Irmgard Keuns Plagiat – eine Geschichte aus dem Jahr 1932

Die Berichterstattung aus dem Literaturbetrieb kennt kaum etwas Ermüdenderes als Plagiatsdebatten – und vermutlich nichts Ermüdenderes als die Wiedervorlage von Plagiatsdebatten, die von allen Beteiligten seit einem halben Jahrhundert zu den Akten gelegt sind. Das gilt zumindest so lange, wie man als Ziel solcher Debatten die Sicherung literarischen Eigentums begreift, Urheber und Dieb identifizieren und voneinander absetzen will. Interessant werden solche Debatten eigentlich immer nur dann, wenn man sie als historische Erzählungen begreift, die mit den Texten in Verbindung stehen, um die sie sich ranken. Und so kann man auch ohne schlechtes Gewissen zu einer Episode zurückkehren, die sich zu Beginn der 1930er Jahre im deutschen Feuilleton und hinter seinen Kulissen abgespielt hat und in deren Zentrum Irmgard Keuns zweiter Roman ‹Das kunstseidene Mädchen› steht.

Die Keun habe anderen abgelauscht

1932, nur ein Jahr nach dem Debüt ‹Gilgi – eine von uns erschienen›, stösst auch der Nachfolger auf grossen Zuspruch im Feuilleton, das freilich nun zugleich über die Dynamik des Literaturbetriebs nachzudenken beginnt. Natürlich sei es «keine Schande, Bestseller zu sein», konzediert Martha-Maria Gehrke in ihrer Besprechung des Romans in der Vossischen Zeitung vom 26.6.1932, aber eben doch «ein etwas zweischneidiges Glück», das der Autorin in diesem Fall «etwas schlecht bekommen» wäre. «Rasch herausgeschleudert» worden sei der Zweitling, «mit letztem Modelokal und letztem Modeschlager» versehen – und somit letztlich Ausdruck einer Literatur, deren Antrieb vor allem anderen das kommerzielle Kalkül ist. Erkannt haben will die Rezensentin, dass hier jemand glaubt, an eine Erfolgsrezeptur geraten zu sein. Auf diese Rezeptur aber – und hier wendet sich die Kritik zur Inkriminierung – sei die Keun nicht selbst gekommen, sondern sie habe sie anderen abgelauscht. Gehrke will «diesen Stil und diesen Ton» nicht nur bereits in Anita Loos’ ‹Gentlemen prefer blondes› «in Vollendung» gesehen haben. Vor allem ist es Robert Neumanns Roman ‹Karriere›, der dem ‹Kunstseidenen Mädchen› als Muster gedient haben soll. Übereinkommen Neumanns und Keuns Texte in der Tat darin, dass sie jeweils eine weibliche Ich-Erzählerin aufweisen, deren Geschichte sich in einem umgangssprachlich gefärbten Stream of Consciousness entfaltet. Bei Neumann ist es die Tänzerin Erna, die – mit recht eindeutig jiddisierender Diktion und Syntax – ihren Weg aus dem Theater durch die Welt der falschen und echten Kavaliere schildert. Keuns Doris wiederum, stets bestrebt, «ein Glanz» zu werden, flieht aus ihrer Heimatstadt, um in Berlin Fuss zu fassen, fabuliert sich durch die ungewollten und gewollten Liebschaften hindurch, bis sie am Ende im Nichts landet, die Prostitution vor Augen.

