Eigentlich hatte ich im neuen Jahr vor, zu einem dieser Menschen zu werden, die Dinge nicht hinausschieben, und die das Telefon ohne Widerwillen abnehmen. Die sich nachmittags nicht hinlegen, und die nicht jede Entscheidung in tausend Stücke zerreden. Und die laut guten Morgen rufen nach dem Aufstehen!

Dann kam 2020.

Mitte März: Nach einem Monat wilder Spekulationen ging es auf einmal schnell: Lockdown. Das Coronavirus hat die Schweiz erreicht. Innerhalb einer Woche durften wir in der Gastro – ich arbeitete im Service – nur noch 50 Gäste bewirten, dann mussten wir ganz schliessen. Wie lange, wusste niemand. Die plötzliche Arbeitslosigkeit machte mir am Anfang trotz Kurzarbeit zu schaffen. Auch wenn die Perspektive der bezahlten Freizeit verlockend scheinen mag, fühlte es sich doch sehr ungut an. Dystopisch. Ein Kloss im Hals. Was wird als nächstes passieren? Wann sehen wir uns wieder? Bricht die Welt zusammen? Niemand wusste es. Das Jahr der Furchtlosigkeit und Entschlossenheit war also vorerst auf Eis gelegt: Erst mal tief durchatmen, back to the roots. Finde dein Gleichgewicht! Schreiben, Zeichnen – aber immer und mit Nachdruck: Bloss kein Druck! Das sagten die Leute im Internet. Wir sitzen alle im gleichen Boot.

Vielleicht hatte ich doch ganz gute Chancen, zu dem Menschen werden, den ich mir fürs neue Jahr ausgemalt hatte.

Andere haben im Lockdown Alben und Bücher geschrieben, ich wiederum habe mich vermehrt mit Leuten herumgetrieben, bei denen in normalen Zeiten der Alltag zwischen uns steht. Und die Bekanntschaften im Ausland waren auf einmal genau so nah oder so fern wie die Nachbarin. Auf Tinder konnte man sich für kurze Zeit durch die ganze Welt swipen. Während nichts möglich war, schien irgendwie auch nichts mehr unmöglich.

Ich hatte Zeit, um lang hinausgeschobene Dinge zu erledigen (wie einige der Klassiker der Weltliteratur neu zu lesen). Ab und zu half ich in der Lagerhalle eines Getränkevertriebes aus. Ich fing sogar an, fast täglich im Wald zu joggen. Vielleicht hatte ich doch ganz gute Chancen, zu dem Menschen werden, den ich mir fürs neue Jahr ausgemalt hatte. Und manchmal schien der Zusammenbruch der Welt gar nicht mehr so furchteinflössend; was, wenn das jetzt die Zäsur wäre? Die einmalige Gelegenheit, das System radikal zu verändern?

Der Besuch im Restaurant wurde zum Ausgangsersatz: Saufeskapaden und Rumpöbeleien. Eine Frau hob meiner Arbeitskollegin die Scheibe hoch und schleckte ihr das Gesicht ab.

Von einem Tag auf den anderen war der Lockdown dann aber vorbei. Das war so ungefähr am 11. Mai. Restaurants auf! Back to work, aber diesmal mit Auflagen. Zwei Meter Abstand, nicht mehr als vier Menschen zusammen, drei Schichten Gäste pro Abend; der Umsatz muss stimmen, schliesslich geht es ums Überleben. Hinter der Plexiglasscheibe wurde es von Monat zu Monat heisser, die Haut glänzte, die Sicht war verschwommen. «Was haben Sie gesagt? Sorry, ich hab ne Scheibe» war der Standardscherz des Sommers. Arbeiten war anstrengender als je zuvor. Am Feierabend blieben nur wenige sitzen. Bloss keinen unnötigen Kontakt. In der Chefetage herrschte berechtigte und ständig präsente Anspannung, die abfärbte. Die Gäste wiederum schienen sich zu amüsieren. Der Besuch im Restaurant wurde zum Ausgangsersatz; Saufeskapaden und Rumpöbeleien häuften sich. Eine junge Frau hob meiner Arbeitskollegin die Scheibe hoch und schleckte ihr das Gesicht ab. Wir sitzen eben doch nicht alle im gleichen Boot.

