Erst vor wenigen Wochen führte mich an einem späten Februarnachmittag eine Reihe von Zufälligkeiten zu einer von seinen Veranstaltern mit aller Nachdrücklichkeit als «sehr exklusiv» beworbener Soirée in der Stockholmer Innenstadt. Ich hatte gerade eine Arbeit abgeschlossen, die einiges an geistiger Musse einfordert hatte und deren Ergebnis dennoch völlig bescheiden ausfiel, und so erlaubte ich mir kurz nach der Mittagspause eine lockere Auseinandersetzung mit US-amerikanischen und Kanadischen Whiskeys, wobei mir bei der vorsichtigen Verkostung des zweiten Glases der nicht witzige, aber doch sehr lustige Gedanke kam, Georg Perec sei die Idee zu La Disparition zwischen dem Verlassen einer Kentuckyschen und Betreten einer Schottischen Destillerie gekommen. Draussen fluchte eine ältere Dame hörbar durch die kalte Glasscheibe herein, ihr Einkaufsnetz war ihr aus der Hand auf den zugefrorenen Asphalt gefallen und nun rollte das Obst in den Schnee. Vielleicht, weil die Handvoll im Raum versprengter Gäste das Pensionsalter deutlich überstiegen hatten, vielleicht, weil ihre rote Mütze, einen durchaus schönen Kontrast herstellend, zu den samtenen Sitzpolstern passen würde, eilte ich nach draussen, half ihr mit dem Obst und lud sie dazu ein, mit mir in der Wärme Alkohol zu geniessen. Gewiss sei sie angetan von dieser Einladung, wisse aber, wohin sie führen würde, nämlich in spontane Entgrenzung, solche Laster gingen schnell ins Geld, für eine viel zu lange Dauer sei sie dem Bingo-Spiel verfallen gewesen, als dass sie nicht wüsste, wie nahe unschuldiges Interesse und harte Abhängigkeit beieinander lägen, et zetera sassen wir nebeneinander an der Theke. Nach zwei Negronis erzählte sie mir von einem Buch, das sie vor Jahren gelesen habe, und immer dann in ihr Gedächtnis steige, wenn sie zu viel Wermut trinke, besonders der rote Likörwein rufe einzelne Momente der Erzählung in loser Folge und stets neu verknüpft hervor. Beim Pinkeln blitzten die Fliesen an den Toilettenwänden auf, als schaute ich aus einem fahrenden Zug. Ich dachte an einen Vieux Carré und wollte gleich die Bestellung aufgeben, doch als ich zurück in den Raum trat, lieferten sich die alte Frau und der junge Barmann eine herbe Auseinandersetzung, worauf die Dame nach dem Barhocker griff. Ehe der Boy um den Tresen herum auf sie zu hechten konnte, schimpfte sie ihn eine kalte Mamsell und warf das Möbel in die Getränkewand. Natürlich zeichnete die Polizeistreife erst mich verantwortlich für den Schaden, schenkte dann doch den Beteuerungen des Personals Glauben, als aus dem Inneren abermals heftiger Streit auf die Strasse drang, während die Hand der Beamtin meinen Kopf davor schützen wollte, sich nicht an der Karosserie zu stossen. Im Handumdrehen wurde ich von der Scene emeritiert und ging nun, eine Gesprächspartnerin und Lieblingsbar weniger, die Strasse hinunter. Kaum fünf Schritte später rutschte ich aus auf einer jener Gletscherzungen, wie sie im Winter die Schwedischen Städte hinunterrollen, und fiel neben ein aschblaues Envelope, das sich auf der Eisscholle regelrecht camouflierte, doch gerade in den schlechten Lichtverhältnissen zum Untergrund unterschieden schimmerte, dass es mein Augenmerk auf sich richtete. Dem daraus entnommenen Brief entlas ich eine Stockholmer «Designwoche» und weiter, dass ein Håkan Ulmerich an eine selten ausgewählte Veranstaltung mit dem Titel «Passion und Obsession» eingeladen sei, der Britische Designer Tom Dixon würde von seinen Gemütszuständen sprechen, vor allem aber mit einer Weltpremiere aufwarten. Wie ich den nassen Kies etwas umständlich von meiner