Ich bin ganz entsetzt gewesen

Strukturelle Ähnlichkeiten: gewiss. Für Keuns Rezensentin indessen hinreichender Grund um zu fragen, ob «das Wort ‹Stilgleichheit› nicht durch das deutlichere, leider auch den Inhalt betreffende ‹Plagiat› zu ersetzen» wäre. Damit ist der Verdacht in der Welt und begleitet Keuns Buch fortan auf seinem weiteren Weg durch die Gazetten, ohne dass er sich wirklich konkretisieren lässt. Auch der vorgeblich bestohlene Neumann schliesst sich der Kampagne an und denunziert Keun, die seine ‹Karriere› «glatt abgeschrieben habe», bei ihrem Verlag. Um dem Gerücht entgegenzutreten, wendet sich die Autorin im Juli 1932 an einen ihrer Fürsprecher: an Kurt Tucholsky. Sie habe sich Neumanns Roman nun kommen lassen und gelesen, könne die Vorwürfe aber nicht nachvollziehen. Deswegen solle Tucholsky, der ‹Das kunstseidene Mädchen› positiv besprochen hatte, nun für Klarheit sorgen und ihr schreiben, «ob mein ‹Kunstseidenes Mädchen› gefährliche Ähnlichkeit mit ‹Karriere› hat».
Tucholskys Antwort lässt nicht lange auf sich warten – und überrascht durchaus. Nachdem auch er Neumanns Text vorgenommen hat, fällt sein Urteil eindeutig aus:

«Ich muss den Vorwurf für richtig ansehn. Liebe Frau Keun, was haben Sie da nur gemacht –! […] Bei Neumann steht das alles wie bei Ihnen: die nicht beendeten Sätze, wenns die Dame so eilig hat; die merkwürdige Stellung von ‹sagt er … sage ich … sagt er … ›; genau dieselbe Technik, wie das Mädchen ihre Kokettiergeheimnisse enthüllt; einmal sogar das Motiv mit dem Mantel; das verquatschte Deutsch – und dann eben dieser Ton. Wie da alles Intime als bekannt vorausgesetzt wird, wie vierzehn Sachen mit einem Mal erzählt werden… alles, alles wie bei Neumann. Ich bin ganz entsetzt gewesen, als ich das gelesen habe.»

Der Skandal ebbt wieder ab

Im weiteren Verlauf der Affäre wird Tucholsky Neumann darum bitten, sich in der Weltbühne zum Plagiatsvorwurf zu äussern; Neumann retourniert, er werde die Angelegenheit erst öffentlich beilegen, wenn Irmgard Keun ihr Plagiat ebenso öffentlich «ausser Streit» stelle (also: einräume). Sollte Keun dies nicht tun, so werde er die Angelegenheit einer verlagsrechtlichen Auseinandersetzung überlassen. Freilich geschieht nichts dergleichen. Der Skandal ebbt wieder ab, bevor er an Fahrt aufnehmen kann. In seinem Nachwort zur Neuauflage der ‹Karriere› von 1966 will Neumann den Plagiatsvorwurf gegenüber Keun nie getätigt haben; in der Rückschau hält er schon alleine die Vorstellung des literarischen Diebstahls für «einen Unsinn».

Warum also noch einmal – in aller Kürze – darüber nachdenken? Es gilt ja niemanden mehr zu salvieren oder haftbar zu machen. Womöglich – Kerstin Barndt hat diese Überlegung vor einiger Zeit mit guten Argumenten gestützt – zeugen die Plagiatsvorwürfe gegen ‹Das kunstseidene Mädchen› auch von einem grundsätzlichen Unverständnis gegenüber den Schreibweisen der Neuen Sachlichkeit. Allerdings könnte man sich dann auch umgekehrt fragen, ob Keuns Roman nicht viel mehr von der Welt weiss, die ihn zu einem Plagiat erklärt hat, als man annehmen mag. Gehört vielleicht das Plagiat als Erzählung nicht genau so zu diesem Buch wie sein «verquatschtes Deutsch» und die «Koketterie», wie seine übergriffigen Männer, die wie Romane reden und die rostigen Sicherheitsnadeln, die sich Doris zur Mahnung an die Unterwäsche steckt?

Die Neukonzeption der Frau als Ikone moderner Medialität

Da ist etwas dran. Wann immer davon die Rede ist, dass Keuns Texte die «Neue Frau» erschreiben, literarisch entstehen lassen, dann wird dabei ausgeblendet, dass dieser Vorgang auch etwas mit einer Neukonzeption der Frau als Ikone moderner Medialität zu tun hatte. Keuns Doris ist eine Figur, an der sich genau dieser Wandel vollzieht. Sie beginnt als Schreibmaschinistin, mithin als jener Typus von Frau, den die Medienpolitik Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffen hatte und der nach und nach zum Phantasma aller schreibenden Männer wird. Der Weg der Männer in die lesende Öffentlichkeit führt über diese Frauen. Das Begehren, das man ihnen entgegenbringt, betrifft sie eigentlich nur in zweiter Linie, interessant an ihnen ist vor allem ihre Fähigkeit, das private, intime, gesprochene oder gemalte Wort in institutionelle, gesellschaftliche, machttragende Kommunikation zu verwandeln. Frauen schreiben Männer.

