Vereine haben schweizweit lange Tradition. Allen voran: die Frauenvereine. Dabei waren sie zwar Vorreiterinnen der Frauenrechtsbewegung, aber richteten sich damals wie heute nach bürgerlichen Idealen. Ein Essay.

Erst vor zwei Jahren haben wir das 50-jährige Jubiläum des Frauenstimmrechts gefeiert. Im internationalen Vergleich ist die Schweiz damit ausserordentlich spät: Weltweit kommen nur 22 Länder nach der Schweiz. Aus dieser Tatsache abzuleiten, dass sich Frauen vor 1971 nicht für Politik engagiert hätten, wäre jedoch ein Fehler.
Die Schweizerische Frauenbewegung ist eng verknüpft mit der Entstehung von Frauenvereinen. Laut der Historikerin Elisabeth Joris wurden ab den 1830er-Jahren im Kontext der Massenarmut erstmals lokale Frauenvereine gegründet. Sie fokussierten sich auf die Fürsorge der Armengesellschaft und Mädchenerziehung. Junge Frauen sollten entsprechend der patriarchal strukturierten Geschlechtervorstellungen auf ihre Rolle als Mütter und Hausfrauen vorbereitet werden. Innerhalb dieser Vereine wurden Aufgaben, die in den «weiblichen Wirkungskreis» fielen, an Frauen delegiert; die Initiative und Leitung der Vereine lag aber vorerst weiterhin bei Männern.
Ironischerweise war es gerade die in der Bundesverfassung von 1848 proklamierte, im internationalen Vergleich sehr frühe Rechtsgleichheit von Schweizer Männern, die eine Frauenbewegung umso dringender machte. Lynn Blattmann zeigt in ihrer Abhandlung über Geschlechterrollen im Historischen Lexikon der Schweiz: Die politische Integration aller christlichen Schweizer Männer bedeutete zur gleichen Zeit die Ausgrenzung der Frau von staatsbürgerlichen Rechten. Die vorherrschenden Geschlechterrollen wurden so weiter verankert und der Geschlechterdualismus nachhaltig legitimiert.

Die Erlaubnis des Ehemanns
Für das 19. Jahrhundert bedeutete dieser Dualismus: Der Mann ist für die Erwerbsarbeit zuständig, die Frau für die Haus- und Betreuungsarbeit. Dieses propagierte Ideal einer Schweizer Familie galt für alle Gesellschaftsschichten, war aber faktisch nur für das finanziell besser abgesicherte Bürgertum möglich. Gerade im bäuerlich-kleingewerblichen Milieu trugen noch jahrzehntelang weiterhin sowohl der Mann als auch die Frau zum Familieneinkommen bei.
Die grösseren ökonomischen Möglichkeiten des Mannes waren privatrechtlich definiert. Ohne die Erlaubnis des Ehemanns oder Vaters durfte die Frau nicht erwerbstätig sein. Die Verfügung über das eigene Vermögen ging bei einer Heirat verloren. Dieser letzte Punkt hat sich erschreckend lange im trägen Zivilgesetzbuch festgesetzt. Meine Mutter brauchte bis wenige Jahre vor meiner Geburt, ganz genau bis ins Jahr 1988, die Unterschrift meines Vaters, wenn sie ein eignes Konto eröffnen wollte. (Bei dieser Vorstellung läuft es mir kalt den Rücken hinunter.)
Von der Frau wurde erwartet, dass sie innerhalb der Familie Verantwortung für die Kindererziehung, aber auch für das generelle Verhalten des Ehemanns übernahm. Indem in jeder Familie mindestens ein Mann stimmberechtigt war, so wurde argumentiert, könne die Frau indirekt über ihren Mann auch politische Anliegen beeinflussen. Wie Lynn Blattmann und die Soziologin Natalia Gerodetti eindrücklich zeigen, unterstützten viele Frauenvereine diese Argumentation, weil sie darin ein partnerschaftliches Modell sahen, eine Voraussetzung für eine spätere rechtliche Gleichstellung.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, so Elisabeth Joris, entstanden diverse überregionale Frauenverbände. Im Vorfeld der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 forderte die Association internationale des femmes unter der Leitung von Marie Goegg-Pouchoulin die zivil- und arbeitsrechtliche Gleichstellung der Frauen. Die zwei Vorstösse blieben – wenig überraschend – erfolglos.

