Das lernten wir schon als Kinder beim Kassettenhören vom Moralapostel Kasperli. Darüber, wie es dort aussieht, hörten wir eher weniger. Nun schauen wir hinter die Gardinen. In die Kiste, den Bau, eben den Chefig. Diese Ausgabe der Fabrikzeitung dreht sich um das Gefängnis, um seine verschiedenen Funktionen und Prak­tiken. Welche Disziplinarkonzepte gibt es, was sind die Unterschiede und was die Alternativen? Warum bleibt
die archaische Idee, jemanden «hinter Gitter» zu bringen, eine rege Praxis und wie könnte ihre Zukunft aussehen?

In seinem 1975 erschienenen Buch ‹Surveiller et punir› betrachtete Michel Foucault das panoptische Gefängnis als Symbol einer Überwachungs-Gesellschaft, in der das Verhalten der Menschen durch die ständige Präsenz einer möglichen Überwachung verändert wird. Die klassische Inhaftierung an einem Ort «ausserhalb» der Gesellschaft würde somit durch eine immerwährende Selbst-Überwachung und -Disziplinierung ersetzt. Aber wem sagen wir das: «Selbstoptimierung» ist der prägende Begriff unserer Zeit. Oder wie die Youtube-Yogalehre­­rin befiehlt: «Be the best version of yourself».

Was bereits der Philosoph Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert mit dem Panoptikum als Instrument der totalen Überwachung konzipiert hat, scheint sich nicht nur in der Bewertungskultur heutiger sozialer Netzwerke als eine weitgehend widerstandslos akzeptierte Realität herausgestellt zu haben. Doch haben diese Praktiken weder zu einer besseren Gesellschaft noch zum Niedergang der «physischen» Gefängnisse geführt. Im Gegenteil, die weltweite Inhaftierungsrate hat historische Höhen erreicht. Wer glaubt, dass nur totalitäre Staaten für diese Zahlen verantwortlich sind, irrt – mit einer Gesamtzahl von über zwei Millionen Menschen hat das «Land der Freien» die mit Abstand höchste Inhaftierungsrate der Welt: In den USA steht jeder 31. Erwachsene unter irgendeiner Form der strafrechtlichen Kontrolle, darunter einer von elf afroamerikanischen Männern. US «Justizvollzugsanstalten» kosten jedes Jahr rund 80 Milliarden US-Dollar.

In der Schweiz hingegen sind die Zahlen auf den ersten Blick eher rückläufig. Ein Grossteil der im Straf­register eingetragenen Personen wird hierzulande mit Geldstrafen sanktioniert, ausserdem mit gemeinnütziger Arbeit, elektronischen Fussfesseln, Behandlungsauflagen, etc. Haben wir es hier also mit einem Selbstdiszipli­nierungsregime zu tun? Dies dürfte wenn dann nur für Schweizer*innen zutreffen – in der U-Haft wie im Vollzug sitzen nämlich vor allem nicht wohnhafte Personen. Das Gefängnis ist hier also nicht mehr zuerst ein Disziplinierungsmittel der Wohnbevölkerung, sondern vielmehr ein Instrument zur Regulierung unwillkommener Migration.

In dieser Ausgabe beleuchten wir die Geschichte der Gefängnisse in der Schweiz. Wir tauchen ein in heutige Gefängnisalltage: Aus der Sicht eines Gefängnis-Direktors, eines Gefängnis-Seelsorgers und eines Insassen in Ausschaffungshaft. Wir sehen, wie Genf eine Vorreiterrolle einnimmt, indem es in seinen Gefängnissen Häftlinge ausbilden lässt. Wir lesen, welche Vorstellungen Kinder vom Gefängnis haben – und weshalb die Schule für sie auch eine Art Gefängnis ist. Es taucht die Frage auf, ob Gefängnisse in dieser Form überhaupt noch existieren sollen. Und schliesslich stehen wir wieder vor dem un­verrückbaren philosophischen Grundproblem: Sind wir nicht alle gefangen in der Höhle unserer eigenen beschränkten Denkkraft?

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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