«Papi, wir haben dir etwas mitgebracht». Bei einer Lesung von Literaturnobelpreisträger Günter Grass 2008 wurde ein Plakat mit diesen Worten entrollt. Darunter war ein typisches Portrait von Grass mit seinem dichten Schnurrbart zu sehen, allerdings mit einem Stahlhelm auf dem Kopf. Man denkt: Natürlich, linke Aktivist*innen bestehen auf die Thematisierung von Grass‘ Mitgliedschaft in der Waffen-SS in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs.
Weit gefehlt. Einer der Drahtzieher dieser Intervention war der rechtsradikale Götz Kubitschek. Er hatte damit etwas anderes im Sinn. Die 68er, die damals solche provokativen Aktionen erfanden, wollten dem Staat seine demokratische Maske wegreissen und seinen autoritären Charakter offenlegen. Die Rechtsradikalen um Kubitschek machen aus der Subversiven Aktion der Sechziger und Siebziger die Konservativ-Subversive Aktion. Kubitschek will Grass als moralische Instanz vom Sockel stossen.
Mit «Die Angstmacher» hat der Soziologe Thomas Wagner die bisher umfassendste Studie über die Aneignung politischer Praktiken der 68er durch die Neue Rechte geschrieben. Dabei geht es um mehr als um medienwirksamen Protest. Die radikale Rechte versucht ihren theoretischen Überbau entschieden zu modernisieren und auf rationale Grundlagen zu stellen. Im Anschluss an den Franzosen Alain de Benoist begann der Soziologe und Historiker Henning Eichberg bereits in den 70ern, sich Diskursen von der anderen Seite des politischen Spektrums zu öffnen: Er entwickelte einen rechtsradikalen Diskurs, der sich mit dem Begriff des Ethnopluralismus von der Auf- und Abwertung einzelner Ethnien verabschiedete und nicht mehr das Dritte Reich verklärte. Aber erst heute setzt sich dieser Ansatz mit Aktivisten wie Götz Kubitschek durch.
Wer also denkt, man könnte den radikalen Rechten mit der Denunziation von Naziparolen und rassistischen Vorurteilen entgegentreten, irrt sich gewaltig. Thomas Wagner zeigt, dass wir uns auf einen intellektuell gut gerüsteten Gegner einstellen müssen. Wagner hat als Soziologe zehn Bücher verfasst, als Journalist ist er für die Junge Welt, Die Zeit oder die Süddeutsche Zeitung tätig. Dabei ist sein Buch aussergewöhnlich, weil er nicht nur den Diskurs der Neuen Rechten analysiert, sondern mit den rechtsradikalen Intellektuellen einen persönlichen Kontakt aufbaut. Für seine Offenheit hat er auch Kritik geerntet: Die Junge Welt, bei der er Literaturredakteur war, wollte erst sein Buch vorstellen, lud ihn dann aber wieder aus.

Alexis Waltz
Wie bist du auf die Idee gekommen, «Die Angstmacher» zu schreiben?

Thomas Wagner
Es gibt ein radikal rechtes Milieu, das sich nicht mehr positiv auf den Nazi-faschismus beruft. Das war meine Grundidee und zwar schon seit Jahren. Diese Differenzierung habe ich immer für wichtig gehalten. Diese Unterschiede sind auch wichtig, weil es andere Strategien des Umgangs als bei der NPD braucht, um diesen Gegner zu bekämpfen. NPD-Intellektuelle gibt es ja so gut wie gar nicht. Bei diesem neuen, radikal rechten Milieu reicht es nicht, ihnen «Nazis raus!» zuzurufen. Denn die beziehen sich selbst auf Sophie Scholl und Claus von Stauffenberg. Wohingegen viele Antifas, die zum Teil noch aus ihrer Schulzeit Fans von Sophie Scholl sind, gar nicht wissen, dass Scholl und ihre Mitstreiter Anti-Demokraten waren.

AW
Welche Themen und Begriffe eignet sich die neue Rechte von der Linken und von 68 an, jenseits von der Strategie der Provokation?

TW
In der Beobachtung des rechten Parteienspektrums von den harten Liberalen bis zur Jungen Freiheit, von Hans-Olaf Henkel bis Karlheinz Weissmann, war mir aufgefallen, dass die unglaublich stark das Thema direkte Demokratie besetzen. Und ich hatte das Gefühl, dass das vielen Leuten nicht klar ist. Es ist eine schlechte Strategie, zu sagen, die AfD fordert mehr direkte Demokratie, also ist direkte Demokratie schlecht. So läuft das aber oft in der politischen Diskussion. Heute braucht man mehr Grips, um damit umzugehen.