Die Sittlichkeit und der Schutz der Frau

Besonders geblieben sind mir aus dieser Recherche die Sittlichkeitsvereine, wie beispielsweise der 1877 aus dem Abolitionismus gegründete Schweizerische Frauenbund zur Hebung der Sittlichkeit. Abolitionismus in der Schweiz? Hier ist nicht von der US-amerikanischen Bewegung gegen die Sklaverei die Rede. Das war eine auf die englische Frauenrechtlerin Josephine Butler zurückgehende Bewegung gegen die rechtliche und sexuelle Versklavung der Frau.
In diesen Vereinen vermischten sich Frauenrechtsthemen mit moralreformerischen Anliegen der Zeit. Das wichtigste Anliegen war der Kampf gegen die Prostitution, die als Bedrohung des bürgerlichen Familienideals galt. Die verschiedenen Vereine lassen sich in ihren Anliegen nicht komplett homogenisieren. In der zeitgenössischen Vereinslandschaft zeichnete sich aber bereits eine Tendenz ab, die wir heue vom Abstimmungssonntag kennen: Der «Röstigraben».
Die Vereine der Romandie waren besonders an den Prinzipien der Freiheit und der Rechte aller Frauen interessiert, so Natalia Gerodetti. In Bezug auf die Prostitution stellten
sie sich gegen eine einseitige Kontrolle von Prostituierten bei gleichzeitiger Schonung von Freiern. Da die geblümte sexuelle Revolution noch knappe 100 Jahre auf sich warten liess, wurde gefordert: Aussereheliche Keuschheit für Mann und Frau.
Die Deutschschweizer Vereine hingegen propagierten Sittlichkeit und verlangten auch repressive Massnahmen gegen Prostituierte. Erzieherischen Massnahmen zielten vor allem auf das weibliche Geschlecht. Was hiess das? Die Historikerin Elisabeth Joris beschreibt Instruktionen bei Teerunden in Arbeitendenquartieren, Disziplinierung von «gefährdeten» Frauen in Heimen mittels Haus- und Gartenarbeit, Einweisungen in Arbeitsanstalten und Platzierung von unehelichen Kindern in Pflegefamilien.
Die Tätigkeiten der Sittlichkeitsvereine schrieben sich den Schutz der Frau auf die Fahnen, gleichzeitig führte ihre Arbeit zu einer weiteren Ausgrenzung und Kriminalisierung der Prostitution. Und somit zu einer Zementierung der bestehenden sexuellen Doppelmoral, die Männern einen ganz anderen Handlungsfreiraum als Frauen erlaubte.
Der Schweizerische Frauenbund zur Hebung der Sittlichkeit war übrigens die grösste Frauenorganisation in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und ist, integriert im Evangelischen Frauenbund der Schweiz, bis heute beständig. Daneben setzte sich etwa der Schweizerische Gemeinnützige Frauenverein für die Bekämpfung von Armut und Alkoholismus sowie für die Professionalisierung von sogenannten Frauenberufen ein. National agierte auch der Bund schweizerischer Frauenvereine (heute «Alliance F»). Daneben gab es zahlreiche konfessionelle Frauen­vereine, wie den Schweizerische Katholische Frauenbund, christlich-soziale Arbeiterinnenvereine, den schweizerischer Lehrerinnenverein sowie den deutsch- und westschweizerischen Hebammenverein und viele mehr.

