Ziemlich genau in der Mitte der Schweiz ist, nicht sehr tief unter dem Boden, eine hölzerne Kiste eingelassen. In dieser Kiste sitzt das Urschweizer Wuetbürgerli: Ein aufgebrachtes kleines Kerlchen mit goldenen Kühen auf den Hosenträgern, das den ganzen Tag und die ganze Nacht lang unablässig vor sich hinjammert. Die Menschen, die das Wuetbürgerli als erste hörten, imitierten sofort sein Jammern und nannten es Jodeln. Und da in jedem unserer Herzen ein kleines Wuetbürgerli sitzt, können wir alle sehr gut jodeln. Und wir jodeln gern! Wir jodeln auf dem Berg, neben dem Berg, vor dem Berg, hinter dem Berg und auch im Tunnel im Innern des Berges. Morgens wachen wir auf, begreifen, wer, was und wo wir sind und beginnen sofort zu jodeln.
Viele Menschen meinen, das Jodeln sei ein Gesang ohne Worte. In Wahrheit ist es eine urtümliche Art, wie man hierzulande sein Wutbürgertum kundtut: Das Jodeln ist ein Klagelied. Es beklagt, dass Herr Pfeuti einen grösseren STEWI hat als man selbst, dass die Jugendlichen an der Postautostation den Abfallkübel angezündet haben und dass Frau Gerber am Sonntag Altglas entsorgt. Solche Dinge verursachen bei vielen Menschen in der Schweiz grosse seelische Schmerzen.

Seit Corona wird unser singendes Gejammer immer mächtiger. Es rollt in ohrenbetäubenden Wellen durch das Land und flutet die Täler und Kommentarspalten der Tageszeitungen: Die Gefahr, die von den Masken ausgehe, sei schlimm. Die Masken würden an den Ohren ziehen und so einen Schmerz verursachen, der wiederum Kopfschmerz auslöse und dieser Kopfschmerz löse Suizidgedanken aus und führe letztendlich zum Freitod! Ältere Männer beklagen ausserdem die fehlende körperliche Nähe zu jüngeren Mitarbeiterinnen, auch das mache traurig, schlapp und lebensmüde! Vorallem aber sind es diese Vorschriften, die, so scheint es, jedem guten Bürger seine Freiheit nehmen wollen. Dabei ist es völlig unsinnig, einem mündigen und erfolgreichen Volk wie den Schweizer-innen und Schweizern Vorschriften machen zu wollen. Bundesrat Ueli Maurer hat erst kürzlich wieder gesagt, dass wir unseren Wohlstand allein unserem Fleiss und unseren guten Ausbildungen zu verdanken haben. Wir sind also einfach tolle Hechte!

Das Schlimmste, was man uns sagen kann, ist, dass wir gar keine Berechtigung zum Jammern hätten, weil wir es in der Schweiz ja so gut hätten. Im Gegensatz z. B. zu anderen europäischen Ländern, die schwer unter der Wirtschaftskrise und der Coronakrise gelitten hätten. Aber solchen Ketzern jodeln wir sofort die Ohren zu. Man hat es schliesslich nicht von nichts zum Mittelwohlstand gebracht! Das ganze Leben lang hat man gearbeitet! Und in der Lehre auch nur vierhundert Franken verdient! Und wenn die Leute arbeitslos sind, dann müssen sie halt wärchen gehen! Hier genauso wie anderswo!

… So klingen die Wellen, die anschwellend durch unsere Täler rollen, bis alles geflutet ist und nur noch die Berge herausragen. Von denen wir dann freie Sicht auf unser eigenes Meer haben, das Jammermeer. Auf dem Jammermeer können wir mit Schiffen fahren, an denen Schweizerfahnen flattern, wir können darauf segeln und praktische Sonnenbrillen tragen und die Jugend kann auf dem Gejammer surfen. Es wird schön werden.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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