AW
Wenn du einen Intellektuellen einführst, fragt man sich als Leser natürlich sofort, wo die Person heute politisch steht, ob sie vielleicht zur Neuen Rechten gewechselt ist oder umgekehrt. Du ordnest den Menschen aber nicht gleich einem politischen Lager zu, sondern bringst den Leser dazu, sich mit ihm und seiner Geschichte auseinanderzusetzen.

TW
Ich mache nicht bewusst ein Geheimnis draus. Bei der Begegnung mit Henning Eichberg war mir beispielsweise gar nicht klar, wo der zu diesem Zeitpunkt genau stand. Er ist ja im April 2017 verstorben. Als ich ihn traf, war er todkrank. Das wusste ich aber nicht, er wirkte jung für sein Alter und lebendig.

AW
Der Historiker und Soziologe Henning Eichberg ist eine außergewöhnliche Figur, er ragt durch seine intellektuelle Unabhängigkeit heraus. Sein Begriff des Ethnopluralismus ist ein gedanklicher Grundstein für die Neue Rechte. Als er ihn in den Siebzigern entwickelte, gab es kaum Resonanz. Als das Konzept dann 30 Jahre später erfolgreich wurde, hatte er sich längst aus der Szene zurückgezogen und lebte in Dänemark.

TW
Er hat mir erzählt, dass ihn in den Neunzigern Leute in seinem Seminar als Rechtsextremen aufgedeckt haben. Da wurde es unangenehm. Aber das hat nicht so weite Kreise gezogen, auch, weil ihn in Dänemark niemand kannte. Hierzulande hätte er nicht Karriere machen können, deshalb unterrichtete er an einer Universität in Odense. Er hat auch in der Sozialistischen Volkspartei Dänemarks mitgearbeitet und hatte Verbindungen zur der Linken in Deutschland. Er hat sich als Linker verstanden, am 1. Mai hat er die Rote Fahne vor sich hergetragen.

AW
Wie ist es für dich als Linker, solchen Personen zu begegnen?

TW
Ich wollte Ge-sprä­che führen und keine Interviews machen. Nicht wie die oft auch wirklich guten Interviews, die man im öffentlich-rechtlichen Radio hört, wo die Leute in die Mangel genommen werden. Ich wollte Zusammenhänge darstellen und die Hintergründe erfahren. Ich dachte, es wäre schön, mit Bernd Rabehl [von der 1962 gegründeten linken Gruppe «Subversive Aktion»] und Götz Kubitschek über die Subversive Aktion und die konservative, subversive Aktion zu sprechen, und darüber, ob und was der eine vom anderen gelernt hat.

AW
Dann besuchst Du einen der Vordenker der Neuen Rechten, Götz Kubitschek auf dem Rittergut Schnellroda, in dem er mit Ellen Kositza, seiner Ehefrau, und sieben Kindern lebt. In deinem Buch sprechen sie zunächst über die Vorzüge lokal hergestellter Lebensmittel. Das wirkt harmlos.

TW
Die sind nicht repräsentativ für die neue Rechte, das ist deren persönliches Lebensmodell. Kubitschek und Kositza sind wie die ideale Form einer linken Lebensgemeinschaft: sie schreiben, sie machen Politik, haben ihren Verlag, betreiben auch noch ökologische Selbstversorgung. Und dann sind sie auch noch ein gleichberichtigtes Intellektuellen-Liebespaar.

AW
Kommt in dir kein Widerstand auf, dafür eine Sympathie zu empfinden?

TW
Nö. Aber ich kann schon die persönliche Sympathie, die man zu Leuten haben kann, von scharfen Differenzen in der politischen Sache trennen.

AW
Es gibt etwas Böses in deren Denken. Wo spürst du das?

TW
Die Kategorien gut und böse halte ich da nicht für angebracht. Götz Kubitschek hat ganz bestimmte, romantische Vorstellungen davon, was Deutschland mal war und Deutschland seiner Meinung nach wieder sein sollte. Das ist mir so fremd, dass sich in mir da kaum Widerstand regt. Das ist für mich wie ein ethnologischer Blick auf eine fremde Kultur. Bei persönlichen Freunden kann ich mich bei kleineren Differenzen sehr viel mehr erhitzen. Was es leicht macht, sie in persönlichen Begegnungen nicht als böse oder so etwas zu sehen, ist, dass da keine Hetze spürbar ist. Als ich jung war, in den 70er Jahren, habe ich aus dem Umfeld meiner Eltern, die eher CDU-Wähler waren, viele ausländerfeindliche Sprüche gehört. Das gibt es bei Kubitschek und Kositza nicht.

