Plötzlich ist er da, mit seinem bleiernen Blau und den steilen Felswänden: der Walensee. Und immer, wenn er auftaucht, nimmt er zumindest kurz unsere Aufmerksamkeit ein. Ignorieren geht nicht. Dafür ist er zu gross, zu lang, zu wuchtig, zu präsent. Auf mich wirkt er immer ein bisschen furchteinflössend. Fährt man mit dem Zug von Zürich aus Richtung Bündnerland, rauschen erst all die Gemeinden am linken Zürichseeufer vorbei: Rüschlikon, Thalwil, Horgen, Richterswil. Und überall sieht man sanfte Uferzonen, Schiffstege, Badeplätze. Alles sagt einem: Bleib doch hier, leg dich hier aufs Gras und geniess den Tag. Der Zürichsee ist ein Badesee. Nichts hält einen davon ab, ins Wasser zu steigen. Seine Ausstrahlung: freundlich.
Und während man anschliessend durch die Linthebene fährt, hängt einem diese Heimeligkeit immer noch nach. Man fühlt sich gut aufgehoben, fühlt sich willkommen hier. Der Anblick des Walensees bildet dann einen deutlichen Kontrapunkt: Plötzlich dominieren die Grautöne. Der See wirkt tief und unzugänglich. Manche erinnert er an Norwegen, an die Fjorde – und ja, das hat durchaus was.

«Furcht» ist wohl ein etwas zu starkes Wort für das, was der Walensee auslöst. Vielleicht ist es eher eine gewisse Mulmigkeit. Würde das Ungeheuer von Loch Ness in der Schweiz Urlaub machen, es würde hier absteigen. Die stillgelegte Raststätte, an der man mit dem Auto vorbeifährt, wirkt immer so wie ein Mahnmal, das uns sagt: «Halt ja nicht an. Hier hast du nichts mehr verloren. Alle anderen sind eh schon weg.» Vielleicht erlaubt mir das jahrzehntelange Vorbeifahren auch gar keine andere Sichtweise. Tagi-Wanderkolumnist Thomas Widmer («Widmer wandert weiter») empfindet stets ein gewisses Mitleid mit dem See – und mir geht es genauso. Der Walensee ist ein Transitsee. Wuschwuschwusch vor dem Zugfenster, ein paar Blicke vom Autosteuer, zwischen den vielen, kurzen Tunnels – dann ist er auch schon wieder weg, und man weiss: Jetzt ist’s nicht mehr weit bis in die Bündner Berge. Auf dem Rückweg nervt man sich, wenn er sich mit seiner Länge von 15,5 Kilometern ganz ordentlich streckt und einem signalisiert: Es ist doch noch mal ein ganzes Stück hin bis nach Hause.
Das war so in etwa das, was mir durch den Kopf ging, als der Walensee mit den Vorbereitungen zu dieser Ausgabe zur Schreibaufgabe wurde. Abgesehen davon, dass man, wenn man ehrlich ist, durchaus hin und wieder in der Region Halt macht. Für pragmatische Skiausflüge nutzt man sie dann eben doch gerne. Wer nur einen Tag Zeit hat für den Schneesport, besucht die Flumserberge. Kürzere Anfahrt, mehr Zeit auf den Skiern. Auch die Churfirsten, zum Beispiel der Chäser-rugg, taugen durchaus als Skidestination. Aber wirklich nahe kommt man dem See so nicht. Dafür muss man ihn erlaufen.

Walenstadt wirkt wie ein langgezogenes Dorf. Der Comestibles hat gerade drei Wochen Betriebsferien, der Coiffeurladen heisst Haarmonie und schneidet zu Preisen, die einen in Zürich ernsthaft am kaufmännischen Verstand des Betriebsleiters zweifeln liessen. Im Migros ist das Angebot auf Wandervögel wie mich ausgerichtet: Nüsse und Trockenfrüchte zum Abfüllen, Äpfel, zwei Wanderchnebel. Es kann losgehen.
Der Wind treibt das Herbstlaub durch die Strassen, während ich auf den See zustrebe. Ein Denkmal am Wegrand weisst mich auf einen Herrn hin, der diese Region geprägt hat: Hans Conrad Escher von der Linth. Er verbesserte mit der Regulierung der Linth die Lebensbedingungen um den Walensee. Das Abbild seines Kopfes, in Stein gemeisselt, thront auf einer Säule. Unerreichbar für allfällige Hochwasser. Doch die gehören dank ihm der tiefen Vergangenheit des frühen 19. Jahrhunderts an. 1816 war der Linthkanal, der heutige Zufluss des Walensees, fertiggestellt.
Wie gesagt: Der Walensee macht es einem nicht einfach. Er ist kein Charmeur. Er hat keine grossen Gastgeber-Qualitäten. Auch der Erschliessung zu Fuss entzieht sich der Walensee eigentlich weitgehend. Es gibt keinen durchgehenden Uferweg. Die Südseite wird von der Autobahn A3 und der Zugstrecke beansprucht. Bleibt nur noch das Nordufer.

Nachdem man am Bahnhof Walenstadt losgewandert ist und das Seeufer mit kleinem Hafen und Park erreicht hat, wird der Wanderer sehr bald, sehr direkt in die Höhe geführt. Es gilt in der ersten Stunde fast 500 Höhenmeter zu bewältigen, um hoch über den Felsflanken gen Quinten traversieren zu können. Denn da will ich hin: In die einzige Schweizer Ortschaft, die nur zu Fuss oder mit dem Schiff erreichbar ist.
Das Nordufer ist übrigens bekannt für sein mediterranes Klima. Feigenbäume wachsen hier, Ringelnattern zischeln im Gestrüpp, sogar Hanfpalmen nehmen ein Sonnenbad. Gleich zu Beginn räkeln sich die Trauben eines Weinbergs in den heute weitgehend inexistenten Sonnenstrahlen. Sein Name zeugt von Weltläufigkeit: Kaliforni.

