Ich bin der klügste Mensch im Facebook.
Wenn Besuch kommt, stellt mich meine Mutter so vor: «Das ist Aboud, mein Jüngster. Er ist der klügste Mensch im Facebook.»

Kommt schon, blamieren wir uns / Lasst uns darüber schreiben, was wir verstecken, über das, wovor wir Angst haben.
Los, schreibt, was ihr unter diesen schönen sauberen Kleidern verbergt.
Schreibt über die Socken in euren glänzenden Schuhen.
Schreibt, was in euren empfangenen und gesendeten Nachrichten steht.
Meine Dame, erzähl mir vom letzten großen Streit, den du mit deinem Ehemann hattest.
Mein Bruder, erzähl mir, wie dein kleiner Sohn zu Hause gelernt hat, den Diktator zu verfluchen.
Schreibt mir, wie und wann ihr das letzte Mal gegen eine Wand gepisst habt.
Schreibt alles…
Dann werde ich euch erzählen, wie ich versuche, meiner Mutter das Rauchen beizubringen.
Und wie ich mit meinem salafistischen Nachbar, der mich zu sich nach Hause zum Abendessen eingeladen hatte, gebetet habe – ohne mich vorher zu waschen.
Ich bewegte lautlos meine Lippen und tat so, als läse ich die Fatiha-Sure.
Ich sagte nur: «Amen». Laut und selbstbewusst.
Mögen wir uns in diesem Raum hier so fühlen, als stünden wir am Tag des Jüngsten Gerichts vor Gott, ohne Verleugnung, ohne Buße, ohne Aufschub und Reue.

Um fünf Uhr Nachmittag war meine Schicht in der Werkstatt zu Ende / Ich streifte meinen Arbeitskittel ab und rannte los / Alle drehten sich nach mir um, als ich rannte / Ein paar fingen an, hinter mir herzurennen, weil sie dachten, ich renne ins Paradies / Kinder rannten mir hinterher, weil sie glaubten, ein Flugzeug sei irgendwo in der Stadt aufgrund eines technischen Fehlers notgelandet / Hunderte von Hunden rannten mir hinterher / Sicherheitsbeamte rannten mir hinterher, weil sie dachten, ich sei aus dem Gefängnis ausgebrochen / Feuerwehrautos dachten, es gäbe einen Brand / Rettungswagen / Die Intellektuellen, die im Café gesessen hatten / Der Konditor / Die Verräter und Mörder – tausend Mörder waren es, und alle waren sie hinter mir her.
Als ich zu Hause ankam / drehte ich mich zu ihnen um, und sagte: «Alles, was los ist, ist, dass meine Freundin gerade online ist.»

Ich stelle mich mir als großen Facebook-Diktator vor
und wie ich eines Tages fallen werde, wie jeder Tyrann fallen muss.
Das Szenario nach dem Fall stelle ich mir folgendermaßen vor:
– Enorme Menschenmassen, die aus meinen Facebook-Freunden bestehen, stürmen mein Profil und plündern es
Dieser trägt einen meiner Texte auf seinen Schultern und läuft mit ihm davon
Jener nimmt meine Freundinnen als Geiseln
während andere wiederum alles, was ich geschrieben habe, zusammenraffen und auf den Straßen aufhäufen
wie man Heuhaufen macht, um es dann mit dem billigsten Feuerzeug anzuzünden
– Meinen Namen und mein Profilbild wird man die Straße entlangschleifen
wie man die Statue Saddam Husseins im Irak geschleift hat
– Einer meiner Freunde, wahrscheinlich ein Dichter, wird vor Freude jubelnd durch die Straßen stolzieren
eines meiner Fotos in seiner Hand und in der anderen einen Schuh, mit dem er auf das Foto eindrischt.
Während meine Freundin, völlig ahnungslos und ohne einen blassen Schimmer, eine Pressekonferenz abhält, in der sie sagt: «Wir haben sie belagert und fertig gemacht, diese ungläubigen Marionetten des Kolonialismus!»

***

Ich bin in Berlin ein Schriftsteller, in Syrien war ich ein Schmied. Das ist ziemlich absurd, meine Mutter versteht es bis heute nicht. Auch nicht meine syrischen Freunde, die mich dort immer nur als Schmied kannten und inzwischen auch hier sind. Einmal wurde ich eingeladen, in einem Buchladen in der Ohlauer Straße zu lesen. Auf dem Weg zur Lesung übte ich in der U-Bahn. Meine Freundin begleitete mich und half mir, indem sie die Blätter ordnete, die Zeit im Auge behielt und mir zuhörte. Irgendwann sagte sie: «Wir sind spät dran. Bestimmt warten schon alle auf dich. Wir müssen uns beeilen.»

Wir liefen herum auf der Suche nach dem Buchladen, in dem ich lesen sollte, und rauchten im Gehen einen Joint gegen das Lampenfieber. Plötzlich hörten wir die Stimme von Sandra, der Übersetzerin: «Aboud! Wir sind hier!» Sie stand vor dem Buchladen, in Begleitung eines Freundes, den sie zufällig unterwegs aufgegabelt hatte.

«Entschuldigt bitte unsere Verspätung.»

«Ach was, Aboud, es ja ist niemand hier. Außer der Buchhändlerin und diesem Freund von mir, den ich gerade spontan eingeladen habe.»
«Nein! Wo sind denn die Menschenmassen? Die kommen bestimmt noch!»