AW
Vielleicht halten sie sich zurück, weil sie wissen, dass du ein Linker bist.

TW
Ich habe nicht das Gefühl, dass die mit mir anders reden. Im Interview stellt man sich natürlich drauf ein, wenn man ein Gespräch mit jemand von der anderen Seite führt. Man versucht ja, sich verständlich zu machen. Was die untereinander reden, das kann man ja in «Tristesse Droite» nachlesen. Da werden andere Themen angesprochen. Der Sound unterscheidet sich aber nicht wesentlich von unserem Gespräch. Die waren auch an mir interessiert. Wenn man zu denen kommt, sieht man ganz viele Kinderschuhe, das stimmt einen friedlich. Dann müssen noch die Kinder ins Bett gebracht werden. Wir saßen in der berühmten Bibliothek, sie haben einen schweren Rotwein geholt, und wir haben uns eine Stunde unterhalten, zum warm werden, über rechte und linke Zeitungen. Dann habe ich sie zusammen und getrennt interviewt, und am Ende war das auch locker. Am Anfang hatte ich das Gefühl, dass der Kubitschek sich die ganze Zeit räuspert.

AW
Wie bringst du deine kritische Haltung ein?

TW
Die Kritik habe ich versucht einzubauen, indem ich aus Büchern zitiere, die sie vertreiben, mit Schockeffekten. Aber ohne ihnen dabei besserwisserisch über das Maul zu fahren.

AW
Was sind die originellsten Ideen, die in Kubitscheks und Kositzas Denkfabrik entstehen?

TW
Ich sehe die Neue Rechte als Intellektuellenzirkel; für mich gehört die AfD nicht zur Neuen Rechten. Sie ist eine Partei, in der viele Strömungen zusammenkommen. In der Neuen Rechte gibt es weltanschauliche Gegensätze. Es gibt Gemeinsamkeiten, aber auch große Unterschiede. Ein Unterschied liegt in der Frage, was für eine Wirtschaftsordnung Deutschland haben soll. Auch, wie man zu Europa steht. Im Umfeld von Kubitschek gibt es jüngere Leute, die an die Intellektuellen des Bewegungsfaschismus anknüpfen. Die Bewegungsfaschisten waren Anti-Kapitalisten. Es gibt einen jungen Denker in Kubitscheks Verlag, den Benedikt Kaiser. Der studiert fast nur linke Literatur und zwar intensiv, konzise und intelligent. Und er hat Unterstützer. Seine Diagnose ist, dass die Linke zunehmend ihre Kernkompetenzen verliert und ein Feld frei macht: das der Sozialen Frage. Er will, dass die Soziale Frage von der Rechten besetzt wird. Kubitscheks Kreis mischt auch bei der Ein-Prozent-Kampagne mit, die wollen der AfD einen sozialen Touch geben. Die Bestrebungen von Kaiser gehen aber noch weiter, der möchte eine linke Rechte, eine sozialistische Rechte haben. Die würden das wahrscheinlich Sozialpatriotismus nennen. Linke würden Faschismus dazu sagen.

AW
Wie kommt diese Idee in der AfD an?

TW
Die AfD hat bislang noch keinen sozialen Flügel und keine soziale Programmatik. Um eine Volkspartei zu werden, die sich dauerhaft etabliert, braucht sie das aber. Diese Radikalrechten vom Rittergut geben in Gestalt von Benedikt Kaiser Impulse, eine linke Rechte zu starten. Er will mehr, aber es könnte darauf hinaus laufen, diesen sozialen Flügel in der AfD aufzubauen. Das ist auch, was Alexander Gauland möchte.

AW
Die AfD wirkt chaotisch und sehr heterogen. Erkennt sie die Neue Rechte als ihre geistige Elite an?