Eine erste Rast nach 70 Minuten. Ein bisschen verschnaufen und, ganz ernsthaft: das T-Shirt wechseln. Der Aufstieg hat den Wandernden auf Temperatur gebracht. Unterwegs ist heute kaum jemand. Erst nach über einer Stunde kommen mir ein paar Leute entgegen. Im Laufe des Tages vielleicht zehn, mehr nicht. Die meisten scheinen den Weg in umgekehrter Richtung zurückzulegen: Entweder von Weesen aus die ganze, lange Strecke oder dann mit dem Schiff von Murg nach Quinten und von dort Richtung Walenstadt. Während der Rast denke ich über die Assoziationen nach, die ich im Rahmen einer kleinen Umfrage gesammelt habe. Einige schätzen die Unwirtlichkeit. Sie sorge dafür, dass der See exklusiv und das Badevergnügen gross bleibe. Und jemand erinnert mich an eine alte Lektüre: Den «Simplicissimus» von Grimmelshausen, der von Unterwasserbewohnern in den Mummelsee entführt wird und zum Mittelpunkt der Erde taucht. Vielleicht ist dieser See ja auch das Tor zur einer anderen Welt.

Erst geht’s aber hoch zu Kühen und Weiden und Alp-Idyll, dann erst runter in Richtung Mittelmeer. Tatsächlich kommt man sich in Wassernähe streckenweise wie in Italien vor. Die Bäume duften fast wie am Strand. Sind das Kiefern? Pinien? Nach dem steilen Abstieg – die Beinmuskeln denken schon an Meuterei – führt der Weg an ein paar Stränden und Häusern vorbei. Ein rotes Ruderboot liegt vor Anker, Rentner sitzen in ihrem Garten im Liegestuhl. Es ist plötzlich warm. Die Sonnenstrahlen glitzern auf der Seeoberfläche.
Er wirkt jetzt gar verführerisch. Warum nicht hier ein Häuschen kaufen? Nach dreieinhalb Stunden bin ich in Quinten. Ein schönes Fleckchen. Ein paar Ferienhäuser, ein paar feste Wohnsitze. Im Winter hat der Ort dreissig Einwohner. Es gibt Marmelade und Feigensenf zu kaufen. Obwohl es bewölkt ist, sitzen viele Ausflügler in den Seelokalen. Einige haben den Ort von Weesen aus erlaufen, einige sind mit dem Schiff von Murg gekommen. Ich könnte noch weiter, doch ich will hierbleiben, einfach aufs Wasser schauen, etwas trinken, ein paarmal das Horn des Schiffes hören. Das bringt mich schliesslich nach Weesen und zeigt mir, wie der See am Mächtigsten wirkt: vom Wasser aus.

Beim Wort «Weesen» muss ich immer an Verwesung denken. Oder an etwas, das mal gewesen ist. Doch ist hier mal mehr gewesen? Schwer zu sagen. Was sicher noch zu sagen ist: Das Dorf Amden hat sich eine ziemlich prominente Lage ausgesucht. Hat man von dort vielleicht die beste Sicht auf den See? Wanderprofi Thomas Widmer verneint: Das sei die vom Flumserberg aus. Und dort besonders grossartig vom Gross Güslen, einem vorgeschobenen Platz direkt an der Kante.

Acht Tage später im Zug Richtung Bündnerland. Auftritt Walensee. «Schauen Sie, die Churfirsten! Imposant!», ruft ein rüstiger Rentner in Wandermontur auf der anderen Gangseite. Er versucht eine Frau, die mit ihrem Gottenmeitli Memory spielt, in ein Gespräch zu verwickeln. Er berichtet von Boots- und Wandertouren und zeigt auf die kleine Insel, die er bereits mehrmals besucht habe. Sein einziger Zuhörer bin ich. Zehn Tage später, auf der Rückreise aus dem Bündnerland, wirkt der See nicht sehr einladend. Das Wasser ist gräulich, an den Uferregionen milchig. Und doch ruft sein Auftritt Reaktionen hervor: Ein Abteil weiter sitzen drei Generationen einer Familie. Die Mutter, wohl Mitte vierzig, hat den Laptop auf den Knien und die Bespassung des vielleicht fünfjährigen Sohnes an ihre Schwiegermutter delegiert. Als der See zu sehen ist, schaut sie kurz vom Computer auf.

Mutter (zu Sohn): Weisst du noch wie dieser See heisst?
Sohn: Ähm…
Mutter: Wir waren da schwimmen diesen Sommer, weisst
du nicht mehr? Da wo das Wasser so schön blau war.
Sohn (nachdem ihm die Grossmutter etwas eingeflüstert hat): Das ist der Walensee.
Mutter: Genau, super.
(kurze Pause)
Mutter: Hast du das jetzt selbst gewusst oder hat dir die Nonna ein bisschen geholfen!
Sohn: Ähm….

Was bringt man mit vom Walensee? In meinem Fall einen ziemlichen Muskelkater in den Oberschenkeln, Feigensenf und Einblicke in ein paar unschweizerische Welten. Irgendwie traue ich dem mediterranen Idyll nicht. Für mich behält er seine Mulmigkeit. Grimmelshausen hätte mir zugestimmt.

Adrian Schräder ist freier Journalist und arbeitet regelmässig für die NZZ, Das Magazin oder das Bieler Tagblatt.

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