Aus dem Ausland hörte man von Trumps, Bolsonaros und Johnsons, die Coronainfizierten im Krankenhaus die Hand schüttelten. Von erschöpften Ärzt*innen und Pfleger*innen. Auch in der Schweiz. In Zürich auf der Langstrasse standen Menschen täglich hunderte Meter in einer Schlange, um sich eine Mahlzeit abzuholen. Würde nun alles zusammenbrechen?

Eben noch in der Wolke sitzend, klebte ich auf einmal an der Strasse.

Meinen Geburtstag verbrachte ich zuhause – in Quarantäne. Kontakt mit einem Infizierten. Freundinnen kreuzten mit Vulkanen und Knallfröschen auf, die sie vor unserem Fenster auf der Strasse zündeten. Die Nachbar*innen tanzen auf ihren Balkonen mit. Als zwei freundliche Polizisten intervenierten, alles Gute wünschten, es bei einer Warnung beliessen und sogar noch Stripperwitze (über sich selbst!) rissen, da hatte ich für einen Moment das Gefühl, die Welt könnte sich vielleicht doch ein bisschen zum Guten verändern.

Kurz nach Ende der Quarantäne, es war Freitag auf Samstag irgendwann im Oktober, führte mich ein guter Freund zur Feier meiner wiedergewonnenen Freiheit zu einem nachträglichen Geburtstagsdrink aus. Die Anweisung war: Wir machen uns schick, wir mischen uns drunter. Im obersten Stock des Primetowers gönnten wir uns eine neue Sicht auf die fast stillgelegte Stadt. Nachdem wir um Mitternacht rausgeschmissen wurden, gab es nicht mehr viel zu tun ausser dem Spaziergang nach Hause. Ach komm, ich fahr dich kurz. Die Strasse war nass vom Regen.

Das Gefühl während dem Sturz war komisch. Die Zeit blieb kurz stehen. Irgendwie fühlte es sich an, als wäre das eben Passierende unausweichlich gewesen, als wäre der Abend oder sogar mein ganzes Jahr auf diesen Moment hinausgelaufen. Eben noch in der Wolke sitzend, klebte ich auf einmal an der Strasse. Der Kopf funktioniert, aber das rechte Bein fühlt sich schräg an. Aufstehen: keine Option. Ein Helfer tauchte aus dem Dunkel auf, was für ein Glück. Er packte mich unter den Armen, der Weg aufs Trottoir war geschafft. Sein Gesicht sah ich nur verschwommen, die Welt drehte sich vor Schmerz.

Im Krankenwagen bemerkte ich, dass mein Portemonnaie fehlte. Der Helfer! Ich verwarf den bösen Gedanken sofort wieder; es musste beim Sturz von der Vespa rausgefallen sein. Während die beiden Sanitäter erfolglos versuchten, das schräge Bein aus der engen Hose zu befreien, suchte mein (zum Glück unversehrter) Freund um die Unfallstelle herum nach dem Portemonnaie. Er ging sogar zurück in die Wolke. Auf der Notfallstation im Triemli dann noch vor der Diagnose das Telefon mit der Bank: Ja ja, Madame, ich sehe da, Transaktion über 150 Franken, vor zwölf Minuten, eine Strip-Bar an der Langstrasse. Waren Sie das?

Der Mann war schon nicht mehr da, als mein Freund in der Bar eintraf, aber er erkannte ihn auf der Kamera; es war unser Helfer in Not.

Mitten in der Nacht stürmten zwei Pflegerinnen herein. Meine Zimmernachbarin, eine kleine Frau stolzen Alters, ächzte vor Schmerz. Sie hatte im Traum einen grossen fremden Mann, der sie angreifen wollte, in die Flucht geschlagen. Blöd nur, dass der Arm, mit dem sie ihm geradeaus eine reingehauen hatte, bereits doppelt gebrochen war. Sie wurde ins Waid transferiert. Beim Abschied floss ein Tränchen.

Mittlerweile sieht man mir den Beinbruch nicht mehr an. Schritt für Schritt habe ich mein Gleichgewicht wiedergefunden – und mir für 2021 rein gar nichts vorgenommen.

Leonor Diggelmann hat Geschichte und portugiesische Sprach- und Literaturwissenschaften studiert und macht derzeit einen Master in Zeitgeschichte an der Universität Fribourg. Sie lebt in Zürich und arbeitet seit vielen Jahren in der Gastronomie.

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