TW
Die AfD ist keine autoritätsgläubige Partei, das sind Querulanten. Die Stichworte von Benedikt Kaiser finden sich aber in den Reden von Björn Höcke wieder. Da gibt es einen direkten Draht. Die übernehmen zum Teil Konzepte, die vom Rittergut entwickelt werden. Und die Rechten meinen es ernst mit ihrer linken Rechten. Da kann sich die Linke warm anziehen. Björn Höcke ist nicht gefährlich, weil er eine revisionistische Geschichtspolitik möchte und in Reden einen Goebbels-Ton anschlägt, sondern vielmehr dadurch, dass er inhaltlich die Konzepte der Neuen Rechten im Hinblick auf eine linke Rechte stark macht.

AW
Wie zieht Benedikt Kaiser das Konzept der linken Rechten theoretisch auf?

TW
Wenn er Zahlen braucht, schlägt der die bei Christoph Butterwegge nach, dem bekanntesten Armuts- und Reichtumsforscher der Bundesrepublik. Der hat da null Berührungsängste. Der kritisiert die rechte Kapitalismuskritik, die weist er als antisemitisch zurück. Der liest dann lieber Marx. Er kritisiert auch, wie die Flüchtlingskrise in der rechten Szene thematisiert wird. Viele Rechte wollen die Flüchtlinge einfach zurückschicken. Kaiser sagt, es hat einen Grund, dass die kommen. Der Grund hat was mit kapitalistischen Entwicklungen, imperialistischen Kriegen und einer verfehlten Politik des Westens zu tun. Wer das nicht angeht, kann es gleich vergessen.

AW
Damit knüpft er ziemlich unmittelbar an Henning Eichberg an.

TW
Der Eichberg sieht die neue Rechte als Rückschritt, gerade im Bezug auf die Geschichte. Der Kubitschek ist kein Nazi, er identifiziert sich nicht mit der NSDAP, aber er findet auch, dass die Geschichtsaufarbeitung übertrieben war. Da würde der Eichberg sagen, wir waren schon mal viel weiter. Leute wie der Kaiser führen den Ansatz von Eichberg fort – mit dem Wind der Geschichte im Rücken, der Wind der Geschichte wehte zu dessen Zeit nach links, heute weht er nach rechts. Der Hennig Eichberg ist auch als Mensch ein antiautoritärer Typ, der in vielerlei Hinsicht unkonventionell war. Der Kaiser hat nichts Anarchisches. Die beiden verbindet, dass Kaiser heute wie Henning Eichberg vor 50 Jahren stark beeinflusst ist von Alain de Benoist. Der ist auch so ein lockerer Typ, der hat eine Weste an und raucht wie ein Schlot. Der ist vom Habitus eher ein Linker. Für Benedikt Kaiser ist Alain de Benoist ein Vorbild, in der Offenheit der Rezeption aller möglichen Theorien und Autoren ohne nach der ideologischen Herkunft zu fragen.

AW
Warum funktioniert das so gut, die ehemals linken Protestformen und Denkansätze zur rechtsradikalen Mobilisierung zu benutzen?

TW
Die meisten Leute, die in der AfD sind, kommen nicht aus klassisch-rechten Milieus. Zum Teil waren sie sogar mal eher links eingestellt. Viele von den Älteren waren selbst 68er, sie sind von der emanzipatorischen Zeit der Sechziger und Siebziger beeinflusst. Auch bei Kubitschek, der fast genauso alt ist wie ich, der auch noch an einem rechten Traditionsstrang hängt, dem Soldatentum, hatte ich dennoch den Eindruck, dass er Zeitgenosse ist. Kositza kennt auch The Smiths und fand die zum Teil mal gut. Die ist mit dem gleichen kulturellen Nektar gross geworden, an dem viele geschlürft haben, auch ich. Das spürt man auch an deren lockerer Art. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die ihre Kinder schlagen; sie haben auch gesagt, dass sie das nicht machen. Selbst Kositza und Kubitscheck können sich dem Zeitgeist nicht verschliessen. Ich wurde nur einmal geschlagen, aber es war immer ein Thema in meinem Elternhaus. Dass man heute seine Kinder nicht mehr schlagen dürfte. Eine Ohrfeige hat aber noch niemandem geschadet, fanden meine Eltern.

Alexis Waltz ist Kulturwissenschaftler und Journalist. Besonders interessiert er sich für elektronische Musik, aber auch für die Geschichte der Gegenkulturen und Avantgarden, Kultur und Politik der USA, die Geschichte der Arbeit und die Geschichte der Geschlechter. Seine Texte sind in Groove, Spex, taz oder in der Süddeutschen Zeitung zu lesen und wurden ins Englische, Russische, Polnische und Französische übersetzt. 

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