Die Fragestellung «Wer ist JudeJüdin» ist nicht neu. Doch ein Disput zwischen den beiden deutschen Autoren Max Czollek und Maxim Biller hat sie wieder entfacht. Biller spricht Czollek seine jüdische Identität ab, da er keine jüdische Mutter hat und somit nur ein sogenannter «Vaterjude» oder im Falle Czollek «Grossvater­jude» sei. Die Heftigkeit und Emotionalität, mit der die Debatte geführt wird, zeigt auf, dass das Thema gerade innerhalb jüdischer Gemeinden bisher auf die lange Bank geschoben wurde. Aktuell leben in der Schweiz mehr als 200’000 Menschen in interreligiösen Ehen und Partnerschaften. Auch hierzulande gibt es aufgrund dieser Tatsache viele Vaterjudenjüdinnen – was zu vielen ungelösten Fragen des Zusammenlebens führt.

Eine gemeinsame Stimme haben die Betroffenen, die sich jüdisch fühlen, als solche aber nicht anerkannt werden, bisher nicht. Mit dieser Realität werden Gemeinden in der Schweiz seit Jahren konfrontiert, Vaterjuden*jüdinnen kennt keine von ihnen an, selbst die liberalen Gemeinden nicht.

Offenheit bis zur Bar oder Bat Mizwa

Peter Jossi ist Co-Präsident der Plattform der Liberalen Juden der Schweiz sowie Präsident von Migwan, der Liberalen Jüdischen Gemeinde Basel, er sagt: «In den liberal-progressiven Gemeinden der Schweiz gilt wie in den meisten europäischen Partnergemeinden und -organisationen grundsätzlich das matrilineare Prinzip. Bei Familien, bei denen ausschliesslich der Vater jüdischer Herkunft ist (patrilinear) besteht jedoch eine grosse Offenheit, die Kinder und Jugendlichen von Anfang an voll in die Kinder- und Jugend­programme zu integrieren.» Auf dieser Grundlage seien offizielle Übertritte relativ häufig, in der Regel spätestens vor der Bat oder Bar Mizwa. «Übertritte der Eltern sind in diesem Zusammenhang ebenfalls relativ häufig. Sei es seitens des noch nicht-jüdischen Elternteils oder in Fällen, bei denen der jüdische Status durch die Orthodoxie nicht anerkannt ist.» Peter Jossi fügt an, dass die Verantwortung für die konkrete Handhabung und Entscheidungs­praxis selbstverständlich auch in der liberal-progressiven Bewegung bei den Rabbinaten und den eigenständigen Rabbinats­gerichten «Beit Din» liegt.

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG, bestätigt die Annahme, dass es für Vaterjudenjüdinnen in keiner der SIG-Mitgliedsgemeinden möglich ist, aufgenommen zu werden. «Dies, da gemäss der Halacha (dem rechtlichen Teil der Überlieferung des Judentums) nur Kinder jüdischer Mütter als Juden anerkannt sind», so Kreutner. Er räumt ein, dass es sicher auch Kinder jüdischer Väter gäbe, die sich als JudenJüdinnen bezeichnen. «Das bleibt ihnen unbenommen. Diese Selbstzuschreibung ist zu akzeptieren. Nur Mitglieder jüdischer Gemeinden können sie nicht werden», sagt der SIG-Generalsekretär. Er verweist aber darauf, dass einige Gemeinden verschiedene Möglichkeiten sehen, wie solche Kinder vor dem Bar- oder Bat-Mizwa-Alter integriert werden können. So zum Beispiel in der Israelitischen Gemeinde Basel. Deren Geschäftsführerin Isabel Schlerkmann bestätigt die Aussage des SIG: «Als orthodox geführte Gemeinde richten wir uns nach der Halacha und es kann nur Mitglied werden, wer eine jüdische Mutter hat oder orthodox übergetreten ist. Unsere Kinder- und Jugendangebote sind offen für alle mit einem jüdischen Elternteil, egal ob Mutter oder Vater, und wir pflegen Offenheit gegenüber gemischt-religiösen Paaren.»

Gefühl der Ablehnung

Selbst betroffen ist Regula Weil, die sich bereits seit ihrer Kindheit mit ihrer hybriden Identität beschäftigt. Sie ist in Bern mit einem jüdischen Vater und einer nicht-jüdischen Mutter aufgewachsen und wurde jüdisch erzogen, ihre Mutter war auch in der Women’s International Zionist Organisation (WIZO) aktiv. «Meine beiden Eltern waren aktiv in der jüdischen Gemeinde und ich besuchte den Religionsunterricht», sagt die 61-Jährige. Als ihr aber die Bat Mizwa verwehrt wurde und ihr klar wurde, dass sie kein Mitglied der Gemeinde werden konnte, fühlte sie sich abgelehnt. Es hätte die Möglichkeit gegeben, zu konvertieren, was für sie aber nicht in Frage kam, denn: «Ich fühle mich jüdisch und kann doch nicht zu etwas übertreten, das ich bereits bin.» Nachdem sie die deutsch-israelische Soziologin Ruth Zeifert kennengelernt hatte, merkte sie, dass beide ähnliche individuelle Erfahrungen gemacht haben. Die zwei Frauen entschieden sich, gemeinsam mit Ionka Senger ihre eigenen Erfahrungen mit der Patrilinearität aufzuschreiben. Entstanden ist das 2021 erschienene Buch «Väter unser …», das verschiedene Geschichten Betroffener enthält. «Wir haben gemerkt, dass das Bedürfnis, sich miteinander auszutauschen, sehr gross ist. Es gibt keinen Verband oder Verein für uns, wir Vaterjüdinnen und Vaterjuden werden bisher alleingelassen», so Regula Weil. Die aktuelle Diskussion zum Thema «Wer ist jüdisch?» findet sie wichtig, da die jüdische Gemeinschaft sich ihrer Meinung nach spalten wird, sollte es zu keiner Lösung kommen: «Man kann sich nicht immer nur auf die Halacha berufen und gesellschaftliche Realitäten nicht als solche anerkennen», so die Autorin.