Aus der Vogelperspektive

Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es somit eine starke, heterogene Frauenbewegung, die unter anderem aus vielen lokalen, kantonalen und einigen nationalen Frauenvereinen beziehungsweise -verbänden bestand. Die Frauen beteiligten sich so durch politische Forderungen oder durch die Beteiligung an freiwilligen Wohlfahrtseinrichtungen am öffentlichen Diskurs.
Wieso ist diese frühe Geschichte von Frauenverbänden nun wichtig? Natürlich – und da muss ich mir selber den Spiegel vorhalten, – hätte ich lieber einen Text darüber geschrieben, wie Schweizer Frauen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Büstenhalter verbrannten und auf die Barrikaden gingen. Vielleicht wäre das Erzählen einer solchen Perspektive nach starkem Hineinzoomen auf unsere Geschichtsschreibung sogar möglich, aber ich habe mich für einen Text aus der Vogelperspektive entschieden. Mit den Narrativen, die wir weniger gerne bedienen, lohnt sich die Auseinandersetzung.
Das Ideal der bürgerlichen Familie und besonders das der Schweizer Hausfrau ist bis heute prägend. So können wir die repressiven Massnahmen hinsichtlich der Sittenbewegung als Handlung aus Angst vor dem Zerfall der bürgerlichen Ordnung verstehen. Das Leitbild der bürgerlichen Familie kontextualisiert zudem die Vorstellung einer indirekten politischen Partizipation der Frau durch den Ehemann. Dieses «Ideal» hat Generationen vor unserer beeinflusst und zeigt seine Kontinuität bis ins Jetzt: seien das stereotype Rollenbilder, Geschlechtsidentitäten, Familienstrukturen, Arbeitsaufteilungen und solche Überbleibsel des Zivilgesetzbuches, wie etwa eine Unterschrift für Kontoeröffnungen.
Die Vogelperspektive zeigt, dass Fortschritt für die einen – wie das sehr frühe Einführen des Stimmrechts für Männer, aber auch die Entstehung erster Frauenvereine – Hand in Hand geht mit Disziplinierung und Gewalt für andere. Das sollte uns für Prozesse im Jetzt sensibilisieren, denn früher oder später sind auch wir Geschichte.

Bürgerliche Ideale bis heute

Fast forward. Und wie sieht es mit Frauenvereinen heute aus? Der Dachverband Schweizerischer Gemeinnütziger Frauen (1888 noch Schweizerischer Gemeinnütziger Frauenverein) gab mir die Auskunft, dass sich ihre Arbeit weg vom allein gemeinnützigen Tun hin zu sozialen Aufgaben bewegt habe: Heute engagieren sie sich für Geflüchtete und Menschen mit wenig Einkommen, haben eigene Kita-Angebote oder setzen sich für soziale Institutionen und Frauenanliegen ein.
Die Mitgliederzahlen sind seit einigen Jahren rückläufig und entsprechen mit 30.000 wieder denjenigen der Gründungszeit. Vereine scheinen in ihrer Form also nicht ganz mit den Anforderungen der Gegenwart mithalten zu können. Ortsgebundene Zusammenschlüsse werden durch digitale Netzwerke vielleicht nicht gerade ersetzt, aber auf jeden Fall beeinflusst. Engagement ist wohl zunehmend an spezifische Projekte gebunden. Und dennoch: Die Anliegen der Frauenvereine sind höchst relevant und zeigen durch die horrende Freiwilligenarbeit Lücken auf, die eigentlich staatlich gedeckt werden müssten.
Eine letzte Frage zum Framing dieser Vereine drängt sich für mich aber auf: Was sind eigentlich Frauenanliegen? Meiner Meinung nach handelt es sich um den vielseitigen Handlungsbedarf, der sich aus der strukturellen Diskriminierung einer patriarchalen Gesellschaft ergibt. Auch die Frauenvereinswebseiten geben eine Antwort auf diese Frage. Dort finden sich fast ausschliesslich Inhalte zu Themen wie Mittagstischen, Kinderbetreuung, Care-Themen und sozialer Arbeit. Das erinnert noch immer stark an das bürgerliche Ideal aus dem 19. Jahrhundert. Das auffallende Fehlen von nicht fürsorglichen Inhalten unterstreicht somit erneut die vorherrschenden Geschlechterrollen, gegen die sie sich eigentlich engagieren. Gerade weil binäre Geschlechterrollen und -vorstellungen auf eine jahrhundertelange Tradition zurückgreifen, stehen wir in der Verantwortung, diesen Diskurs im Jetzt aktiv und subversiv immer wieder neu zu prägen. Brechen wir also mit alten Traditionen: Care-Arbeit ist nicht das einzige Thema und es ist ganz sicher kein Frauenthema. Sie betrifft uns alle.

Paula Steck hat Germanistik und Geschichte in Bern und Berlin studiert. Heute arbeitet sie im Bereich der Kommunikation.

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