Es ist wohl vor allem der Bequemlichkeit geschuldet, dass Literatur und Journalismus gerne ländliche Konflikte beschreiben. Solche treten da oft viel offener zutage, als diejenigen im Grossstadtdschungel. Auch lässt sich im Dorf einfacher die fesselnde Erzähl-Dramaturgie «Gut-versus-Böse» zwischen zwei oder mehreren Menschen aufspannen. Darauf habe ich jedoch keine Lust. Solcherart Polarisierungen fungieren aktuell viel zu arg als Schmieröl des Storytellings. Der Titel dieser Geschichte hätte auch «Der alte Mann und der See» lauten können. Oder «Die Idylle trügt». Oder «Der Besuch der alten Wollschwein-Dame». Oder «Das Verschwinden der Tiere». Oder «Das grösste Geheimnis steckt in den Einmachgläsern». Oder:

«In Quinten beginnt das Leben mit dem Tod»

Am 27. Juli 2018 schrieb ich auf Facebook folgenden Eintrag: «heute morgen durfte ich in der früh wisi beim fischen auf dem walensee begleiten.wie so oft in diesem jahr, hat er nichts gefangen. im vorjahr hatte er bis ende juli 38 hechte gefangen. dieses jahr seien es erst acht. das wasser sei zu sauber, zu klar, zu warm und der wasserstand zu tief.
wir tranken warmen sekt, assen ragusa und redeten viel über den gesellschaftlichen wandel im allgemeinen und in quinten im besonderen. wie viele eher abgeschiedene, kleine gemeinden kämpft auch quinten mit mangelndem nachwuchs.
ich teile seinen kulturpessimismus nicht und wohl auch nicht seine politische grundhaltung. uns eint jedoch nicht nur diese rund 3 std. auf dem schiff pro jahr, sondern auch das interesse an der landschaft, an der natur und am gesellschaftlichen wandel.
ob früher auf dem bauernhof oder heute in quinten: diese ferien sind für uns oft auch ein mehr oder weniger bewusstes ausbrechen aus der hippen und urbanen züri-bubble. was «die zeit» in deutschland mit erfolg vermittelt – menschen aus unterschiedlichen (politischen) milieus an einen tisch zu bringen – ist jeweils teil unserer ferien…
… und oft kehren wir anschliessend ua. auch mit der bestätigung in die stadt zurück, dass für uns die stadt und nicht das dorf der ideale lebensraum ist»

Wisi und seine Frau vermieten uns das Ferienhäuschen in Quinten, das wir seit vielen Jahren ein bis zwei Wochen pro Jahr bewohnen dürfen. Dabei geniessen wir nicht nur den direkten Seeanschluss mit kleinem Privat-Strand, sondern auch den direkten Draht zu den Geschichten aus der Gegend und dem Dorf. Wisi war lange Zeit der Ortspräsident und legte in guter alter Patron-Manier das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit in die Waagschale dieser Aufgabe. Davon profitierte Quinten, denn er setzte seine volle Schaffenskraft und oft auch seinen privaten Maschinenpark in den Dienst der Gemeinde. Gleichzeitig wurde neben ihm jedoch der Raum für an-dere Persönlichkeiten relativ eng und, wie so oft in solchen Konstellationen, entstand eine Art Vakuum.

Aber auch hier wäre es viel zu kurz gegriffen, wenn es seinem Verschulden angelastet würde, dass Quinten aktuell ums Überleben als funktionierende Klein-Dorf-Gemeinschaft kämpfen muss. Denn mit dem Problem des Aussterbens kämpft Quinten nicht alleine auf weiter Flur. Ganz im Gegenteil. Kleine, abgelegene Gemeinden müssen kreativ werden, damit sie überleben können. Die Gemeinde Albinen im Wallis greift tief z.B. in die Kasse, um neue Bewohner*innen anzuziehen.
Und die Tessiner Gemeinde Corippo macht aus den leer stehenden Häusern quasi eine ganze Hotel-Anlage. Letzteres wäre auch in Quinten möglich; denn es wäre ein einfaches, an dieser attraktiven Lage die Häuser für Ferienzwecke zu vermieten. Dadurch würde jedoch der lebendige und kulturell lokal verankerte Dorfcharakter verschwinden.

Der Kutter

Als Wisi und ich frühmorgens mit dem Boot von Quinten Richtung Walenstadt losfahren, entdecke ich etwas abseits eines Hauses in Quinten Au ein Baugespann direkt am See. Erstaunt frage ich Wisi, was hier gebaut werden soll. «Wegen den ganzen Bewilligungsverfahren ist noch lange nicht entschieden, ob hier überhaupt etwas gebaut wird», antwortet er und fährt schmunzelnd fort, dass hier der Initiant der Stiftung «Quinten lebt» einen Friedhof bauen möchte. Gemäss Facebook-Page lautet der Stiftungszweck: «Förderung wirtschaftlicher Tätigkeiten, Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, Bereitstellung von Wohnraum und Ausbau der Infrastruktur, mit dem Ziel des nachhaltigen Erhalts der Ortsgemeinde Quinten.» Spontan wirkt es – vorsichtig formuliert – widersprüchlich, wenn der Initiant einer Stiftung, die ein Dorf quasi vor dem Aussterben bewahren möchte, einen Friedhof bauen will. Aber man* muss nicht viel weiter denken, um zu verstehen, dass Menschen auch dort Heimgehen können wollen, wo sie gedenken, Wurzeln zu schlagen – und Quinten hat bis heute keinen Friedhof.

