steht der modisch bewusste Umgang mit der eigenen Hand am Anfang von Gilgis Eintreten für körperliche Selbstbestimmung. Das Ende stellt das Gespräch mit dem Gynäkologen dar, dessen paternalem Tänzchen rund um das Thema «Abtreibung» Gilgi sich verweigert: «Das entzieht sich ja nun doch wohl ein bisschen Ihrer Kenntnis, was da das beste ist, nicht wahr? Würde mir absolut nichts ausmachen, fünf gesunde uneheliche Kinder in die Welt zu setzen, wenn ich für sie sorgen könnte.»

Das, was ich im Spiegel seh’, hat ein andrer aus mir gemacht

Die körperliche Abhängigkeit von Martin entwickelt sich für Gilgi daher zur kompletten Selbstentfremdung. Die Grosskomplexe, für die die beiden Handpaare Gilgis ursprünglich standen – ihr Einfügen in ein kapitalistisches Programm der Selbstoptimierung sowie ihre körperliche und sexuelle Unabhängigkeit – sind damit gescheitert. Gilgi hält ihr Leben nicht mehr in der Hand. In einer zentralen Stelle in der Mitte des Romans wird dieses Scheitern der Hand explizit gemacht. Gilgi steht vor dem Spiegel, sieht «schlank und zerbrechlich und fremd aus. Ich gehöre mir ja nicht mehr. Das, was ich im Spiegel seh’, hat ein andrer aus mir gemacht.» Und Gilgis Einsicht «Mein Körper ist mir fremd» entsprechend, sind ihr auch die Hände «untreu geworden». Was ist passiert? «Weiche, müde Haut, spitzgefeilte Nägel, glänzend von rosigem Lack. Vier zärtliche, verliebte Luxusfinger an jeder Hand – daneben die Zeigefinger mit den hartgetippten Kuppen – gewöhnliche robuste Arbeitsinstrumente.» In der über die Hand geführten Bespiegelung der beiden gescheiterten Seiten ihres Lebensentwurfs, verlässt sich Gilgi dann noch am ehesten auf ihre arbeitenden Zeigefinger. «Ihr hässlichen, stumpfnägeligen, von allen meinen zehn Fingern seid ihr beiden mir immer noch die liebsten. – «Martin, meine zwei Zeigefinger sind alles, was du von mir gelassen hast.»» Den Anspruch auf berufliche Selbsterfüllung, «geschützt sein im gewünschten Zwang erarbeiteter Tage, in dem gewollten Gesetz eigenen Schaffens», lässt sich Gilgi also bis zum Ende nicht nehmen.

Gegenüber den Möglichkeiten weiblicher Selbstbestimmung in den letzten Jahren der Weimarer Republik bleibt Keuns Roman also äusserst skeptisch. Gilgi scheitert, weil sie gegenüber einer feindseligen Gesellschaft scheitern muss. Und dennoch beharrt sie darauf, von vorne anfangen zu dürfen und übt sich trotz oder gerade wegen der scheinbaren Unmöglichkeit ihres Lebensentwurfs in politischer Resilienz: «Mensch sein heisst für dich Mensch sein und Frau sein und Arbeiter sein und alles, alles sein. Viel verlangt?»

Das Leben in der Hand zu halten, ist unabhängig von Geschlechter- und Klassenverhältnissen nicht zu denken

Keuns Roman bietet keine einfachen Lösungen an, er wartet nicht mit politischen Erweckungserlebnissen auf, gibt sich aber auch nicht mit Gilgis Scheitern zufrieden. Das Leben in der Hand zu halten, so vielleicht die wichtigste Lektion Gilgis, ist unabhängig von Geschlechter- und Klassenverhältnissen nicht zu denken. Das herauszuarbeiten, darin besteht die Komplexität und der Verdienst des Romans.

 

Anatol Heller promoviert an der Humboldt-Universität in Berlin. Er beschäftigt sich mit widerspenstigen Händen in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts.

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