Unsere Tochter ist heute zum letzten Mal in der Kita. Wir brauchen den Tag zum Umdisponieren. Zu zweit sein wird schwierig. Home-Office wird schwierig. Sich unterhalten noch schwieriger.

Insgeheim wünschen wir uns beide in den Abend hinein: Die Tochter in ihrem Bett, ich in meiner Ecke, er in seiner und nach dem Gute-Nacht-Muntsch das Bekenntnis von wegen, wir brauchen unbedingt wieder einmal einen Abend für uns, nur wir beide.

Ich erzähle von der letzten Arte Doku, die ich am Vorabend geschaut habe. Und wie ich – im Bewusstsein, dass ich es unmöglich aushalten würde – auch gerne so leben möchte: Schafe, Käse, Wolle und Gärtnern, das ganze Programm. Und nebenbei Schreiben.

Ich möchte reden, er leider auch. Das nennt man ein Gespräch führen. Ich werde stiller. Er lauter. Bereits mit dem ersten Satz aus seinem Mund verliere ich das Interesse am «Gespräch». Bin ich mit der Zeit im Austausch unfähig geworden, oder war ich es schon immer? Lockdown.

– Isch er no nie mit sim Fixi a dir verbi blochet?

– Fixi? Blochet? Wer?

– Urbaner geit gar nid. Hornbrille, Hibsterfrässe. Energieglade wines jungs Ree, und doch chli dräckig, verläbt. Mit däm Typ chasch über Literatur genauso guet rede wie über Träsch-metal, über Archidektur genauso guet wi über Bouwäge…

– Aha. Der Örbaniste!

– Veloahänger, Kasetterekorder, Spotifay. Uf Dütsch, Französisch, Änglisch, Italiänisch. Forem Libanes zumne Lamscharf, im Filmpodium, tief im Waud arä Sauvage, ar Barberie, im Düco mitem Dada, im Hazard mitem Stude, am Pingpöngle mit der Dürig, gäge Camenisch und Big Zis…

Überhaupt, wie macht man sich auf die Suche nach dem totalen ÖRBANIST, wo doch gerade Pandemie ist?

Ja du, sage ich, also ich muss jetzt arbeiten… Dieser Hundeblick! Gleich werde ich ihm erklären müssen, dass es nicht an ihm liegt, dass ich bereits jetzt Unterstunden habe, und dass ich nicht noch mehr ins Minus fallen möchte. Dann bin ich online. Es ist schön, allein zu sein. GUT SICHTBAR eingeloggt, ein bisschen vor sich hinträumen und dann den überfälligen Newsletter beenden…

Take-away! Schreie ich aus dem Halbschlaf. Das sind die neuen Hotspots. Schlange stehen und schnurren. Die neuen nachhaltigen Sneakers endlich ausprobieren, die Secondhand Plateau-Schuhen, die so unsagbar praktisch sind, um zu pedalieren auf dem neuen alten Rennvélo.

Es gibt dieses Phänomen, ein typisches Herdenverhalten: Plötzlich steht die ganze urbane Bieler Bevölkerung Schlange an den Take-Away Bars von drei vorpandemischen Lokalen, die zu cool sind, um Restaurant oder gar «Beize» zu heissen.

So stehen nun auch wir Schlange am Rande der Altstadt. Ich erkenne fast jedes Gesicht, das da wartet. Sebastian bestellt gerade. Tinder! Wir brauchen Tinder, sagt er, als er mit dem Essen zurückkommt. Nur so gelingt man an Menschen momentan. Illegale Partys, Konzerte, Apéros, Ausstellungen und Sofa-Lesungen, egal was du willst, erklärt er. Während er immer weiterredet, merke ich wie unsere Tochter auf der Jagd nach einer Taube beinahe von einem E-Fat-Biker überrollt wird. Wieder einmal habe ich uncool reagiert. Ich weine, und Sebastian entschuldigt sich dafür, dass er immer so viele Wörter braucht, um etwas zu erklären.

Hinter seinem Kopf bewegen sich Äste samt Blättern. Linden. Der Frühling ist schön. Vielleicht sollten wir aufs Land ziehen.

Gaia Grandin und Sebastian Steffen haben beide am Literaturinsitut in Biel studiert. Diese Information definiert ihr Leben.
Sebastian und Gaia vertreten für drei Monate Anaïs Meier in der Kolumne. In diesen wichtigen Beiträgen gehen sie der Frage nach: Was bringt es, eine Stadt zu porträtieren? Und machen sich auf die Suche nach der urbansten Person in Biel.

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