Wichtigkeit des Themas anerkennen

Die Zürcher Psychoanalytikerin Madeleine Dreyfus hat über das Thema «Ein ziemlich jüdisches Leben. Säkulare Identitäten im Spannungsfeld interreligiöser Beziehungen» promoviert. Sie sagt auf Nachfrage zu der Debatte über Juden*Jüdinnen mit nicht-jüdischer Mutter: «Ich glaube, dass sich die Gemeinden bemühen und die Wichtigkeit des Themas anerkennen.» Konkret verweist sie auf die Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ) und die Möglichkeit von Kindergarten und Unzgi für vaterjüdische Kinder sowie auf die dort neu geschaffene Option, zusammen mit dem nicht-jüdischen Partner ein Grab zu beanspruchen, oder auf die Initiative «Freunde der ICZ». Dreyfus räumt aber ein: «In den Köpfen der Menschen sind Veränderungen allerdings nicht so leicht wie auf dem Papier, siehe die Gleichstellung der Frauen, die auf Gesetzesebene schon einige Zeit besteht. Es geht nicht darum, die nicht-jüdischen Partner und Partnerinnen zu integrieren, sondern sich als Gemeinde auch für die jüdische Identitätsbildung von vaterjüdischen Kindern und Kindern aus gemischten Beziehungen verantwortlich zu fühlen und die Stigmatisierung von Gemeinde­mitgliedern zu durchbrechen, die mit nicht-jüdischen Partnern und Partnerinnen verheiratet sind.» Eine solche Verbindung bedeute nämlich keineswegs die Abwendung vom Judentum, so Madeleine Dreyfus, sondern oft im Gegenteil eine verstärkte Auseinander­setzung damit.

Eine Kampagne?

Die Integration der Vaterjudenjüdinnen steckt gerade in den sogenannten jüdischen Einheitsgemeinden nach wie vor in den Kinderschuhen. Lösungen drängen sich aufgrund der demo­grafischen Entwicklung nicht erst seit der aktuellen Kontroverse auf. Hanno Loewy, Publizist und Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, sieht in der aktuellen Auseinandersetzung eher eine Kampagne, er sagt: «Was soll ich zu dieser Debatte sagen, die doch gar keine ist. Das Ganze ist eine Kampagne gegen einen unbequemen Schriftsteller, und diejenigen, die diese Kampagne inszenieren, haben sich das giftigste Thema ausgesucht, das sie meinten finden zu können. Das passiert immer wieder in inner­jüdischen Auseinandersetzungen, wenn einem nichts Gemeineres mehr einfällt. Losgelöst von den genannten Personen ist das Thema der Integration von Vaterjudenjüdinnen wichtig. Dafür zeugen nicht nur die teils sehr emotionalen Reaktionen auf die aktuelle Diskussion, sondern auch die bewegenden Geschichten im jüngst erschienenen Buch ‹Väter unser …›. Thematisiert wurde die Problematik bereits in der Studie des Schweizerischen Nationalfonds ‹Schweizer Judentum im Wandel› aus dem Jahr 2010. Darin wurde aufgezeigt, dass der Anteil interreligiöser Ehen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft bei mehr als 50 Prozent lag. Schon damals hiess es: Diese Annäherung an die nicht-jüdische Gesellschaft ist einerseits ein Zeichen für eine umfassende Integration. Andererseits gefährdet die Entwicklung den Fortbestand der traditionellen jüdischen Gemeinschaft, da religionsgesetzlich nur Kinder einer jüdischen Mutter als JudenJüdinnen gelten.» Die Gemeinden haben auf diese Realität reagiert und sich schrittweise gegenüber Kindern von jüdischen Vätern geöffnet. Auch die Bemühungen um gemischt-religiöse Grabfelder sind ein deutliches Zeichen der Öffnung. In die Schweizer jüdischen Gemeinden als Mitglied aufgenommen werden Vaterjudenjüdinnen aber bisher erst nach einem Übertritt – anders als in osteuro­päischen Ländern, in denen sie weitgehend in die Gemeinden integriert werden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in der ehemaligen Sowjetunion als Nationalität JudeJüdin im Pass aufgeführt wurde, wenn der Vater Jude war. Somit wurde das Jüdisch-Sein in der ehemaligen Sowjetunion patrilinear vererbt. In Deutschland wurde das Thema der «Vaterjudenjüdinnen» daher bereits in den 1990er Jahren aktuell, als tausende JudenJüdinnen als sogenannte «jüdische Kontingentflüchtlinge» aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik einwanderten. Der Weg bis hin zu einer echten Akzeptanz von Vaterjudenjüdinnen in den jüdischen Gemeinden der Schweiz scheint hingegen noch ein weiter zu sein.

Valerie Wendenburg ist Historikerin, sie schreibt seit mehr als 15 Jahren als Redaktorin bei der JM Jüdischen Medien AG für das Wochenmagazin «tachles».
Der vorliegende, hier überarbeitete Text wurde ursprünglich im jüdischen Wochenmagazin «tachles» veröffentlicht.

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