Die letzte Eiszeit stürzte sich in den Walensee. Der Walensee ist ein Loch zwischen Chur und Zürich. «Dä isch für nüt guet», sagen die einen. Dieser Aussage wird meist weder im Allgemeinen noch im Einzelnen widersprochen. Immer staut sich in beide Richtungen der Verkehr. In den Blechveihkeln Eltern, die vor ihren Kindern und der Heidilandraststätte, wo ihre Blagen plärren, flüchten.

[665] Wallenstadt, Stadt im schweiz. Kanton St. Gallen, mit ungefähr 1900 E. Der W. er-See od. der Wallensee liegt 1336′ über dem Meere, ist 4 St. lang, 1 St. breit, über 500′ tief, fischreich, im Norden von hohen Bergwänden eingeschlossen, von denen sich ein Bach in den See herabstürzt, hat wenige Landungsplätze und ist sehr stürmisch; 1851 ging auf ihm der «Delphin» unter, bis jetzt das einzige Beispiel, dass auf einem europäischen Landsee ein Dampfboot von den Wellen verschlungen wurde.

So Herders-Conversationslexikon.

Dass der Lag Rivaun, wie ihn die Rätoromanen viel schöner nennen, ein nimmersatter Hungerschlund ist, ist nicht allgemein bekannt. Zwischen den letzten beiden Eiszeiten verharrte hier die Endmoräne des Schweizertums, bevor diese zum Zwecke eines irren Grabmals für Hämpu den Hinterletzten, erster Fürst eines Landstrichs zwischen Oberterzen und Wildhaus, abgetragen wurde. Das Wallis hingegen war schon immer Afrika.

In noch mausgrauerer Vorzeit war hier einst ein Meer. Auf einem Floss trieben Buckelberry Finn und Humpty Lumpi vorbei, eine alte Unterhose der Venus von Milo, die bedeutend älter ist als angenommen und dazu noch extraterrestrischen Ursprungs, als Piratenfahne den Mast hoch gezogen. Mit auf dem Floss war die Henne, die das erste Ei legte. Finn und Lumpi veranstalteten ein Eiertütschen. Das war der Ursprung von Ostern.

Was wollen Sie?
Wohltemperierten Wahnsinn und meinen Schlaf.
Wenn ich in einen Spiegel falle, sehe ich einen nassen
Betrunkenen.

«Dä isch für nüt guet!»

«Es sollte wieder mehr gestorben werden wollen», sagt ein Alter und meint nicht sich selber. Dass der Lag Rivaun ein nimmersatter Hungerschlund ist, ist nicht allgemein bekannt. Nämlich begab es sich so:

Oben thront das Dorf Amden. 903 Meter über Meer besiedelten damals Rätoromanen das Wildmannlisloch, weil das immer aus dem Nebel draussen war. Die Alemannen hingegen sassen unten in der Suppe, deshalb haben sie noch heute so eine miese Laune und machen einen Grind bei allem, was sie tun. Im frühen Mittelalter kamen die Franken und die Schwaben, seither hat man in Amden auch nichts mehr zu lachen. Etwa zu dieser Zeit begannen auch die rätselhaften Entleibungen, wie sie im seit 666 n. Chr. erscheinenden «Amdäalmanach» dokumentiert sind. Eligius Noviomagus Veromanduorum schreibt in den 90er-Jahren des achten Jahrhunderts von «Christenmenschen, in die der Theufel fuhr» und die sich «in völliger Simulthanithät» wie eine Horde Lemminge den Fels hinunterstürzten (analog dieser Schweinedämonengeschichte
in der Frohen Botschaft). Dass die Polizeistunde in Amden oben recht früh war und am Walensee seit Anbeginn der Zeit das Restaurant Paradiesli steht, ward nicht der Dokumentation würdig empfunden.

Der Lag Rivaun war zufrieden. Schmatzgörpsguddiguddi.

Seither vollzieht sich dieses unheilige Massensterben jede zweite Generation. Carladungenvoll karren Reiseunternehmen Chinesen und Russen an den Walensee, weil es bald wieder so weit sein soll. Bisher allerdings bloss lange Gesichter und Scheissfrass in der Autobahnraststätte Heidiland. «So ein See ist auch ein Spiegel», sagt der Reiseleiter und weiss nicht so recht, was er damit meint.

«I feel nostalgisch for the Futuro», bekennt der Schädel von Hämpu dem Hinterletzten in seinem irren Grabmal und verweigert die Auferstehung.
«Es kann nur Gegenwart sein», rauscht der Wind durch Venus’ Unterhose aus einer anderen Zeitebene.
«Willst du damit sagen, dass alles was je war, ist und sein wird, sich in der selben Ewigkeit ständig und gleichzeitig abspielt?»
«Wenn ich in einen Spiegel falle, sehe ich einen nassen Betrunkenen.»

Wir kamen von Chur. Besuchten den Mediamarkt und die Giger-Bar, der das Kantinenlicht gar nicht gut stand. Zelebrierten
in einem Hotelzimmer in einem Turm mit Blick auf den Bischofssitz wüste Voodooorgien. Einmal hatten wir kurz gleichzeitig den Lwa eines deutschen Papstes (der noch gar nicht verstorben war) und jener des glücklosen Hämpus aus dem massiven Moränengrab, die in uns fuhren. Doch wie eine Streichholzflamme im Sturmwind (der Leidenschaft) war der Moment – whuuuuschschsch – wieder fort und es blieben bloss nackte, verschwitzte, dicke Leiber zurück, die allerlei Spirituosen aufsogen, wie trockene Schwämme, die mittlerweile bloss noch Fossilien zwischen den Gesteinsschichten unter dem Walensee sind. I feel nostalgisch for the Futuro.

Später Scherbengasse. Der Papst und Hämpu kehrten unverhoft zurück und zogen sich gegenseitig Flaschen über den Scheitel. Polizeieinsatz, aber wie erklärt man denen das Phänomen der Besessenheit?
Es handelten nicht diejenigen, die laut Geburtsurkunde über die dahnigen Körper gebieten.

«Dä isch für nüt guet!»
Und es klickte die Acht.

Wir werden von Zürich kommen, die ganze Nacht Kutteln geputzt im Niederdörfli, im Morgengrauen bei der Gräbli-Bar vorbeigeschaut haben. Es wird Braufrisch im Zugbistro geben und die Sonne hätte hoch über Amden gestanden.
Als wir von Zürich kamen – und uns von Chur kommend kreuzten, Scherben im Haar.
Dann wird es geschehen sein.
Ein Schatten aus dem Augenwinkel erst.
Ein zweiter, ein dritter.
Mal richtig hinschauen.
Die Linse auf Ferne einstellen.

«Wenn dieser Hämpu noch mal bei mir einfährt,
schlag mich tot!»
Kann nichts sagen.
Kann nicht hören.
Die Sonne hat hoch über Amden gestanden.
Und jetzt nun also, wo wir uns von Chur kommend mit uns die von Zürich kamen kreuzen werden, purzeln die Lemminge von Amden wieder über die Klippen, wie sie es seit Jahrhunderten jede zweite Generation tun.
Und es war schöner als alles, was wir je erlebt haben werden.

Pablo Haller (*1989), Autor und Co-Verleger des Verlags Der Kollaboratör (Luzern), Musiker (Ron y Ruido), Performer und Reisender. Haller interessiert sich für die Ränder des Zeitgeschehens und schreibt momentan an seinem ersten Roman ‹Die Rückkehr›.

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