Keuns Doris (und ebenso Keuns Gilgi, auch eine Stenotypistin) bricht genau diese Geschlechterstruktur langsam, aber sehr raffiniert auf. Die Szene, in der sie von ihrem pickelgesichtigen Chef in der Kanzlei zunächst bedrängt und dann gefeuert wird, könnte in jeder Medienkulturgeschichte des 20. Jahrhunderts stehen. Es beginnt mit dem bewussten Unterlaufen des Protokolls durch das Auslassen dessen, was nicht gesprochen wird: Doris schreibt keine Kommas – ihre Briefe taugen nun nichts mehr als Anwaltsbriefe. Der Mann reagiert auf diese Verweigerung, indem er an die Stelle des Textes den Sexus setzt, sich das weibliche Medium auf anderem Wege gefügig machen will. Doris haut ihm den zu schreibenden Brief um die Ohren, das Beschäftigungsverhältnis wird beendet – und da beginnt nun ein neues Schreiben: «[…] es wird mir eine Wohltat sein, mal für mich ohne Kommas zu schreiben und richtiges Deutsch – nicht alles so unnatürlich wie im Büro.»

Eine Frau, die sich das Schreibwerkzeug nimmt, von dem die Männer sich ihren Lustgewinn versprochen hatten

Die «Neue Frau» wird dort sichtbar, wo sie in der ihr überantworteten Kontrolle über die Maschine ihre persönliche Macht entdeckt und für sich einsetzt. Ganz folgerichtig will Doris dann eben auch kein «Tagebuch» verfassen, sondern ganz beim technologisch zugerüsteten Erzählen bleiben. Sie will schreiben «wie Film». Damit überwindet sie just jenen kulturellen Zustand, in dem der Typus der Schreibmaschinistin noch in den 20ern eingefroren war. Um Kittler zu zitieren: «Ein und dieselbe Frau lebt tagsüber, im Realen der Arbeitszeit, im Symbolischen der Textverarbeitung, abends, im Imaginären der Freizeit, in einem technisierten Spiegelstadium.» Tagsüber Büro, abends Kino – und Doris ist just die Figur, die ihre Textverarbeitung aus dem Büro mit sich nimmt, um selbst nun «Film zu schreiben».

Liest man Keuns Roman aus dieser Perspektive noch einmal, dann wird deutlich, dass hier etwas sehr Interessantes sich ereignet: Da ist eine Frau, die sich das Schreibwerkzeug nimmt, von dem die Männer sich ihren eigenen Lustgewinn versprochen hatten. Sie kehrt sogar die Verhältnisse um: Wo man ihr einst diktierte, da versucht Doris, ihre eigene Karriere durch die Körper der Männer hindurch zu schreiben – und scheitert. An ihrer Schöpferin, der gelernten Stenotypistin Irmgard Keun hat man diese Geschichte just noch einmal nacherzählen wollen. «Plagiat», das stand damals, 1932, vor allem für eine Erzählung: Die Erzählung von einem schreibenden Frauenkörper, der bisher immer der Stimme der Männer gefolgt war und sich dieser Stimme nun bemächtigt, ihren Ursprung ausgelöscht hat. Es ist eine Sehnsucht nach Ordnung, die sich in dieser Erzählung ausspricht. Und es ist die Einsicht, dass die Zeit dieser Ordnung bereits abgelaufen gewesen war, die diese Erzählung rasch wieder hat verschwinden lassen.

Philipp Theison ist Literaturprofessor an der Universität Zürich. Eines seiner Spezialgebiete ist das Plagiat als literarhistorisches Phänomen.

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