Steganografie bezeichnet eine Methode, bei der Geheim-botschaften in offen zugängliche Informationssysteme eingebettet werden. Bereits seit Jahrhunderten dient diese Taktik unterrepräsentierten und unterdrückten Bevölkerungsteilen als Schutz sowie als Hilfsmittel im Überlebens- und Widerstandskampf. Auch heute, in einer Zeit permanenter Überwachung, bleibt die Steganografie weiterhin eine wirkungsvolle Strategie für Gruppen, die ungerechte und ausbeuterische Machtstrukturen unterwandern wollen.  

Seit am 30. Juni 2020 Beijings neues Sicherheitsgesetz für Hongkong in Kraft getreten ist, haben Demonstrant*innen ihren Widerstand gegen die politische Zensur von Staatsseite mithilfe einer ganzen Bandbreite von visuellen und linguistischen Ausweichmanövern kundgetan. Einige der interessantesten Beispiele bedienen sich dabei phonetischer Besonderheiten der chinesischen Sprache. Da sich chinesische Dialekte wie Kantonesisch und Mandarin tonal unterscheiden, können dieselben Worte unterschiedliche Bedeutungen annehmen, je nachdem wie sie betont und ausgesprochen werden. Der verbotene Slogan «Befreit Hongkong – die Revolution unserer Zeit», beispielsweise, wird anders ausgesprochen zu «Speck und Würstchen, Gemüse und Nudeln».

Diese homonymen Eigenschaften werden in Festlandchina schon seit langer Zeit für den kreativen politischen Widerstand instrumentalisiert. In jüngerer Vergangenheit ging der Staat beispielsweise hart gegen die feministische Bewegung Chinas vor, Aktivist*innen wurden verhaftet und feministische Diskurse online zensiert. Als 2018 auch der Hashtag #metoo auf der chinesischen Microblogging-Plattform Weibo geblockt wurde, fanden User phonetische Wege, um die Onlinezensur zu umgehen. «Me too» wird anders ausgesprochen zu «mi tu» (쵠 稿) bzw. «Reishase», was den entsprechenden Emoji-Hashtag hervorbrachte.

Ich setze mich seit 2015 mit dem Thema der gestaltwandlerischen Qualitäten von Geheimbotschaften innerhalb öffentlicher Informationssysteme auseinander. Diese Methode, Steganografie genannt, bezeichnet, vereinfacht gesagt, die Kunst und Wissenschaft des Sich-unsichtbar-Machens im öffentlichen Raum. Abgesehen vom phonetischen Widerstand in Hongkong und China kann die Steganografie vielerlei Formen annehmen, darunter in Bildern versteckte Worte, verschlüsselte Stoffe, in Architektur integrierte Botschaften, unsichtbare Tinte und auch Jargon. 

Steganografie wird häufig im militärischen Nachrichtenwesen eingesetzt, in der Staatsspionage sowie anderen staatlichen Kontroll- und Manipulations-mechanismen. Mich interessiert allerdings eher die Bottom-up-Methoden des Widerstands, wie sie zum Beispiel sozial und politisch von Frauen, Queer-Communities, Gefängnisinsass*innen oder auch solchen, die ohne Recht auf freie Meinungsäusserung leben, eingesetzt werden, um Kommunikationswege zu finden, die ihnen einen gewissen Schutz bieten. Für mich stellen diese Art von Geheimbotschaften eine wichtige Erinnerung daran dar, dass Widerstand, egal in welcher Grössenordnung, immer möglich ist. 

Der Steganografie liegt eine Instrumentalisierung des scheinbar Harmlosen zugrunde. Das Äussere des steganografischen Gegenstands hat die Fähigkeit, sich chamäleonartig in seine Umwelt einzufügen und den Blick der unwissenden, betrachtenden Person von sich abzulenken. Nur wenn man weiss, wie der Code zu entschlüsseln ist, kann man ihn entdecken – zum Beispiel in der Fassade eines Einkaufszentrums, in einem Wandteppich oder auf einem Demoplakat. Steganografie kann als Kunst der getarnten Kommunikation verstanden werden. So sind ihre Prinzipien nah mit denen der Verkleidung, der Illusion, Abstraktion, Maskierung und Nachahmung verwandt. 

Oft wird die Steganografie mit der Kryptografie verwechselt. Eine andere Geheimschriftstrategie, welche mathematische Methoden anwendet, um Botschaften zu verschlüsseln. Aufgrund der offensichtlich codierten Buchstaben und Nummern sind kryptografische Methoden meist einfacher zu erkennen, weshalb diese Methode zuweilen auch «offene Geheimschrift» genannt wird, die Steganografie dagegen «verdeckte Geheimschrift». Während die Kryptografie auf mathematischem Wissen basiert, scheint die Steganografie von Alchemie, Magie und Geheimnissen umwoben und ist als solche lange weitestgehend unbeachtet geblieben. Kristie Macrakis, eine Historikerin, die sich mit unsichtbarer Tinte befasst, hat die Steganografie deshalb treffend als «dunkle Cousine der Kryptografie» bezeichnet. 