Eine halbe Stunde verging, während wir vor dem Eingang auf dem Gehweg warteten. Ein weiterer Joint gegen die Enttäuschung.
Da kam die Buchhändlerin, tätschelte mir die Schulter und sagte: «Keine Sorge, Aboud. Wir sind ja hier. Wir werden dir leidenschaftlich zuhören. »

Ich bin ein Schriftsteller, und ein Schriftsteller sitzt nicht vor weniger als vierzig Zuhörern, hörst du?! Ein Schriftsteller, ehrenwerte Dame, ein Schriftsteller! Warte nur ab, du!

Ich begann, Passanten anzuquatschen. «Hallo, ich habe hier eine Lesung! Komm, höre dir meine Texte an! Jeder kann kommen, Eintritt ist frei! Komm nur, komm!» «Geehrtes Fräulein, ich habe hier Gedichte über Liebe und Verrat, gratis, grandiose Gedichte, spannende Gedichte!» «Bitte sehr meine Dame. Sie haben sich aber gut gehalten! Ich bin ein Dichter, bitte sehr. Ihren Hund können sie natürlich auch mitbringen. Wie heißt er denn? Ich werde ihn verewigen, ihn in meine Gedichte aufnehmen. Treten Sie ein!» «Huhu, liebe Kinder, kommt her! Ich bin zwar ein Dichter, aber immer noch ein richtiger Kindskopf.» «Herr Straßenfeger, kommen Sie nur. Ich bin derjenige, der die Mülltüten vor der Wohnung meiner Freundin gestohlen hat, um ihre Sachen zu durchforsten.» «Kommt nur, ihr Verrückten, ihr Obdachlosen, kommt, ihr Geringverdienenden.» «Ich bin ein mieser Schriftsteller, aber manchmal sagen selbst miese Schriftsteller die Wahrheit.»

All meine Versuche scheiterten. Da fielen mir zwei Freunde ein, die auch aus meiner Stadt in Syrien stammen und jetzt in Berlin wohnen. Ich rief sie an und befahl ihnen, sofort zu kommen.

Ich, Sandra und ihr Freund betraten den Buchladen. Die Buchhändlerin rückte die Stühle zurecht und begann, den Anwesenden Wein einzuschenken. Schließlich kamen meine zwei Freunde. Sie taten so, als seien sie ganz spontan gekommen, als aufrichtig interessierte Leser. Sie setzten sich in die letzte Reihe, die zugleich auch die erste war.

Die Buchhändlerin fragte sie: «Was wollt ihr trinken?» «Was gibt’s denn?» «Red Wine, Beer, Coffee, Tea und Kuchen.»
«Dann wollen wir Red Wine und Kuchen.»

Wie ein Fernsehprediger ergriff ich das Mikrofon und sagte: «Na, na, na, Moment mal!», als Auftakt zur Lesung und gleichzeitig als Signal an meine Freunde, mit dem Essen aufzuhören. Keiner hörte mir zu. Angesichts eines Stücks Käsekuchen verblasst alle Poesie. Mein ganzes Leben lang schon spreche ich mit meinen Freunden, meinen Geschwistern, meiner Mutter, meinem Lehrer, den Sicherheitskräften, ohne dass mir je einer von ihnen dabei ins Gesicht sieht. Jeder, der mich hört, dreht mir den Rücken zu. Nichts hat sich verändert. Ein Loser bleibt immer ein Loser, selbst wenn er nach China auswandert. Vierzig Minuten Lesung, kein Applaus, keine auf mich gerichteten Augen, meine Texte schmetterten hohl gegen das Glas der großen Auslagenfenster, die sie zurückwarfen und gegen meinen Kopf knallen ließen, wie Klaviernoten in einem menschenleeren Saal. Und meine zwei Freunde saßen mit vor der Brust verschränkten Armen da, und vor Schläfrigkeit fielen ihnen fast die Augen zu.

Nicht all meine Lesungen in Berlin sind so originell verlaufen. In den meisten Fällen hatte ich bisher das Glück, viele interessierte Zuhörer vor mir sitzen zu haben.

Aboud Saeed wurde 1983 geboren und lebt derzeit mit politi- schem Asyl in Berlin. Bis November 2013 lebte er in Manbidsch, einer Kleinstadt im Norden Syriens in der Nähe von Aleppo. Er arbeitete als Schmied und eröffnete zu Beginn der syrischen Revolution im Frühjahr 2011 ein Facebook-Konto. Eine Auswahl seiner Statusmeldungen in der Übersetzung von Sandra Hetzl erschien 2013 unter dem Titel ‹Der klügste Mensch im Facebook› im E-Book-Verlag mikrotext als seine erste eigenständige Veröffentlichung. Sie wurde seitdem ins Englische und Spanische übersetzt, für zwei Hörspielfassungen bearbeitet und 2015 als Theaterstück am Ballhaus Naunynstr. in Berlin inszeniert. Sein zweites Buch, die Kurzgeschichtensammlung ‹Lebensgroßer Newsticker› erschien 2015 bei mikrotext und als Buch bei Spector Books. Aboud Saeed ist seit November 2015 Vice-Kolumnist und seit Februar 2016 auch bei der taz.

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