Freie Geister gibt es in verschiedenen Ausprägungen: Es gibt die ausserordentlich Toleranten, die überaus Feinfühligen, die sehr Offenen und die komplett Freigeistigen.
Bei vielen beginnt es nicht vor den vierzig, aber da beginnen sie plötzlich die Flaschen zu hören, die im Flaschenrecyclingcontainer am Ende der Strasse zerbersten. So ein Saulärm! Sie schauen auf die Uhr und sehen: Ha! Es ist Sonntag! Nachdem sie der Stadt eine E-mail geschrieben haben, in der sie sich darüber beschweren, dass die Pflicht zur Sonntagsruhe beim Flaschenrecyclen nicht eingehalten werde, sprechen sie mit ihrem Freund oder ihrer Arbeitskollegin oder ihrem Hund darüber, dass diese Tat nicht übertrieben bürgerlich war, sondern dass sie nun mal schlafen müssen, gerade am Sonntag. Und mit diesem Lärm an ihrem freien Tag werden ihre persönlichen Grenzen überschritten, die Grenzen eines freiheitsliebenden, frei denkenden Menschen, nämlich.

Die tolerante und offene Person steht unter der Woche gerne früh auf, um joggen zu gehen. Die frische Luft und das Bei-sich-sein verschafft ihr die nötige Erdung, um einen Tag in der kapitalistischen Gesellschaft zu überstehen. Doch als die tolerante Person eines morgens vom Joggen nachhause kommt, macht sie einen verstörten Eindruck. Ihr Lebensabschnittspartner, der bereits am Yoga machen ist, fragt nach. Die freidenkende Person hat unterwegs betrunkene Jugendliche angetroffen. Die Jugendlichen haben auf der Strasse randaliert und sie hatten dunkle Hautfarben. Bei den nächsten Wahlen hält die tolerante Person bei der Liste der SVP lange inne.

Als nonkonformistischer, freiheitsliebender Mensch fühlt man sich selbstverständlich der Natur verbunden, deren Schutz an oberster Stelle steht. Es gibt nichts Schlimmeres als beispielsweise diesen Asia-Take-Away, Kaimug, der zur Migros gehört. Die geben das Essen in Plastikgeschirr heraus, dass es nur so tätscht! Der freiheitsliebende Mensch fasst sich sofort ein Herz und stellt sich vorne an die Schlange und beginnt, dem lautstark Einhalt zu gebieten. Der freie Geist erzählt diesen Asiaten mal ganz genau, dass sie – ja Sie! – für den Tod unserer Mutter Erde verantwortlich sind.
Das ist genauso wie die Autofahrer, die nie auf die Liegevelos Rücksicht nehmen, ständig trachten sie einem nach dem Leben! Zum Glück kann man bei den Autos nachts die Pneus zerstechen und dann mit dem Liegevelo bequem leise und geschmeidig wieder wegfahren.
Aber wenn man dann wieder im Bett liegt, kann man wieder nicht schlafen, und das trotz der Schlaftabletten! So schlimm ist es nämlich schon, dass man sich in der Drogerie Schlafdragées von Zeller geholt hat, und zwar die mit Hopfen! Das sind die starken! Weil die mit Kamille nicht genützt haben!
Und wenn man nachts schon wieder Baldriantee trinkend am Fenster steht, dann sieht man den Nachbarn, wie der illegal einen Toaster entsorgen will! Ha! Zu früh gefreut, da weckt jetzt sie ganze Siedlung auf, so staucht sie den zusammen. Geschieht ihm Recht. Genau solche Arschlöcher sind es nämlich, die ständig die Grenzen anderer übertreten.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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