Hose klopfte, stiess ein spitzer Gegenstand zwischen meine Schulterblätter, die Nase einer jungen Frau. Als ich mich entschuldigte, erkannte sie den Einladungsbrief in der Hand – «Heute sind die Menschen zu allem bereit.» –, fuhr mit ihren Fingern kess über den Bildschirm ihres Smartphones und befahl einen Lidschlag später, auf dem Rücksitz eines scooterförmigen Elektrogefährts Platz zu nehmen. Das kleine Taxi fuhr uns, der Rückseite einer wirren Stickerei folgend, zu einem Kaufhaus für luxuriöse Bekleidung und Einrichtungsware. Wir mussten nicht lange Schlange stehen, die Türsteherinnen schienen meine Begleitung bereits beim Überqueren der Humlegårdsgatan erkannt zu haben. Den Gästen wurde Sushi und Sekt aus silbernen Flaschen gereicht, Tom Dixon erschien auf der Bühne. Er stellte sich neben den DJ zwischen zwei wohnzimmerwandgrosse Bildschirme, die sehr hochaufgelöst Bilder ins Publikum leuchteten. Während ich mich ein zweites Mal beim kalten Fisch bediente und Sprudel nachfüllte, führte Tom Dixon mit einer beachtenswert lässigen Phrasierung seiner Sätze durch die beifallswürdigsten Stationen seiner beruflichen Laufbahn. Schliesslich kam es zur Weltpremiere: Nicht in Milano, nicht in New York, nicht in Shanghai, nein hier und jetzt, heute Abend in Stockholm, würde das verehrte Publikum Teilhabe erfahren an einem neuen Produkt, auf das er ganz besonders stolz sei. Der Dramaturgie der bisherigen Rede gemäss war es tatsächlich die Juliet Rose seiner Karriere und die versammelte Zuhörerschaft entsprechend gebannt. Tom Dixon drückte auf die Fernbedienung und eine üppige Animation füllte die beiden Bildschirme aus. Tatsächlich wurden wir alle, die wir hier standen, Zeugen eines Decenniumsereignisses. Bunte Kissen räkelten sich in blau und rot ausgefüllten Räumen, halbkreisene Röhren wurden im Gegenlicht der Sonne zu Sicheln, Himmelskörpern gleich, viel Licht, viel Dunkel, schneller Schnitt und nun füllten sich die Teile zu einem Ganzen; ein Stuhl war entstanden, Tom Dixon nannte ihn Fettstuhl, oder: fetter Stuhl. Im Hintergrund hatte ein Assistent derweil ein Exemplar neben Dixon auf die Bühne gestellt. Als sich die allgemeine Euphorie gelegt hatte, zupfte mich die Frau mit der spitzen Nase am Ärmel und wir gingen die Ausführung Barhocker testsitzen. Der vollendete Röhrenhalbkreis war zur Banane geworden, die Sitzfläche erinnerte an ein physiotherapeutisches Kissen; der Jahrtausende alte Streit über Form und Idee sei nun endgültig entschieden, meinte meine Begleitung: «Noumenon und Phänomenon, Idee – Form, Aufschlag – Niederschlag, Entwurf – Umsetzung, Verhältnis – Behältnis, Windrose und Gezeiten, Messer und Schnittgut; ich sehe glasklar, durchschreite die Tore des Herakles.» Es dauerte eine Weile, bis wir uns von den Partygästen zwei Zigaretten erbitten konnten, vor dem Warengeschäft setzte Schneeregen ein. Ich torkelte ihr unter den nackten Kirschbäumen hinterher, durch den königlichen Garten auf ein Imbissrestaurant zu und lauschte ihren Worten. Sie eröffnete ihre Rede unter anderem mit den Worten «Formgebung», «Spiel» und «Glanz», und nannte Namen wie Bruno Latour, Hito Steyerl, Jeff Koons und Othmar Hitzfeld, doch so genau erinnere ich mich nicht. Auf einen Satz folgte jeweils eine kurze Selbsteinschätzung. Mal sei sie «witzig», mal «aberwitzig», mal «dumm», sagte sie. Nach einer besonders schnellen Silbenfolge verpasste sie den Anschluss ans Gesagte, verstummte und verfiel dann in ein langes Murmeln. Ja, sie komme zwar aus der Chemie, doch sei sie nun Oberflächendesignerin. Sie benutzte häufig das Wort «total». Sie griff in die