«Urbit & Orbit» ist Denise Wintschs drittes Solostück. Es behandelt die Sinnsuche im Glauben, indem Wintsch auch auf Erlebnisse aus ihrer eigenen katholischen Kindheit zurückblickt. Ein Besuch im Proberaum, wo wir über Glauben, absurde Gottesdienste und die Arbeit am neuen Stück sprechen.

Als Kind gingst du regelmässig in die Kirche, wie war das für dich?

Ich habe es nicht gecheckt. Was man dort tut, was man holen sollte und bekommen müsste… Ich hätte das gern verstanden. Ich habe gespürt, dass es unheimlich wichtig ist, gross und ernst. Die Kirche hätte mich haben können, wenn ich das Ganze besser verstanden hätte. So aber habe ich mir meine eigene Glaubenswelt gebaut.

Warum hast du niemanden gefragt?

Ich habe mich nicht getraut. Als Kind hatte ich ein reiches Innenleben, eine eigene Welt. Viele Sachen habe ich mir auf meine eigene Art erklärt. Das genügte mir.

Wie hast du die Messebesuche erlebt?

Die Kirche und den Gottesdienst erfuhr ich als erste absurde Welt: Erwachsene Menschen, die jeden Sonntag aufs Neue bewusst das exakt Gleiche tun. Mit einer absoluten Ernsthaftigkeit und Wichtigkeit, das hat mich beeindruckt. Ich habe vor allem zugehört, geschaut und gerochen. Diesen Weihrauch und die Orgel – dieses Metallungetüm, das dröhnte, und wie von Geisterhand kam die Musik, und damit Gefühle. Oder die Speeches ins Mikrofon, von denen ich kein Wort verstand. Dann die Kommandos, zu denen wir aufstanden und uns wieder setzten. Zwischendurch diese Entspannung, eine eigenartig angespannte Entspannung, welche die Alten einschlafen und ihnen Spucke aus den Mundwinkeln laufen liess.

Hattest du Angst?

Total. Vor allem vor den Sprechgesängen, diesen Monotonraps. Der Pfarrer deklamiert und die Gemeinde kommentiert: «Wir bitten dich, erhöre uns» – alles in derselben Stimmlage. Davor fürchtete ich mich. Wenn ich im selben gefährlichen Ton mitsprach, war es weniger schlimm. In dieser Zeit wurde mir vielleicht zum ersten Mal klar, dass ich gerne Theater spiele. Die Kirche und den Gottesdienst empfinde ich als Show. Es ist eine Performance – der Pfarrer ist der Hauptdarsteller und die Ministranten sind die Statisten. Da hätte ich gerne mitgemacht.

Wurdest du von der Performance einmal enttäuscht?

Nach der Erstkommunion durften wir das Brot holen gehen. Endlich durften wir uns bewegen – das war ein Gefühl! Du denkst: Scheisse, jetzt passiert es, endlich habe ich den Heiligen Geist in mir. Dann probierst du und bist ernüchtert: Der Seich klebt dir am Gaumen, es ist irgendwie nichts.

Verstehst du die Kirche als Erwachsene jetzt besser?

Überhaupt nicht. Als Jugendliche wurde mir klar, wie viel Dreck die Kirche am Stecken hat. Da sagte ich mich von ihr los, verweigerte mich dem Katholizismus. Und trotzdem ist er auf eine Art immer noch da. In fremden Städten besuche ich gerne katholische Kirchen und zünde feierlich eine Kerze an für meine verstorbene Mutter. Wenn die Chöre üben, die Orgel spielt – dann hat mich die Kirche, subito. Da lege ich mich auf den Rücken und ergebe mich.

In «Urbit & Orbit» geht es um Sinnsuche und den christlichen Glauben. Bist du auf der Suche nach dem Sinn des Lebens?

Mich bewegen bestimmte Dinge in meinem Leben so sehr, dass ich das Gefühl habe, ich müsse Kunst daraus machen. Nach meinen letzten Stück gab ich ein Produktionsessen für alle Beteiligten. Wir merkten, dass wir alle katholisch sind oder waren. Wir erzählten uns Anekdoten und lachten uns krumm. Ich begann mich aber auch zu fragen: Was wurde eigentlich aus meinem Glauben? Wie hat er sich entwickelt? Ich denke, dass der Glaube an etwas Übergeordnetes im Menschen als Urbedürfnis manifestiert ist. Dem wollte ich auf den Grund gehen. Und ja, ich forsche mit meiner Kunst nach einem Daseins-Sinn. Für mich hat er wahnsinnig viel mit dem Alltäglichen, mit dem Banalen zu tun. Mich interessieren Details: Beobachtungen aus meiner Kindheit, kleine Sachen, die für mich damals gigantisch waren. Die baue ich ins Stück ein, die geben ihm seine Form.

