«Die Schweiz ist das sicherste Land der Welt.» Das wurde meiner Klasse in den 90er Jahren von unserem Klassenlehrer diktiert und das schrieben wir alle schön säuberlich in unsere Hefte.

Und weil sich die Menschen in der Schweiz dessen auch heute noch bewusst sind, sassen bis vor kurzem alle ohne Schutzmaske in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Denn die Schweiz ist immer sicher, und wenn sich ihre Bevölkerung in etwas sicher sein kann, dann, dass sie sicher ist. Aber da die Busse und Trams dann doch sehr voll waren und die Fallzahlen wieder hochgingen, schauten sich die Menschen trotzdem nervös um, ob da jemand nach einem Corona aussehen könnte. Also z.B. mit mediterranem oder asiatischem Aussehen gesegnet war. Oder Tessiner oder Genfer oder gar Waadtländer Aussehen. Oder neuerdings, wer wie ein Flamingo aussieht oder wie aus Zürich. Da musste man gut schauen. Und weil alle immer so gut am Schauen waren, sahen sie dann wie die anderen auch genau schauten. Und immer, wenn eine Person beim Schauen erwischt wurde, leckte die sofort die Haltestange ab und erhob dann drei Finger zum Rütlischwur, wir sind hier schliesslich in der Schweiz!

Ja, in der Schweiz ist man sicher. Hier wird es der Bevölkerung überlassen, zu entscheiden, ob es sinnvoll ist, eine zweite Welle zu verhindern oder nicht. In der Schweiz kann man das so machen, weil die Schweiz das mündigste Volk der Welt ist. Niemand kann so gut abstimmen wie ein Schweizer. Die Schweizerinnen brauchen noch etwas Übung, aber dafür, dass sie es erst seit Neuestem tun, machen sie es gar nicht mal so schlecht! Das hat manchen Schweizer positiv überrascht und bestätigt: Wenn sogar die Frauen mündig sind, dann ist eine Nation wirklich sehr vernünftig! Das ist sicher. Und als die Schweiz vor einigen Monaten zuerst die Pasta- und dann die Gemüse- und dann die Tiefkühlregale, also als die Schweiz alle Regale aller Lebensmittelläden leergekauft hat und sich dabei die Ellenbogen in die Mägen gerammt hat, das war wirklich nur ganz kurz und das ist ja jetzt auch schon drei Monate her und vergessen.

Aber was nie vergessen gehen soll, ist, dass wir uns unsere Sicherheit hart erkämpft haben. Denn alle Schweizer sind eigentlich Wilhelm Tells, wild und rebellisch, trotz oder eben gerade wegen der Schweizerkreuz-Krawatte! Und wer von keiner EU geknechtet wird, wird auch von keinem Coronavirus geknechtet. Deshalb sassen und standen wir alle stolz und dichtgedrängt im Bus, sangen laut die Landeshymne und zeigten unsere Mündigkeit. Jedenfalls solange niemand in der Nähe wie ein Tessiner oder wie ein Flamingo aussah.

Und als dann der Bundesrat Schutzmasken als obligatorisch im öffentlichen Verkehr erklärte, da sagten wir: Jetzt nimmt der Bundesrat wieder das Heft in die Hand.
Das sagen wir gerne. Wenn man in der Schweiz das Heft in die Hand nimmt, dann macht man das gut und sauber. Sofort setzen wir uns mit Masken in den Bus und sind froh, hat der Bundesrat das Heft in die Hand genommen, weil der dort hinten, der sieht schon ziemlich asiatisch aus, also zum Glück hat der Bundesrat das Heft in die Hand genommen! Weil davor hiess es, man solle die Masken aus Solidarität tragen und also Solidarität, das ist nun wirklich nichts Schweizerisches, das ist ganz sicher.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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