Die Geschichte hinter dem Baugespann markierte den Anfang vom nachfolgenden Gespräch auf dem kleinen Fischerkutter von Wisi und drehte sich um viele teils grosse Fragen ohne abschliessende Antworten: Was braucht es, um ein sozial und kulturell lokal verankertes Dorfleben erhalten zu können? Wie entsteht aus einem nachbarschaftlichen Nebeneinander ein dörfliches Miteinander? Ist das überhaupt nötig oder gar möglich? Wie wichtig ist lokal verankerte Identität und wie lässt sich eine solche gleichzeitig prägen und verändern? Wie viel Raum und Chancen erhalten neu zugezogene Menschen und ihre Ideen, ohne Bestehendes gleich über Bord zu werfen?

Zugegeben, unser Gespräch kratzte bei diesen Fragen oft nur an der Oberfläche und mir war es wichtiger, zuzuhören, statt mitzureden. Wir Städter haben ja oft genug das Gefühl, alles besser zu wissen. Manchmal fehlt uns das Gespür dafür, dass hinter der Angst gegenüber dem Neuen ganz viel Liebe für Bestehendes steckt. Wisi sorgt sich beispielsweise über das Verschwinden der Tiere – wie ich es nennen würde. Als passionierter Jäger realisierte er schnell, dass das erlegte Wild immer leichter wurde. Mit dem Aufkommen des Tourismus in Quinten – inzwischen gibt es sogar einen Bike-Trail von Walenstadtberg unter den Gipfeln der Churfirsten entlang bis fast nach Quinten runter und von da nach Betlis – kommt das Wild immer seltener zum Ausruhen, Weiden und Speck anlegen. Zu oft muss es jeweils wieder die Flucht ergreifen.

Der Kahn

In der Manier grosser Schweizer Literatur liesse sich Hampi hervorragend als Gegenspieler von Wisi inszenieren. Aber nochmals: Wo führt diese Polarisierung hin? Im Grunde ist sie Populismus im Kleide der Literatur. Sie dient in erster Linie der Aufmerksamkeit in Form von Emotionen. Da stört oft nur, dass es dann halt doch nicht so einfach ist. Hampi hat Poetry-Slammer und Wollschweine nach Quinten gebracht. Erstere füllt er mit seinem eigenen Wein ab. Zweiteren verfüttert er tonnenweise hochwertige Kartoffeln, die für den Verkauf im Laden zu gross oder zu unförmig sind. Diese Kartoffeln transportiert er mit einem Stahl-Kahn, der wie ein kleines Ledischiff aussieht, von Murg nach Quinten. Das lohnt sich, denn er verkauft das verarbeitete Wollschwein-Fleisch im Globus in der Delikatessen-Abteilung.Das Problem: Die Schweine wühlen den Boden um – und aufgewühlte, nackte Erde ist nicht nur ästhetisch was anderes als grüne Weide. Gerade in Hanglagen spült es den wertvollen Humus einfach weg, wenn ihn keine Graswurzeln an Ort und Stelle festhalten. Das Landschaftsbild von Quinten wurde über mehrere Generationen durch Wald, Rebhänge und Wiesen geprägt. Passen da nun braune – und in gewissem Sinne «ungepflegte» – Landwirtschaftsparzellen rein?

Der Weidling

Wir blicken jeweils fasziniert auf den See hinaus, wenn Frau Bärlocher mit ihrem motorisierten Weidling vorbei fährt. Im langen, schlanken Holzboot und mit der braun gegerbten Haut sieht sie wie eine Art «Ureinwohnerin» von Quinten aus. Es ist wohl bezeichnend, dass Frau Bärlocher hier nicht mit Vornamen auftaucht und auch sonst wenig textlichen Raum kriegt. Wie viele Frauen ist auch sie eher eine stille Chrampferin – und hängt es nicht an die grosse Glocke, dass sie irgendwann als Fremde nach Quinten kam und inzwischen eine ureigene Institution ist – für die es sich lohnt, das einzige Dorf in der Schweiz zu besuchen, das nur zu Fuss oder mit dem Schiff erreichbar ist. Frau Bärlocher verarbeitet fast alle Früchte, Kräuter und Gemüse, die Quinten so hergibt, und verkauft sie in Flaschen und Einmachgläsern in den unterschiedlichsten Grössen in ihrem kleinen, liebevoll eingerichteten Kellerladen. Dadurch hat sie die geschmackliche Heimat von Quinten massiv ausgebaut, die bis dahin einzig aus Fischen aus dem See, Wild aus dem Wald und Wein vom Hang bestand.

Und so bin nun auch ich der attraktiven Erzählweise erlegen, drei sogenannte «Charakterköpfe» aus diesem kleinen Dorf herauszupicken. In Quinten gibt es natürlich noch mehr Boote und auch viele Menschen, die es mit dem Kurs-Schiff erreichen.
Und alle diese Menschen hätten eine längere oder flüchtigere Geschichte zu diesem kleinen Weiler zu erzählen, der am Fusse der imposanten Churfirsten und am Ufer des Walensees klebt. Da gäbe es zum Beispiel die Seidenraupen-Züchter, den zeitgenössischen Konzept-Künstler, den Influencer, dessen Instagram-Account «Quintner» lautet – und natürlich gäbe es die vielen Touristen, die kurz den Hauch mediterranes Feeling diesseits der Alpen einatmen möchten.

Philipp Meier (46) war Landschaftsgärtnermeister, Clubkurator und Ko-Direktor des Cabaret Voltaire. Heute organisiert der Vater von zwei Kindern mit dem Verein Motherland Partys und Konzerte, ist im Vorstand des Elternforums der Schule Sihlfeld, amtet als Vize-Präsident der Party Partei, ist Dozent und Mentor an der ZHdK und gemäss Klout/Kuble unangefochtener Social Milieu König.

Ein Kommentar auf “Der Kutter, der Kahn und der Weidling

  1. @buentner sagt:

    genial !

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