Gibt es in deinem Leben etwas, das für dich den Stellenwert einer Religion hat?

Seit einigen Jahren tanke ich in der Natur viel Kraft. Ich gehe nicht aus Langeweile wandern; es erdet mich nach strengen Tagen und bringt mich wieder zu mir.

Wandern ist ziemlich angesagt bei Endzwanzigern.

Stimmt, es ist total in, Laufen zu gehen oder den Sommer auf der Alp zu verbringen. Vielleicht ist das auch eine Art Religion. Vielleicht ist es auch meine neue religiöse Heimat. Ich finde das gut.

Worum beneidest du gläubige Menschen?

Es beeindruckt mich, dass es Leute gibt, die sich etwas total hingeben können. Ich glaube, ich kann das aber auch in der Kunst und im Theater. Dort finde ich Verwandtschaften. Als ich die ICF-Messe in der Maag Halle besuchte, bekam ich fast Angst. Die Hingabe dort zielte auf ein Sich-Hergeben.

Der ICF findet zurzeit grossen Zulauf. Woran denkst du liegt das?

Vermutlich hat das mit der Schnelllebigkeit dieser Zeit zu tun. Man verzettelt sich, will an zehn Orten gleichzeitig sein. Da entsteht ein Bedürfnis nach Halt und einer Richtung im Leben. Es erstaunt mich nicht, dass die Freikirche solchen Zulauf hat. Andere suchen sich im Sport oder eben der Natur.

Gibt es etwas, das dir während deiner Auseinandersetzung mit dem Thema Glauben und Religion immer wieder aufgefallen ist?

Das Frausein und die Weiblichkeit – das Thema ist sexuell aufgeladen. Mich interessiert weniger das Warum, vielmehr habe ich in diesem Zusammenhang angefangen, mir Gedanken zu machen, über mich als Frau jetzt und als Mädchen damals in der Kirche. Was war da meine Rolle, meine Position? Wie ist meine Daseinsberechtigung als Frau in der Kunst und in dieser Welt? Bei diesen Fragen kommt in mir immer so eine kämpferische Kraft hoch. Ich merke, dass da immer noch ein Ungleichgewicht herrscht. Das möchte ich als Künstlerin thematisieren. Und tue das schon nur, in dem ich als Frau alleine auf der Bühne stehe.

Wie spürst du dieses Ungleichgewicht?

Oft habe ich das Gefühl, dass ich in meiner Arbeit nicht gleich ernstgenommen werde wie ein Mann. Und dass ich für den gleichen Effekt mehr leisten muss.

Wie nimmst du die Generation nach dir wahr?

Eure Generation ist freier. Sie entschuldigt sich weniger dafür, ihren Job auf eine weibliche Art zu machen.

Wie kommst du mit «Urbit & Orbit» voran?

Im Probenplan steht nur «proben, proben, proben». Gerade habe ich das Feld noch einmal ganz geöffnet, da meine Leute dazugestossen sind, die mit mir arbeiten, zum Teil schon seit Jahren. Ich möchte das Stück um ihre Kreativität bereichern. Es kommen Ideen hinzu, wir entwerfen Bögen, die wir wieder verwerfen und neu erfinden. Langsam fügt sich das Stück mehr und mehr zusammen. Dieses freie Arbeiten bereitet mir grosse Freude und ist ein Privileg.

Gibt es Momente, wo du alles hinschmeissen willst?

Einmal wollte ich die Koffer packen und eine E-Mail schicken: «Sorry, das wird nichts!» Das war wirklich schlimm. Jetzt, einen Monat vor der Premiere freue mich riesig darauf. Und weiss selbst noch nicht, was es am Ende gibt. Dieses Gefühl hält an bis zur Erstaufführung. Dieser Moment, wenn es zur Welt kommt – das passiert tatsächlich erst mit dem Publikum.

Was würden deine Eltern zu «Urbit & Orbit» sagen, wenn sie es sähen?

Meine Mutter ist leider vor 13 Jahren gestorben. Ich denke aber, sie schaut mir doch noch ab und zu. Gerade wenn ich Theater mache, habe ich immer das Gefühl, sie ist fest dabei und stolz. Mein Vater ist protestantisch und die Religion spielt in seinem Leben keine wichtige Rolle. Vermutlich findet er es witzig, dass ich ein Stück über die Kirche mache. Lustig ist, dass er jetzt, wo er pensionier ist, für die katholische Kirche arbeitet. Er kocht beim Mittagstisch oder hisst die Fahne im San Franziskus in Wollishofen – der Sigrist da hat nämlich Höhenangst.

«Urbit & Orbit» von und mit Denise Wintsch läuft noch bis zum 24. November im Fabriktheater.

Sandra Schudel ist Assistentin der Künstlerischen Leitung Fabriktheater.

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