Manteltasche, holte eine schwarze Kugel heraus und reichte sie mir. Noch nie hatte ich einen glatteren Gegenstand in der Hand gehalten. In der Grösse einer Apfelsine wog er mehr als ein Set Billardkugeln, und fiel mir prompt auf den schmutzigen Asphalt. Ich entschuldigte mich und hob die Kugel auf, die junge Frau sprach derweil weiter. Die Kugel hatte weder Kratzer noch Flecken, eigentlich sah sie noch immer völlig unberührt aus. Bleiben an dunklen, polierten Oberflächen sonst Fingerabdrücke haften, fand sich hier überhaupt kein Hinweis, dass der Gegenstand jemals angefasst wurde. Vollkommen glänzend, vollkommen spiegelnd, vollkommen matt, vollkommen abweisend, vollkommen absorbierend. Das Farbenspektrum eines prächtigen Herbstwaldes lag darin und doch war da nur tiefe Schwärze. «Finsternis», lachte sie. Seltsame Kugel: War sie aus einem unbekannten Metall, ein unbekanntes Gestein gar? Extraterrestrisch, dachte ich. «An wechselhaften Herbsttagen sammle ich hinter dem öffentlichen Tennisplatz im Rålambshofspark aus dem Gebüsch die verloren gegangenen Tennisbälle.
In meiner Werkstatt beschichte ich sie mit einer Unzahl an Legierungen. So entstehen meine Prototypen. Die Rezepte verkaufe ich dann an die Industrie. Abnehmer aus aller Welt. Das aber ist meine neueste Mischung. Eigentlich entstand sie aus einer Spielerei heraus. Ziel ist es ja, auf möglichst wenig Raum, also möglichst dünn, möglichst viel Material aufzutragen, um so die perfekte Oberfläche herzustellen. Lücken finden sich indes immer und also fing ich an, in diese ungewohntes, den üblichen Vorgängen fremdes Material hineinzutragen. Erst waren es Erzählungen, kleine Texte, Lyrik, Kurzprosa und derlei. Auf eine erste Schicht kritzelte ich also schon bald unter dem Mikroskop Texte drauf, übergoss diese, dann kam ein zweiter Text und so fort. Ja, ich schrieb mich gewissermassen ein. Aber wissen Sie, was das Aberwitzige darin war? Es funktionierte. Die Oberfläche wurde schwerer, glatter, kurz: besser. Ich musste mich also einschreiben. Und je genauer ich dies tat, desto hübscher wurde die Sache. Mit der Zeit kamen auch Bilder dazu und wenige Wochen später löste ich mich von diesen heimlichen, literarischen Gehversuchen — wohlgemerkt, eine ganze Reihe davon lag bereits in Galerien herum, vor allem aber auf Sportwagen – und ging über, theoretische Texte einzuarbeiten, Soziologisches, Designwissenschaftliches, Bildtheorie, Ästhetik, Sie kennen den Mist. Ich wurde so verbissen darin, dass ich mich nächtelang durch Bücher und Internettexte wälzte.» Das Restaurant hatte bereits die Küche gereinigt, also spazierten wir weiter in Richtung Hötorget. Mir fror und ich wunderte mich noch immer, mal war die Kugel in der Hand schwarz wie ein Loch, dann glänzte sie, dass es mich fast blendete. «Das klingt vielleicht von weither herbei gezwungen, aber je mehr Bedeutungsschichten ich auftragen kann, desto glatter wird das Material. Sobald sich das letzte Partikel Umwelt nicht mehr auf meinen Legierungen niederlassen kann, habe ich mein Ziel erreicht», sagte die junge Frau beim Betreten der Bingohalle im U-Bahnhof. Sie kaufte uns ein paar Scheine, die wir zu meinem Erstaunen sehr schnell verspielten, immer wieder holte sie Nachschub an der Kasse. Um die ausgerufenen Zahlen nicht zu überhören, sprachen wir kein Wort. Sie spielte jeweils drei Scheine gleichzeitig.

Patrick Savolainen ist Autor und Grafiker. Sein erstes Buch «Farantheiner» erschien 2018 im Verlag die brotsuppe. Zusammen mit Sabine Affolter betreibt er das Grafikbüro Affolter/Savolainen.

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