Dies ist einer der Gründe, warum mich die Steganografie mehr interessiert als ihr bekannterer Gegenpart. Ein anderer ist, dass ich als Gestalterin, Künstlerin und Lehrerin die Steganografie als vornehmlich visuelles und linguistisches Unterfangen betrachte, welches die Ästhetik und Politik des Unsichtbaren ergründet. Dabei befasst sie sich in gleichen Massen mit Enthüllung und Sichtbarmachen wie mit dem Verstecken und Verbergen – es entsteht quasi ein Dialog zwischen diesen beiden Polen.

Ich möchte die Steganografie auch als konzeptuellen Rahmen ergründen und untersuchen, wie sie begrifflich erweitert werden kann, um auch Aspekte der kulturellen Assimilation und sozialen Unsichtbarkeit miteinzuschliessen – also Art und Weisen, auf die Körper und Geschichten zensiert und unzugänglich gemacht werden. Egal ob bewusst oder unbewusst versuchen sich viele marginalisierte People of Color der Mehrheitsbevölkerung anzugleichen, indem sie ihre Sprache, ihren Dialekt oder Akzent, ihre Körperhaltung, Kleidung oder ihr Verhalten verändern. Das geschieht häufig als Überlebensstrategie, zum Schutz und um sich mehr Möglichkeiten zu eröffnen und wird als «Codeswitching» bezeichnet – also eine Veränderung in den sozialen, semantischen oder linguistischen Codes je nach sozialem Umfeld. Auf Makroebene existiert zudem ein grösserer Prozess der kulturellen Assimilation, bei dem die dominante Kultur imitiert werden muss, um als gleichwertig angesehen zu werden. 

Wenn Codeswitching als Überlebensstrategie angewendet wird, kann man das auch als «taktische verkörperte Steganografie» verstehen – als Zustand des Sich-unsichtbar-Machens. Diese Taktiken greifen zu Zwecken des Widerstands oder Selbstschutzes mitunter auf Genderrollen oder rassistische Stereotypen zurück, so repressiv diese auch sein mögen. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen: solcherart Tarnversuche können psychologische Konsequenzen haben, ähnlich zu dem von W.E.B. Du Bois beschriebenen «doppelten Bewusstsein» oder Frantz Fanons «Minderwertigkeitskomplex» – eine tiefgehende Scham angesichts des eigenen Ichs, von Cathy Park Hong auch «Störgefühle» genannt. All dies bezeichnet auf Herkunft und Hautfarbe bezogene Emotionen, die das Ergebnis von Unsichtbarkeit und fehlender Anerkennung sind.

Ich bin als Kind chinesischer Einwanderer*innen in den westlichen Vororten von Sydney aufgewachsen, bevor ich 2006 nach Rotterdam auswanderte. Man könnte mein Leben berechtigterweise als steganografische Erfahrung bezeichnen. Ich habe mich lange Zeit wie eine Betrügerin gefühlt, die verbirgt, dass sie eigentlich nicht in diese
Welt gehört, die bell hooks einst als «imperialistisches weiss-dominiertes kapitalistisches Patriarchat» bezeichnete. Ich betreibe konstant unbewusstes Codeswitching, um zu überleben. Wenn ich zurückschaue, ist das vielleicht der Grund, warum ich mich überhaupt zum Thema Geheimschriften hingezogen gefühlt habe. Die vielen verschiedenen Sichtbarkeitsschichten zu erforschen, bot mir eine Gelegenheit, selbst in einem abgeschirmten Raum zu arbeiten, in dem ich keine Verurteilung oder Abweisung fürchten musste, denn in mir drin pochte unentwegt die Überzeugung, dass einfach «Ich» zu sein nicht genug war. Dank meiner Forschungsarbeit und den Freund*innen, die ich im Zuge deren kennengelernt habe, konnte ich mich auf ebenso schmerzhafte wie auch befreiende Weise mit den Komplexitäten meiner eigenen Identität auseinandersetzen. 

Amy Suo Wu ist in China geboren und in Australien aufgewachsen. Heute lebt sie in den Niederlanden und ist als Künstlerin, Gestalterin und Lehrerin tätig. Seit 2015 beschäftigt sie sich mit steganografischen Methoden des Verbergens, Unterwanderns und der verdeckten Kommunikation zum Schutz, Überleben und Widerstand in von Unterdrückung und Gewalt geprägten Systemen. Ihre Forschung wurde 2019 unter dem Titel «A Cookbook of Invisible Writing» bei Onomatopee veröffentlicht. In ihrer aktuellen Praxis beschäftigt sie sich mit wortwörtlichen und metaphorischen Techniken des Flickens, mit der Gestaltung als Heimatüberweisung und selbsterfüllende Prophezeiung und der Frage, wie Text und Textil zu einem verkörperten Publizieren verwoben werden können.
Der vorliegende Text von Amy Suo Wu wurde zuvor als erster Teil einer Kolumne auf sourcetype.com veröffentlicht und von Lisa Schons aus dem Englischen übersetzt.

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